The Market hat die wichtigsten Börsen nach Titeln mit hohem Momentum abgeklopft. Gut schneiden derzeit neben Rüstungs- vor allem Finanzwerte ab. Die «glorreichen Sieben» sind derweil kein Thema mehr.
Europa erlebt eine Renaissance. Das zeigt sich nicht nur am Abschneiden der wichtigsten Aktienindizes seit Anfang Jahr, sondern auch in der regelmässig erhobenen Momentum-Übersicht von The Market, die die Börsen der USA, Europas und der Schweiz nach Titeln mit hohem Kursauftrieb abklopft. Stärkster Index ist erstmals der Dax, nachdem in den meisten bisherigen Erhebungen – gestartet wurde die Serie im Januar 2020 – der technologielastige Nasdaq 100 dominiert hat.
Mit seiner Performance reiht sich der deutsche Leitindex unter den rund 1300 Titeln aus dem S&P 500, dem Stoxx Europe 600 und dem Swiss Performance Index auf Rang 164 ein. Im Vergleich zur letzten Erhebung im Mai vor einem Jahr, als 314 Namen besser abschnitten als der stärkste Index (damals der Nasdaq 100), ist der Markt damit wieder etwas enger geworden. Auf Rang zwei der stärksten Indizes folgt der Euro Stoxx 50, und auf Rang drei steht der Swiss Market Index, weil sich dessen defensive Schwergewichte Roche, Novartis und Nestlé langsam erholen.
Wie The Market das Kursmomentum bestimmt
The Market rangiert die rund 1300 Titel, die im amerikanischen S&P 500, im europäischen Stoxx Europe 600 und im schweizerischen SPI vertreten sind, nach der Kursveränderung über sechs und zwölf Monate. Dies, weil diverse akademische Studien gezeigt haben, dass Valoren, die über diese Perioden gut abgeschnitten haben, auch in den darauffolgenden Monaten die Nase vorn haben. Beide Komponenten erhalten das gleiche Gewicht. Gewinner ist die Aktie mit der im Durchschnitt besten Kursentwicklung.
Die Tabelle zeigt die 25 stärksten Aktien. Nicht ganz überraschend werden die Top Ten von europäischen Rüstungswerten dominiert, deren Kursauftrieb sich seit dem drohenden Abschied der USA als Beschützer Europas nochmals beschleunigt hat. Auf Rang eins steht der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall, der inzwischen höher kapitalisiert ist als Volkswagen.
Das gute Abschneiden von Rheinmetall zeigt die Problematik der Methode von The Market. «Ihr Problem ist, dass sie nicht zwischen gutem und schlechtem Momentum unterscheidet», sagt der langjährige Marktbeobachter Alfons Cortés. Schlechtes Momentum haben Titel, die sich in einer Blase befinden. Das ist dann der Fall, wenn die Bollinger-Bänder nach langem Aufwärtstrend weit auseinanderdriften – so wie jetzt bei Rheinmetall (mehr zum Umgang mit Bollinger-Bändern und Kerzencharts finden Sie am Ende des Artikels).
Rheinmetall
Das ist so lange kein Problem, als die Kerzen am oberen Ende des Bandes kleben. Bei Rheinmetall ist aber selbst das nicht der Fall. Die Kerze für den Monat März befindet sich komplett ausserhalb des weit geöffneten Bollinger-Bandes – ein Zustand, der kaum nachhaltig sein dürfte. Das gilt auch für andere europäische Rüstungswerte wie Leonardo, Saab oder Dassault Aviation.
Kurse werden zu den Bollinger-Bändern zurückkehren
Problematisch wird es, wenn das Momentum nachlässt, was sich am unteren Bollinger-Band ablesen lässt, das sich zu schliessen beginnt. Noch ist das bei Rheinmetall & Co. nicht der Fall. Dennoch sind Anleger gut beraten, nicht mehr auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Die Kurse werden in den Bereich der Bollinger-Bänder zurückkehren, so wie das bereits 2022 und 2024 geschehen ist, als sie sich ebenfalls ausserhalb des oberen Bandes bewegten (vgl. rote Pfeile in der obigen Grafik).
