2016 gewann Lara Gut-Behrami dank einer beeindruckenden Konstanz den Gesamt-Weltcup. Doch auf den Triumph folgte eine grosse Zäsur. Was heute anders ist – ein Vergleich.
2016 hatte sich das Duell um den Gesamt-Weltcup gerade schön zugespitzt, als sich Lindsey Vonn Ende Februar verletzte und die verbleibenden Rennen verpasste. Nun fehlt Lara Gut-Behrami eine andere Amerikanerin als härteste Konkurrentin: Solange Mikaela Shiffrin noch nicht weiss, ob und wann sie ins Renngeschehen zurückkehrt, kann die Schweizerin ihren Vorsprung im Gesamtweltcup von fünf auf viele Punkte ausbauen. Von den dreizehn noch ausstehenden Renntagen sind bloss zwei Slaloms dabei, die die 32-Jährige nicht fährt.
Gut-Behrami selber will vom Gesamtsieg natürlich nichts wissen, auch das ist gleich wie 2016. Über die grosse Kugel spricht sie erst, wenn sie die grosse Kugel hat, «auch wenn ich verstehen kann, dass es ein Thema ist», wie sie in Crans-Montana sagt.
Die Tessinerin fährt ihre 16. Saison im Weltcup, und bereits an diesem Wochenende in Crans-Montana könnte sie zu ihrer besten werden. Zwar liegt sie noch 308 Punkte hinter ihrem Rekord aus dem Jahr 2016 zurück, doch andere Statistiken sind in Reichweite: Damals fuhr sie in 32 Rennen 13 Podestplätze und 6 Siege heraus. Sechs erste Plätze hat sie in diesem Winter bereits, obwohl sie erst 19 Rennen gefahren ist; mehr als die Hälfte davon beendete sie auf dem Podium, insgesamt elfmal.
Als Gut-Behrami 2016 triumphierte, dachte man, sie hätte alle ihre Puzzleteilchen gefunden und zusammengesetzt. Da war zum einen ihre Konstanz. Im Winter 2013/14 hatte sie zwar sieben Mal gesiegt, ihre Leistungen variierten aber zu stark; in der Gesamtwertung reichte es nur zum dritten Rang. 2015/16 aber hatte sie skifahrerisch ein so gutes Niveau erreicht, dass ihr in vier Disziplinen mehr als zwei Podestplätze gelangen – damals gab es die Super-Kombination noch. Am stärksten war sie wie heute im Riesenslalom und dem Super-G, sie gewann aber auch zweimal in der Abfahrt, was diesen Winter noch fehlt.
Zudem war Gut reifer geworden, verlor weniger Energie auf Nebenschauplätzen. Sie war endlich gut integriert in den Verband; ihr Vater Pauli Gut, zeitlebens schon ihr Trainer, war auf Mandatsbasis bei Swiss Ski angestellt, dennoch trainierte das kleine Team nach seinen Vorstellungen. Es zog für Inputs punktuell verschiedene grosse Namen hinzu, von Daniel Albrecht bis Patrice Morisod.
Didier Cuche half ihr in der Vorbereitung auf die Saison 2015/16 eine Woche lang dabei, sich nach ihrem Skimarkenwechsel von Rossignol zu Head auf das neue Material einzustellen, sie hatte auch seinen Servicemann Chris Krause übernommen. Der Wechsel gelang ihr bemerkenswert schnell, der Start zur Saison war stark: Vierte in Sölden, Sieg in Aspen. Fünf Monate später beschloss sie mit zwei Podestplätzen am Weltcup-Final in St. Moritz die Saison.
Sie wollte immer weiterarbeiten – bis es zu viel war
Alles gut also? Mitnichten. Das allerdings war ihr zu diesem Zeitpunkt selber nicht bewusst. Erst rückblickend steht dieser sportliche Höhepunkt auch am Anfang einer Zäsur in Gut-Behramis Karriere.
