An einer stillen Erinnerung werden drei Künstlerinnen und Künstler sehr persönlich.
Es ist ein stilles Gedenken. So still, dass die Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft, die am Samstagnachmittag zum Tessinerplatz in der Stadt Zürich gekommen sind, sich dicht um die Rednerinnen und Redner scharen müssen, um sie hören zu können. Mikrofone sind am Sabbat nicht erlaubt.
Die Menschen sind gekommen, um den internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust zu begehen, darunter auffallend viele Jugendliche. Auf dem Platz sind Porträtfotos und Texte von Schweizer Überlebenden der Shoah ausgestellt. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer halten Israel-Flaggen in die Höhe, auch Schilder mit der Aufschrift «Never forget, Never again» sind zu sehen.
Als Rachel Manetsch, die den Anlass organisiert hat, die Anwesenden begrüsst, sagt sie: «Es ist wichtig, die Geschichte zu kennen, um daraus zu lernen.» Mit einer Schweigeminute wird der sechs Millionen Jüdinnen und Juden gedacht, die im zweiten Weltkrieg ermordet wurden.
Derweil zeigt sich zwei Kilometer weiter auf dem Helvetiaplatz ein ganz anderes Bild: Hier findet eine Pro-Palästina-Kundgebung statt. Die Demonstranten skandieren Parolen wie «From the river to the sea, Palestine will be free», auf einem Plakat steht «Intifada bis zum Sieg» geschrieben.
«Aktuelle Stimmung bereitet mir Sorgen»
Dass die Stadt Zürich diese Kundgebung ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag bewilligt hat, sorgte in der jüdischen Gemeinschaft für Empörung. «Die Kombination aus Aufruf zur Gewalt an Juden und dem Datum ist für mich unerträglich», sagte Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, im Vorfeld zur NZZ.
Auch Lea Gottheil schmerzt der Gedanke daran, dass an der Pro-Palästina-Demo antisemitische Parolen ausgesprochen werden. Demonstrieren sei legitim, sagt die Schriftstellerin. «Aber die aktuelle Stimmung bereitet mir grosse Sorgen.»
Gottheil ist eine von drei Künstlerinnen und Künstlern, die am Holocaust-Gedenktag beim Bahnhof Enge Texte vorlesen. Sie hat sich für einen Ausschnitt aus dem Jugendbuch entschieden, das sie aktuell schreibt. Protagonistin ist die Urgrossmutter ihrer Kinder, die 1933 aus Deutschland nach Paris geflüchtet ist. Als Gottheil, dicht umringt von Zuhörerinnen und Zuhörern, vorliest, ist sie sichtlich bewegt. «Die Urgrossmutter war eine sehr mutige Frau.»
Auch der Autor Mischa Liatowitsch beschäftigt sich mit seiner Familiengeschichte. 1942 war sein Urgrossvater in der Schweiz brutal von zwei jungen Frontisten ermordet worden, weil er Jude war. In der NZZ hat er einen berührenden Text darüber geschrieben, wie der schreckliche Mord seine Familie über Jahre hinweg geprägt habe. «Und doch wurde so gut wie nie über ihn gesprochen», sagt er nun am Gedenkanlass. Erst im Erwachsenenalter habe er begonnen, sich mit der Geschichte seines Urgrossvaters auseinanderzusetzen.
«Ein Rapper, aber sehr alt»
Ein paar Meter weiter steht David Dubach umringt von Jugendlichen und sagt wohlwissend, dass einige ihn nicht kennen, zu ihnen: «Ich bin Rapper, aber schon sehr alt.» Das ist nur leicht übertrieben, der Mann ist 41 Jahre alt. Die Jugendlichen lachen. Der Berner, der unter dem Namen Knackeboul auftritt, ist nicht Jude. Aber er habe vor rund zehn Jahren begonnen, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, sagt er zu den jungen Leuten.
In seiner scharfen Rede zieht er Parallelen vom zweiten Weltkrieg zu heute: «Die NSDAP war ein Haufen von lächerlichen Figuren wie heute die Selbstdarsteller der AFD ansatzweise oder die Witzfiguren an den antisemitischen Coronademos.» Es sei ein grosser Irrtum zu glauben, dass lächerliche Menschen nicht gefährlich sein könnten, sagt Dubach: «Wenn man die akuteste politische Gefahr für die Gesellschaft sucht, sollte man immer die Clowns im Auge behalten.» Trump sei ein Prototyp dafür.
Mit Blick auf die Pro-Palästina-Demonstration, die gleichzeitig stattfindet, sagt Dubach: «Wenn ich sehe, dass 111 Tage nach dem grössten Angriff auf jüdisches Leben seit der Shoah Hunderte oft junge Menschen mit antisemitischen Bannern und Parolen durch Zürich ziehen, könnte ich verzweifeln. Das Monster des Antisemitismus wütet weiter.» Trotz aller Desillusionierung sehe er aber auch viele junge Menschen, die lernten, differenziert zu denken und sich an die Seite der jüdischen Community zu stellen.
Nach einer Stunde beginnt sich die Menge auf dem Tessinerplatz zu zerstreuen. Der Gedenktag sollte auch ein Solidaritätsanlass sein, einer, an dem auch nichtjüdische Personen teilnehmen. Doch Ronny Siev, der für die GLP im Zürcher Stadtparlament sitzt, glaubt, dass vor allem Jüdinnen und Juden anwesend waren. «Das ist meistens so», sagt er. «Es ernüchtert mich nicht mehr.»
Viele Male habe er festgestellt, dass sich die Zürcherinnen und Zürcher durchaus solidarisch zeigten. Er erinnert sich ans Jahr 2020, als Tausende nach dem Tod von George Floyd in den USA gegen Rassismus demonstrierten. Für Jüdinnen und Juden hingegen, sagt Siev, sei offenbar weniger Mitgefühl vorhanden. Und Antisemitismus sei kein Grund mehr, auf die Strasse zu gehen.