Im besten Fall geschieht das über eine längere Seitwärtsbewegung, im schlechtesten Fall resultieren nach den starken Avancen weit über das obere Band hinaus empfindliche Kursverluste, auch wenn sich der Aufwärtstrend später fortsetzen sollte.
Während Rüstungsaktien derzeit en vogue sind, wurde es um Finanzwerte etwas ruhiger, obwohl sie unter den stärksten Werten die zahlenmässig wichtigste Gruppe stellen. 65 oder 40% der 163 Einzelaktien, die den Dax schlagen, stammen aus dem Bank- und Versicherungsbereich, die meisten davon aus Europa inklusive der Schweiz.
Aufwärtstrend bei Finanzwerten beschleunigt sich
Ihr Auftrieb hat jüngst zugenommen – getrieben von der Ankündigung riesiger Fiskalpakete in Deutschland und der Eurozone, die die Wachstumsfantasie anregen und für steigende langfristige Zinsen gesorgt haben. Dank der Zinssenkungen durch die Europäische Zentralbank und die Schweizerische Nationalbank hat sich die Zinsmarge der Banken weiter ausgeweitet, da diese die länger laufenden Kredite am Geldmarkt refinanzieren.
Beschleunigt hat sich auch der Kursauftrieb bei Commerzbank, dem mit Rang zehn am besten klassierten Finanzwert. Das liegt neben der steileren Zinskurve und den angekündigten Konjunkturpaketen auch an den Übernahmegelüsten der italienischen UniCredit, die das deutsche Institut gerne übernehmen würde.
Die Beschleunigung lässt sich an den neuerdings auseinanderlaufenden Bollinger-Bändern ablesen (vgl. rote Pfeile in der Grafik). Eine Blase ist das aber noch nicht, der Aufwärtstrend dürfte sich demnach fortsetzen, solang die Übernahmegelüste von UniCredit wegen des stetigen Kursanstiegs nicht abebben. Allerdings müssen Anleger zwischenzeitliche Korrekturen zulassen. «Der Versuch, diesen Gegenbewegungen auszuweichen, zählt zu den grössten Fehlern, die Investoren begehen können», warnt Cortés, «weil sie so einen grossen Teil des Trends verpassen.»
Commerzbank
Nicht weit hinter Commerzbank folgt die französische Société Générale auf Rang 13. Unter den Top 25 finden sich ferner die spanische Banco de Sabadell, die italienischen Regionalbanken Banco BPM, BPER Banca und Banca Popolare di Sondrio sowie die britische Standard Chartered. Diese Namen zeigen auch, wie beständig gesunde Trends sein können, tauchten einige von ihnen doch erstmals in der Erhebung vom Mai 2021 und danach immer wieder unter den stärksten Werten auf. Auch im vierzehntäglich erstellten The Market Momentum Screen bleiben regelmässig solche Namen hängen.
Während Marktturbulenzen nach Basketbällen suchen
Ein gesunder Trend zeichnet sich dadurch aus, dass die Kurse am oberen Band «kleben» oder sich zumindest zwischen steigendem gleitendem Durchschnitt und oberem Band bewegen und die Bänder parallel verlaufen. Dazu zählen Namen wie die US-Autoersatzteilhändler AutoZone und O’Reilly Automotive oder der französische Triebwerkhersteller Safran, die der Fondsmanager Thierry Borgeat in einem Gastbeitrag für The Market kürzlich als Basketbälle unter Wasser bezeichnet hat, weil sie in Marktturbulenzen anfänglich von den strauchelnden Indizes nach unten gezogen werden, ihre relative Stärke zum S&P 500 oder dem MSCI Welt aber bald zunimmt.
«Sie tauchen kurz ab, aber sobald der Druck nachlässt, schnellen sie mit voller Kraft nach oben», schrieb Borgeat. Alfons Cortés verkauft solche Titel erst, wenn ihr Kurs und die relative Stärke unter den flachen oder sinkenden gleitenden Durchschnitt fallen, wobei er dafür auf den Zehnmonatsschnitt zurückgreift (die Erklärung findet sich ebenfalls am Ende des Artikels).