Nach dem Grosserfolg wurde sie anderthalb Jahre lang von einem Filmteam begleitet, der Tessiner Filmemacher Niccolò Castelli sagte danach, er habe Gut-Behrami als müden und gestressten Menschen erlebt. Schon im Moment des Triumphs war da keine überschäumende Freude gewesen. Noch am Tag der Kugel-Übergabe sagte sie, es gehe noch besser, sie müsse weiterarbeiten. Die NZZ fragte sie im Herbst darauf, ob der Gesamtweltcup-Sieg eine Erlösung sei, nachdem ihr Experten schon zu Beginn der Karriere das Potenzial dazu attestiert hatten.
«Das ändert nicht viel», antwortete sie. «Den ganzen letzten Winter fragten die Leute: ‹Gewinnt sie ihn oder nicht?› Als ich die Kugel hatte, hiess es, das sei nicht verdient, weil sich andere starke Fahrerinnen verletzt hatten. Nun soll ich die Kugel verteidigen, um zu zeigen, dass ich das wirklich kann. Und wenn ich das schaffen sollte, kommt Olympia, und die Leute finden wieder etwas, das sie von mir verlangen können.»
Noch bevor sie volljährig war, finanzierte sie mit ihrem Skifahren das Familienunternehmen, ihr Team. Sie war in der Öffentlichkeit erwachsen geworden, tat alles für den Erfolg, doch der Druck wurde irgendwann zu gross. Im Winter nach dem Gesamtweltcup-Sieg riss an der Heim-WM in St. Moritz ihr Kreuzband, eine Notbremse ihres Körpers, wie sie es nach einem monatelangen Rückzug beschrieb. In dieser Pause habe sie sich als Mensch wieder gefunden, nachdem es sie die Jahre zuvor nur als Sportlerin gegeben hatte.
Das ist heute anders. Nicht zuletzt durch ihren Mann Valon Behrami hat sie eine Balance zwischen Sport und Privatleben gefunden – was sich positiv auf die Leistung auswirkt. Sportlich durchlebte sie nach dem Kreuzbandriss drei zähe Jahre. Doch in der Saison 2020/21 fand sie wieder zu alter Stärke zurück; seither befindet sie sich vor allem im Riesenslalom und Super-G auf einem herausragenden Niveau – und schaffte es in jeder Saison, sich nochmals zu verbessern. Ihre Konstanz in diesem Winter ist überragend: Nur zwei Rennen beendete sie ausserhalb der Top 6, obwohl ihr zwischendurch ein gereiztes Knie Beschwerden bereitete.
Spricht sie von ihrer Lieblingsdisziplin Riesenslalom, gerät sie nach den bisher vier Saisonsiegen gar ins Schwärmen. «Egal, wie die Schneeverhältnisse sind, ob die Piste steil ist und wie der Kurs gesteckt ist: Ich fühle mich zu 99 Prozent wohl auf den Ski, und das macht es leicht», sagt sie in Crans-Montana.
Auch der erste Sieg in der Riesenslalom-Wertung winkt
Die Folge dieser Sicherheit ist «eine gewisse Kompromisslosigkeit in ihren Schwüngen», wie Didier Cuche sagt. «Selbst wenn sie leicht rutscht, bleibt der Ski in der Fahrtrichtung.» Damit steuert sie auf ihren ersten Sieg in der Disziplinenwertung zu, 135 Punkte Vorsprung hat sie auf Federica Brignone. Dass diese kleine Kugel der Tessinerin viel bedeuten würde, ist klar. Wie viel, «sage ich euch dann in Saalbach», sagt sie mit einem vielsagenden Lächeln.
Ein solch hohes technisches Niveau ist auch deshalb möglich, weil sie seit neun Jahren mit demselben Material arbeitet, seit acht Jahren mit dem Servicemann Thomas Rehm. Die Detailarbeit zahlt sich aus. Vater Pauli ist immer noch als Trainer dabei, wenn auch nicht mehr von Swiss Ski angestellt. Dafür arbeitet Gut-Behrami seit fünf Jahren mit Alejo Hervas zusammen, er ist Konditions- und Skitrainer in einem und kann so laufend auf alles reagieren.
Mit drei guten Rennen in Crans-Montana könnte Gut-Behrami im Gesamtweltcup vorlegen. «Jeder kann träumen», sagte sie im Wallis, stellte aber gleich klar, dass sie selber nichts davon halte. Gerade diese Saison hat gezeigt, wie schnell es vorbei sein kann.