Die Bewohner der Insel Idjwi sind überzeugt, dass sie von den Gräueln im Kongo verschont bleiben, weil sie nach einem Motto leben, an das schon Jesus und die Hippies glaubten.
Irgendwo in diesen grünen Hügeln, an die graues Wasser plätschert, muss die Lösung des Rätsels von Idjwi zu finden sein.
Vielleicht bei dem Sänger Pascal Muliri und seinem Chor von Frauen. Sie stehen im Halbkreis neben einer Lehmhütte, Muliri zupft die Saiten seiner Gitarre, die Frauen wiegen sich im Takt. «Gott schuf die Erde, und er schuf Idjwi», singt Muliri, und die Frauen antworten im Chor.
Nachdem Gott die Erde geschaffen hatte, so singen sie weiter, schickte er einen grossen Regen, der die Welt teilte. In der Mitte blieb Idjwi und wurde zur Insel, mitten in einem See.
In der Ferne rollt Donner. Vermutlich regnet es auf dem Festland, aber nicht hier auf Idjwi. «Die Affen blieben auf der Insel, die Vögel blieben. Die schönen Häuser blieben stehen auf der Insel. Lass mich singen, ich bin stolz, ich bin zu Hause in Idjwi.»
Idjwi ist eine Insel im Kivusee ganz in Osten von Kongo-Kinshasa, dem grössten afrikanischen Land südlich der Sahara. Kongo ist bekannt für zwei Dinge: Rohstoffe und Krieg.
Auch die Insel Idjwi ist bekannt für zwei Dinge: schmackhafte Ananas und Frieden.
Der Krieg in Ostkongo ist einer der brutalsten der Welt. Seit Ende der neunziger Jahre haben laut Schätzungen sechs Millionen Menschen ihr Leben verloren. Mehr als hundert Rebellengruppen brandschatzen, plündern und vergewaltigen. Vor zwei Jahren sind die Kämpfe neu eskaliert, allein 2023 wurden über eine Million Menschen neu vertrieben. Manche Experten sagen, es drohe ein internationaler Krieg. Das Nachbarland Rwanda rüstet die Rebellengruppe M23 aus, die die kongolesische Armee immer weiter zurückdrängt.
Zwischen alldem liegt: Idjwi. Ziegen hüpfen über ungeteerte Strassen. Bäuerinnen schlendern auf Pfaden über Hügel, auf denen Bananenbäume und Sonnenblumen wachsen. Es gibt fast keine Autos hier, man ist zu Fuss unterwegs oder höchstens mit dem Motorrad. Es gibt auch keine Rebellen in Idjwi, keine Vertriebenen und keine einschlagenden Granaten.
Aber wieso? Warum gibt es diese Insel des Friedens inmitten von Krieg? Es ist das Rätsel von Idjwi.
Die Hope Land Lodge baut aus
Pascal Muliri und sein Chor üben für einen Auftritt im Lokalradio am nächsten Tag. Sie sind dort oft zu hören, Muliri ist so etwas wie ein Gemeindepoet und Chronist dieser Insel. Er sagt: «Ich nutze meine Rolle als Künstler, um die Botschaft vom Frieden zu verbreiten.» So habe er es von seinen Grosseltern gelernt. So gibt er es weiter.
Im Radio werden Muliri und sein Chor am nächsten Morgen von der Schöpfung singen, von den Vögeln und den Affen, vom Frieden zwischen Nachbarn, von der Eintracht auf Idjwi. Andernorts in Kongo verbreiten sie im Lokalradio Nachrichten von Massakern.
Idjwi ist so gross wie Malta. Etwas mehr als 300 000 Menschen leben hier, die meisten sind Kleinbauern. Ausser Landwirtschaft ist nicht viel los: Es gibt ein bisschen Fischerei, ein paar Märkte. Und einen kleinen Tourismus-Boom. Die Hope Land Lodge an der Westküste zum Beispiel baut gerade eine Erweiterung. Ein paar Kilometer Küste aufwärts liegt die Oasis Lodge. Auf Idjwi ist Frieden auch eine Marke.
Fährt man in einem der wenigen Autos auf Idjwi umher, hört man eine Reihe von Erklärungen dafür, warum die Insel friedlich ist.
«Weil Idjwi eine Insel ist», sagt Pascal Muliri, der Sänger. «Der See beschützt uns.»
