Die Verteidigungsministerin übergibt den Stab der Bundespräsidentin an Karin Keller-Sutter. Amherds aussenpolitische Erfolge lassen sich sehen, obwohl die Mitte-Bundesrätin in Bundesbern isoliert dasteht. Wie kann das sein?
Welch ein Triumph. Das bilaterale Schaulaufen mit der mächtigsten Frau Europas, innig verbunden in europäischer Euphorie, und dies erst noch in Bern, nicht im fernen Brüssel, vor den Kameras der versammelten Medienschweiz: Falls sich Viola Amherd zu Beginn ihres Jahres als Bundespräsidentin einen perfekten Schlusspunkt erträumte, hat er wohl ziemlich genau so ausgesehen: eine Medienkonferenz zum erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der EU an der Seite von Ursula von der Leyen am 20. Dezember.
Die Fotos bringen es besser zum Ausdruck, als es die überzeugte Europäerin aus dem engen Rhonetal selbst je ausdeutschen könnte: International gehört Amherd dazu. Mit von der Leyen ist sie per Du, zu Wolodimir Selenski hat sie einen guten Draht, mit Emmanuel Macron und Kamala Harris versteht sie sich ebenfalls.
Dem obligaten Familienfoto auf dem Bürgenstock im Frühling wird bereits Ikonenstatus zugeschrieben: Alle Staatsführer stehen in einer Reihe, nur Amherd steckt den Kopf heraus. Bei der Konferenz für den Frieden in der Ukraine handelt es sich wohl um den grössten Erfolg der Bundespräsidentin, auch wenn keine konkreten Ergebnisse erzielt wurden. Ohnehin hat Amherd mehrere Ziele erreicht, die sie sich als Bundespräsidentin gesetzt hat: die Stärkung des Unilateralismus und das Voranbringen des EU-Dossiers.
Im Inland isoliert
Doch so sehr Amherd glänzt im Schein der «westlichen Partner», von denen sie so gerne spricht: In Bundesbern steht sie ausgerechnet nach ihrem Jahr als Bundespräsidentin isoliert da. Bereits der Start verlief holprig, die Departementsverteilung mit dem völlig unerwarteten Wechsel von Elisabeth Baume-Schneider hat die Stimmung von Anfang an belastet. Später, im Verlauf des Präsidialjahrs, haben sich die Fronten im Bundesrat laut Beobachtern aus allen Lagern verhärtet. Oft gebe die SVP-FDP-Viererbande um Karin Keller-Sutter und Albert Rösti den Ton an, Amherd sei nicht Teil dieses Teams, wolle es wohl gar nicht mehr sein.
Angesichts der geopolitischen Lage hätte Amherd als Verteidigungsministerin eine Schlüsselrolle einnehmen können. Schliesslich steht die Armee vor der grössten Herausforderung seit dem Kalten Krieg. Seit 1991 wurde bei der Verteidigungsfähigkeit massiv gespart, nun soll die Armee wieder einsatzbereit gemacht werden.
Doch das erweist sich in Zeiten drohender struktureller Defizite als Kraftakt, die Finanzierungsfrage zersplittert das bürgerliche Lager bis in den Bundesrat. Gefragt wäre daher eine starke Führung mit einem klaren Plan, der es gelingt, Mehrheiten zu schaffen. Amherd ist das bis heute nicht gelungen. Stattdessen drangen während des Jahres 2024 immer wieder Missverständnisse, Pleiten, Pech und Pannen im Verteidigungsdepartement nach aussen, während die Chefin in der Welt herumjettete.
Kampf gegen Karin Keller-Sutter
Da wäre das Verhältnis mit Karin Keller-Sutter, der Finanzministerin, es ist je nach Quelle angespannt bis zerrüttet. Ursprung war unter anderem eine Spitzkehre der Verteidigungsministerin, die manche in Bern als Wortbruch, gar als Verletzung des Kollegialitätsprinzips betrachten. Anfang 2023 beschloss der Bundesrat entgegen den anfänglichen Beschlüssen des Parlaments, das Armeebudget im Jahr 2035 auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) anzuheben und nicht schon 2030. Keller-Sutter hatte sich unter dem Druck der Schuldenbremse für diesen Kompromiss starkgemacht, Amherd trug den Entscheid zuerst mit.
Später liess sie immer wieder durchblicken, dass sie ein schnelleres Wachstum als zwingend erachtet für die Verteidigungsfähigkeit. In einem Gastbeitrag schrieb sie: «Wir müssen jetzt in unsere Verteidigung investieren.» Auf dem Spiel stehe die Sicherheit der Schweiz und Europas. Das wurde in Bern als verklausuliertes Bekenntnis für ein schnelleres Wachstum gelesen. Auch, weil Amherd hinter den Kulissen den von Mitte- und SP-Politikerinnen geschnürten «Kuhhandel» unterstützte, einen 15-Milliarden-Deal unter Umgehung der Schuldenbremse, der das Armeebudget und die Ukraine-Hilfe verknüpfte. Als der Deal scheiterte, brachte sie kurzfristig eine ähnliche Idee im Bundesrat ein, lief wenig überraschend erneut auf – doch kurz darauf speiste ihr Parteikollege Martin Candinas exakt dieselbe Idee wundersamerweise im Nationalrat ein. Auch er scheiterte.
