Die russischen Behörden wollen den Angehörigen den Leichnam des umgekommenen Oppositionspolitikers vorläufig nicht übergeben. Die Wut und Trauer über den Tod will Alexei Nawalnys Ehefrau zur Fortsetzung von dessen Werk nutzen.
Die russischen Behörden zeigen wenig Interesse daran, Licht ins Dunkel des Ablebens von Russlands wichtigstem Oppositionspolitiker im nordwestsibirischen Straflager zu bringen. Der Mutter Alexei Nawalnys und dem sie begleitenden Anwalt waren am Wochenende zwar die Sterbedokumente übergeben worden. Über die Todesursache wird aber weiterhin gerätselt. Am Montag teilten die Ermittlungsbehörden den beiden mit, die Frist für die Untersuchungen sei verlängert worden, weshalb der Leichnam der Familie nicht übergeben werden könne.
Emotionales Video
Je mehr die Ermittlungsbehörden ein Geheimnis um den Verbleib des Leichnams und die gerichtsmedizinische Untersuchung machen, desto mehr Raum geben sie den Spekulationen und Gerüchten rund um Nawalnys Tod. Sie kenne die konkreten Gründe dafür, dass Russlands Präsident Wladimir Putin Nawalny gerade jetzt habe umbringen lassen, und werde bald darüber informieren, sagte dessen Witwe Julia Nawalnaja in einer fast neunminütigen emotionalen Videobotschaft am Montag. Darin kündigte sie mit gebrochener Stimme an, die Arbeit ihres umgekommenen Mannes fortsetzen zu wollen.
Sie rief alle Gleichgesinnten dazu auf, sich an ihre Seite zu stellen und sie dabei zu unterstützen, Alexei Nawalnys Vorstellung von einem Russland der Zukunft zu realisieren. Sein Opfer dürfe nicht vergebens gewesen sein. In welcher Form Nawalnaja künftig in Erscheinung treten wird und ob sie mehr als das Gesicht dieses politischen Kampfs sein will, darüber sagt das Video nichts aus.
Wenig überzeugende Versionen des Todes
Einigermassen gesicherte Informationen über Nawalnys Leichnam gibt es nur ganz wenige. Vermutlich in der Nacht auf Samstag, also kurz vor dem Eintreffen der Mutter und des Anwalts in der Siedlung Charp am Polarkreis, wurden die sterblichen Überreste in die Hauptstadt des Gebiets der Jamal-Nenzen, Salechard, gebracht. Das sollen Aufnahmen einer Strassenüberwachungskamera zeigen, die das Portal Mediasona am Sonntag veröffentlichte.
Lokale Quellen der exilrussischen Publikation «Nowaja Gaseta Europa» berichteten zudem vom Eintreffen zweier kleinerer Flugzeuge aus Moskau auf dem Flughafen von Salechard. Darin vermuteten sie gerichtsmedizinische Experten und Ermittler aus der Hauptstadt. Örtliche Gerichtsmediziner seien nicht mit der Leichenschau betraut; ob ihnen das untersagt wurde oder ob sie zu ihrem eigenen Schutz eine solche heikle Aufgabe nicht übernehmen wollten, ist unklar. Ungewöhnlich erschien örtlichen Beobachtern nur der Umstand, dass der Leichnam nicht in das Leichenhaus der Gerichtsmediziner gebracht wurde, sondern, von Polizisten bewacht, in dasjenige des Regionalspitals.
Der Fernsehsender RT hatte am Freitag von einer Thromboembolie gesprochen, Vertreter des Straflagers vom «Syndrom des plötzlichen Todes». Ärzte und Gerichtsmediziner, die von russischen Medien mit diesen Versionen konfrontiert wurden, hielten sich mit Schlussfolgerungen zurück. Auch dass laut manchen Medienberichten blaue Flecken auf dem Oberkörper zu finden sind, die auf Krämpfe hinweisen könnten, war ihnen zu wenig konkret. Sie warnten vor voreiligen Schlüssen. Eine Gerichtsmedizinerin sagte dem Portal «Takie dela», je nachdem sei auch äussere physische Einwirkung schwer feststellbar. Dasselbe gelte für Gifte im Körper.
Spekulationen um Vergiftung
Den russischen Intensivmediziner Alexander Polupan, der zusammen mit anderen Moskauer Ärzten im August 2020 bei Nawalnys Vergiftung nach Omsk geschickt worden war, überzeugten alle bisher geäusserten Versionen nicht wirklich. Die unmenschlichen Haftbedingungen allein könnten den Tod kaum verursacht haben, meinte er in einem Video der «Nowaja Gaseta Europa». Dafür wären zusätzliche Anhaltspunkte für eine generelle Verschlechterung des Gesundheitszustands nötig gewesen. Nawalny habe aber selbst am Tag vor seinem Tod noch munter gewirkt.
Polupans Worten ist zu entnehmen, dass er eine Vergiftung für durchaus wahrscheinlich hält. Aber solange es keine toxikologische Untersuchung gebe und die Ergebnisse nicht unabhängig überprüft werden könnten, könne er dazu nicht viel sagen. Er glaube nicht, dass je eine eindeutige Todesursache bekanntgegeben werde.
Von ganz wenigen spezifischen Ausnahmen abgesehen, sind die Behörden dazu verpflichtet, den Leichnam eines im Strafvollzug Verstorbenen den Angehörigen zu übergeben. Die Frist kann aber bis zu dreissig Tage betragen. Aber wie die Behörden im Fall Nawalnys damit umgehen wollen, ist nicht klar. Das Regime ist weder an einer unabhängigen Überprüfung der Todesursache interessiert noch an einem Begräbnis, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zöge.