«Weil wir auf Idjwi arm sind», sagt eine Marktfrau, die Stoff der Marke «La paix» verkauft. «Es gibt hier nichts, um das es sich zu kämpfen lohnte.»
«Weil wir alle dieselbe Ethnie haben», sagt ein Aufseher auf der Baustelle der Hope Land Lodge.
Drüben auf dem Festland, wo ständig Krieg ist, sagen sie: Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen auf Idjwi. Sie verdächtigen die Inselbewohner der Hexerei.
Man kann die Hypothesen widerlegen. Idjwi ist zwar eine Insel, aber das Festland ist an manchen Stellen so nah, dass man hinüberschwimmen könnte. Idjwi ist zwar arm, doch es gibt zum Beispiel Coltan auf der Insel, das für Mobiltelefone und Laptops benötigt wird. Es gibt auch eine Minderheit auf Idjwi, die Pygmäen, fünf Prozent der Bevölkerung. Manche von ihnen finden, sie seien Bürger zweiter Klasse. Aber zu den Waffen greifen sie nicht.
Fragt man die Menschen auf Idjwi, was ihr grösstes Problem sei, sagen sie: Manchmal seien sich Bauern über den Grenzverlauf ihrer Felder nicht einig.
Der Völkermord war Idjwis härtester Test
Es gab aber ein paar Episoden in der Geschichte der Insel, die den Frieden bedrohten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts griff ein rwandischer König Idjwi mehrmals an und besetzte sie während einiger Jahre. Anfang des 20. Jahrhunderts stritten sich belgische und deutsche Kolonialisten um die Insel. Und 1994 wütete in Rwanda, auf der Ostseite von Idjwi, ein Völkermord. Mehr als 800 000 Menschen wurden getötet, im See trieben Leichen. 40 000 Menschen flohen über das Wasser auf die Insel, unter ihnen auch Täter. Es war Idjwis härtester Test. Doch die Insel trotzte dem Chaos.
Neulich hat der Frieden auf Idjwi eine weitere Prüfung bestanden. Im vergangenen Jahr verlegte die kongolesische Armee ein paar Dutzend Soldaten auf die Insel. Der Ruf der kongolesischen Armee ist kaum besser als der einer Rebellengruppe. Auch Regierungssoldaten töten und vergewaltigen Zivilisten, sie gelten als gleichgültig gegenüber Disziplin und Menschenrechten. Und tatsächlich brachten sie ihre Gewohnheiten nach Idjwi mit.
In den Tagen nach der Ankunft der Soldaten wurden mehrere Dorfbewohner ausgeraubt, die nachts unterwegs waren. Die Täter waren Soldaten. Aber auf Idjwi passierte etwas, das andernorts in Kongo undenkbar wäre: Die lokalen Autoritäten griffen ein, mit Erfolg. Sie beschwerten sich bei den Kommandanten. Diese zogen den stehlenden Soldaten das Geld vom Sold ab. Die Diebstähle hörten auf.
Nun schlendern Soldaten neben Dorfbewohnern die Strasse entlang. Ein Ladenbesitzer, der ausgeraubt wurde, sagt, man habe der Armee erklärt, dass die Leute in Idjwi auch nachts unterwegs seien. Diese sähen die Inselbewohner nun nicht mehr als Freiwild. Sie würden Wohnungen von ihnen mieten. «Wir leben in Frieden zusammen.»
Make love, not war
Irgendetwas ist es auf Idjwi, das sie alle befriedet.
Vielleicht hat die Lösung des Rätsels mit dem zu tun, was Jesus vor 2000 Jahren und die Hippies vor 50 Jahren predigten: Make love, not war. Für Frieden braucht es Liebe.
Wenn man sich auf Idjwi mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Insel über den Frieden unterhält, sprechen die meisten von ihnen irgendwann von der Liebe. Der Sänger Pascal Muliri zum Beispiel sagt: «Wir bemühen uns, einander zu lieben, damit die Insel friedlich bleibt.»
Das klingt banal, aber in Idjwi meinen sie das ernst. Und sie haben die sozialen Mechanismen, um die Liebe und den Frieden zu sichern. Es geht nicht nur um Nächstenliebe. Sondern auch um Handfestes.