Mittlerweile hat die bürgerliche Mehrheit im Parlament einen Mittelweg eingeschlagen: Das neue Ziel ist das Jahr 2032. Woher das Geld kommen soll, ist noch immer nicht ganz klar. Die Finanzministerin machte gute Miene. Ihrer Bundesratskollegin aber soll sie das Doppelspiel nicht verziehen haben, im Gegenteil.
Leaks und nochmals Leaks
Dazu kommen Unstimmigkeiten im Verteidigungsdepartement (VBS) und in der Armee. Während Bundesrat und Parlament das ganze Jahr über Varianten für ein höheres Militärbudget durchspielten, streuten Personen, die wohl der Armee nahe stehen müssen, mittels geleakter Dokumente Zweifel daran, ob das VBS überhaupt mit Geld umzugehen wüsste.
Das SRF berichtete im Februar gestützt auf interne Dokumente aus dem Armeestab von einem vermeintlichen «Milliardenloch» bei der Armee. Die Geschichte drehte drei Wochen, während deren weder der Chef der Armee noch das VBS die Sache aufzuklären vermochten. Am Schluss schaffte die Finanzkommission des Nationalrats Klarheit: Die Armee habe kein Geld-, sondern ein Kommunikationsproblem. Es sei alles nur ein Missverständnis.
Dem sollten weitere folgen. Im Oktober berichtete das SRF, dass das von der Schweizer Armee eingekaufte neue System zur Überwachung des Luftraums und zur Leitung der Kampfjets (Skyview) seit Monaten auf Eis liege, weil die Integration in die neue digitale Plattform der Armee Risiken berge. Kostenpunkt: rund 300 Millionen Franken. Im selben Monat kamen ausserdem Probleme bei der Logistik-Software der Armee ans Licht. Die Enthüllungen beunruhigten Politiker von rechts bis links. Insgesamt betreut das VBS grosse Informatikprojekte im Wert von rund 4 Milliarden Franken. Parlamentarier stellten nun die Frage, ob die Armee den Anforderungen im IT-Bereich überhaupt gewachsen sei.
Leaks gehören zum politischen Spiel in Bundesbern. Wenn sie sich häufen, können sie allerdings auf ein zerrüttetes Vertrauensverhältnis hinweisen. Amherd hat in den letzten Jahren einen riesigen Umbau angerissen, etwa durch den Aufbau des Bundesamts für Cybersicherheit und des Staatssekretariats für Sicherheit oder die Reorganisation des Nachrichtendiensts und des Bundesamts für Bevölkerungsschutz. Reorganisationen sorgen anfänglich meistens für Unmut, doch Amherd ist es bis heute nicht gelungen, wieder für Ruhe zu sorgen.
Eine Strategie, bitte
Das Parlament versucht nun, die Verteidigungsministerin von aussen in eine aktivere Führungsrolle zu hieven. Es hat ihr den Auftrag aufgebrummt, eine sicherheitspolitische Gesamtstrategie auf Stufe Bundesrat zu entwerfen. Die Landesregierung habe bis heute nicht richtig klargemacht, wo sie mit der Armee hinwolle.
Dabei leiden Amherd und ihre Experten nicht unbedingt an einem Strategiedefizit: Das Verteidigungsdepartement hat die Sicherheitslage in diversen Papieren skizziert und dem Bundesrat vorgelegt. Dazu kommt das schwarze Buch des Armeechefs Thomas Süssli. Es zeigt auf, wie er die Armee verteidigungsfähig machen will. Man müsse die Papiere nur lesen, wiederholt Amherd gerne.
Doch was fehlt, ist die magistrale Klammer. Gemäss diversen Umfragen ist das Verständnis der Bevölkerung für Milliardeninvestitionen in die Armee klein. Die Verteidigungsministerin hat es auch fast drei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine noch nicht geschafft, zu transportieren, warum das Land eine verteidigungsfähige Armee braucht und warum diese Milliarden kostet. Sollte dereinst eine Steuererhöhung nötig werden, wäre Amherd aber auf den Rückhalt des Volkes angewiesen.
Doch statt den Auftrag des Parlaments als kommunikative Chance zu sehen, kreierte Amherd wieder einmal ein «Missverständnis». Im Nationalrat behauptete sie zuerst, sie habe die entsprechende Motion im Bundesrat unterstützt. Danach kroch sie öffentlich zu Kreuze, denn das Gegenteil ist wahr: Amherd hat sich hinter den Kulissen vehement gegen den Auftrag gewehrt.