Man kann das zum Beispiel bei Hubert Buroko lernen, einem 72-jährigen Gemeindevorsteher, in dessen Wohnzimmer ein Buch auf dem Tisch liegt: «Registre de naissance», steht darauf, Geburtsregister. Das Buch ist dick, allein in Burokos Zuständigkeitsbereich sind im vergangenen Jahr mehrere hundert Kinder zur Welt gekommen. Buroko kommentiert das mit einem Achselzucken: «Die Leute haben sonst nichts zu tun. Sie machen halt Kinder.»
Vielleicht erhalten sie so den Frieden.
Denn damit das auf Idjwi funktioniert mit dem Frieden, der Liebe und den Kindern, hat man sich eine Tradition bewahrt, die es einst vielerorts in Afrika gab, bis europäische Missionare sie des Teufels erklärten und tabuisierten. Man würde es heute Sexualberatung nennen.
Sextipps von den Gemeindeältesten
Buroko will am nächsten Morgen zeigen, wie das funktioniert mit der Beratung, die den Frieden sichert. Er lädt dazu ein Dutzend Gemeindeälteste ein. Sie versammeln sich in einer fensterlosen Strohhütte neben Burokos Haus. Es ist dunkel, ein Feuer wirft einen roten Schein an die Wand. Die Ältesten sitzen hier zusammen, um Geschichten von früher zu erzählen, aber auch den Klatsch von heute. Sie reichen sich Bananenwein weiter.
Mit der Beratung gehe das so, erzählt Machozina M’jipoliti, die 65 Jahre alt ist und sieben Kinder hat: Vor der Hochzeit bitten Onkel, Tanten oder Gemeindeälteste junge Paare zum Gespräch. Sie erklären ihnen, was wichtig ist in der Ehe und im Ehebett. Nach der Hochzeitsnacht erfolgt ein nächstes Gespräch, getrennt: «Die Frau kommt und sagt, wie die Nacht war. Ob der Mann gut genug ist, um Kinder zu zeugen.» War es nicht gut, verschreiben die Älteren Kräuter. Klappt es danach noch immer nicht mit der Potenz, erteilt eine der älteren Frauen dem Paar im Schlafzimmer praktische Tipps.
Hubert Buroko, der Gemeindevorsteher, wirft ein: «Früher begannen Konflikte, weil einer der Partner nicht befriedigt war. Unzufriedene Frauen zum Beispiel machten sich auf die Suche nach einem besseren Partner.»
Machozina M’jipoliti sagt: «So schaffen wir Frieden auf der Insel – Frieden in der Ehe und mit den Nachbarn. Es überträgt sich auf die Kinder und setzt sich Generation um Generation fort. Weil alle zufrieden sind, leben sie in Frieden.»
Frieden in den Betten, Frieden in der Gemeinschaft
Man kann diese Form von Eheberatung übergriffig finden. Doch auf Idjwi glauben viele, dass der Frieden mit der Befriedigung beginnt.
Die Tradition ist schwächer geworden. Ein Frischvermählter sagt, für ihn sei die Beratung freiwillig gewesen. Er musste nach der Hochzeitsnacht keinen Erfahrungsbericht abgeben. Aber er hat Tipps erhalten. Zum Beispiel, dass das Vorspiel wichtig sei. Auch er sagt: «Wenn du guten Sex hast, lebst du in Frieden und fängst nicht mit den Nachbarn Streit an.»
Make love, not war. Herrscht Frieden in den Betten, herrscht Frieden in der Gemeinschaft. So sehen sie das auf Idjwi. Es ist die Lösung des Rätsels.
Aber es gibt einen Haken. Idjwi könnte Opfer des eigenen Erfolgs werden. Es lässt sich am dicken Buch in Hubert Burokos Wohnzimmer ablesen: Die friedenssichernden Massnahmen auf Idjwi dürften dafür mitverantwortlich sein, dass die Bevölkerung rasch wächst. Das Land auf der Insel ist schon teurer geworden. Auch deswegen sagen die Leute auf Idjwi, das grösste Problem sei, dass Bauern sich über die Grenzen ihrer Felder stritten. Die Aussage klingt harmloser, als sie ist. Denn diese Streitigkeiten werden zunehmen.
Make love, not war. Vielleicht ist es nicht nur das Geheimnis von Idjwi. Sondern auch das Problem.
Historische Informationen zu Idjwi aus: Séverine Autesserre: The Frontlines of Peace. An Insider’s Guide to Changing the World. (Darin Kapitel zu Idjwi.)