Fehler könnten passieren, sagen ihre Freunde. Amherd nehme es mit der Wahrheit nicht so genau, ihre Gegner. Von Letzteren scheint es mit jedem «Missverständnis» mehr zu geben. Und es sieht auch gar nicht so aus, als wäre Amherd um ein gutes Einvernehmen bemüht. Darauf lassen Anekdoten aus dem Bundesrat schliessen.
Unlängst etwa hat sie einen linken Vorstoss zur Aufweichung der Schuldenbremse, den nicht einmal die SP-Bundesräte unterstützten, als Einzige formell zur Annahme empfohlen. Das Unterfangen war völlig aussichtslos. Amherd hat sich damit weiter isoliert. Womöglich denkt sie an einen baldigen Abgang. Wer geht, braucht keinen Rückhalt mehr. Tatsächlich halten auch Parteifreunde einen Rücktritt im kommenden Jahr für plausibel, beispielsweise nach der Europameisterschaft der Fussballerinnen im Sommer.
Walliser Verletzungen?
Womöglich liegen die Gründe für Amherds Isolation jedoch tiefer und haben etwas mit ihrer Herkunft zu tun. Als selbsterklärte Feministin am linken Rand der Mitte hatte es die Politikerin im konservativen Wallis nicht einfach. Als sie 2018 als Bundesratskandidatin gehandelt wurde, gab es Gegenwind aus den eigenen Reihen. Der «Walliser Bote» betitelte sie als «Mauerblümchen» und enthüllte einen Mietstreit, den sie vor Zivilgericht austrug. Einflussreiche Mitte-Politiker haben sich bis heute nicht mit ihrer Rolle angefreundet, ja scheinen ihre Arbeit sogar zu torpedieren.
Vielleicht ist das raue Klima im eigenen Kanton mit ein Grund dafür, dass Amherd nur einer Handvoll gleichgesinnter Politikerinnen vertraut. Zuvorderst ihrer langjährigen Beraterin Brigitte Hauser-Süess – ebenfalls eine CVP-Feministin aus dem Wallis. Amherd liess sich die Beratung durch ihre Freundin nach deren Pensionierung einiges kosten: Das Kostendach für drei Monate betrug 97 000 Franken, der Tagesansatz 1140 Franken brutto.
Die Enthüllung der NZZ sorgte für Empörung angesichts der angespannten Finanzlage. Doch Hauser-Süess legte die Kritik aus, wie man es von ihr gewohnt ist: feministisch. Die Schweiz sei offenbar noch immer nicht bereit für gut verdienende Frauen, sagte sie über die Festtage dem «Walliser Boten». Bei einem Mann hätte die Diskussion anders ausgesehen, meinte Hauser-Süess. Das mag sein. Unter bürgerlichen Politikern macht man sich mit solchen Aussagen allerdings keine Freunde. Und diese hätte ihre ehemalige Chefin Amherd dringend nötig.
Nun folgt Karin Keller-Sutter auf Viola Amherd als Bundespräsidentin. Die Freisinnige sprach in ihrer Antrittsrede nicht wie ihre Vorgängerin über das EU-Dossier oder andere hochfliegende Themen. Stattdessen erklärte Keller-Sutter schlicht, als Bundespräsidentin habe sie sicherzustellen, dass die Regierung als Kollegialbehörde entscheid- und handlungsfähig sei. Dies werde im Zentrum ihrer Bemühungen stehen. Manche lasen es als gut getarnten Seitenhieb. Wie Amherd die Bundesratssitzungen plant, vorbereitet und führt, wird von verschiedener Seite kritisiert.
Was ihre Gegner nicht gerne hören: Selbst wenn Amherd morgen zurücktreten würde, fiele es ihr leicht, Erfolge aufzuzählen und eine Bilanz vorzuweisen, die sich sehen lässt. Abstimmungssieg bei den neuen Kampfjets, massive Erhöhung des Armeebudgets, Konferenz auf dem Bürgenstock, das EU-Dossier, engere Kooperation mit der Nato: All dies fiel in ihre Zeit als VBS-Chefin und Bundespräsidentin.
Am Ende bekommt die 62-Jährige oft, was sie will. Die einen – es handelt sich oft um Frauen – schreiben das ihrem Raffinement zu. Hinter all den kommunikativen Irrungen und Wirrungen stehe ein grösserer Plan. Männliche Zeitgenossen schreiben ihre Erfolge eher glücklicher Fügung zu. Sicher ist sich aber niemand: Für viele ist Viola Amherd auch nach sechs Jahren im Bundesrat ein Buch mit sieben Siegeln.