AutoZone
Kein Thema mehr sind die Titel der «glorreichen Sieben» wie Microsoft oder Alphabet, die den Markt bis vor kurzem dominiert hatten. Als bestklassierter Wert schafft es Nvidia auf Rang 395. Die Schwäche begann sich trotz Top-Platzierung schon vor einem Jahr abzuzeichnen, also lange, bevor das chinesische KI-Start-up DeepSeek die Anleger zusätzlich verunsicherte.
Die «glorreichen Sieben» sind passé
Zwar stiess Nvidia letztes Jahr noch auf neue Höchst vor. Allerdings wurden die Valoren dabei deutlich volatiler, wie die vielen Kerzen mit langen Schatten zeigen, die in den letzten Monaten aufgetreten sind (vgl. gelbe Markierungen in der Grafik). Gleichzeitig notiert der Kurs niedriger als im Juni vor einem Jahr. Die Kombination aus hohen Kursschwankungen und schrumpfendem Ertrag ist kaum nach dem Gusto der meisten Anleger. «Dieser Bereich ist passé», sagt auch Alfons Cortés.
Nvidia
Besser gefallen Cortés die Valoren von Roche, die nach einer rund dreijährigen Schwächephase über den nach oben drehenden gleitenden Durchschnitt gestiegen sind und nun am oberen Bollinger-Band kleben. Es ist also durchaus möglich, dass hier ein neuer Aufwärtstrend begonnen hat.
Ein allfälliges Auseinanderdriften der Bollinger-Bänder ist in diesem Fall kein Problem, weil die Kursbeschleunigung nicht auf eine lange Hausse folgt, sondern auf eine Konsolidierung. The Market stuft solche Titel als Nachzügler ein, die aufholen. Da sie zuweilen weit unter ihrem Höchst notieren, ist das Kurspotenzial entsprechend attraktiv. In diese Kategorie fallen auch die europäischen Banken.
Roche
Spannende Nachzügler und Ausbruchskandidaten
Vor einem neuen Aufwärtstrend stehen womöglich auch die Valoren des Schweizer Sensorherstellers Sensirion, die im März mit steigendem Volumen (vgl. zweites Fenster in der Grafik) über den gleitenden Durchschnitt gestiegen sind. Zudem macht es den Anschein, als ob sich der rund zweijährige Abwärtstrend des gleitenden Durchschnitts abflacht. Noch ist die Bodenbildung allerdings nicht abgeschlossen. Dennoch gehört Sensirion auf die Watchlist. Das gilt (noch) nicht für die drei Schweizer Halbleiterwerte VAT, Inficon und Comet, die sich auf den hinteren Ranglistenplätzen befinden. Immerhin flacht bei VAT das Abwärtsmomentum ab.
Sensirion
Spannend sind auch Valoren, die nach einer längeren Konsolidierung wieder in der Nähe ihres Allzeit- oder Mehrjahreshöchst notieren und demnächst nach oben ausbrechen könnten. Dazu zählen die Papiere von Lindt & Sprüngli, die versuchen, eine mehrjährige Handelsspanne zu überwinden, was den Weg zum Allzeithöchst vom Dezember 2021 öffnen würde. Fällt auch dieser Widerstand, steht dem Übergang in einen stabilen Aufwärtstrend wenig im Weg.
Lindt & Sprüngli
Ähnliches gilt für die Valoren der Privatbank Julius Bär oder des deutschen Internetwerts Freenet. Erstere könnten demnächst auf Mehrjahreshöchst ausbrechen, Letztere haben es bereits getan. Damit wurden sie zu Nachzüglern, die aufholen, da sie noch deutlich unter dem Allzeithöchst aus der Zeit der Technologieblase im Jahr 2000 notieren.
Freenet
Die folgende Tabelle zeigt eine Auswahl an Namen aus den vier Momentumkategorien Blase, stabiler Trend, Ausbruch und Nachzügler:
Bollinger-Bänder und japanische Kerzen
Das Konzept geht auf den US-Markttechniker John Bollinger zurück. Die Bänder werden um einen gleitenden Durchschnitt gelegt und erfassen die Volatilität eines Trends. Im Normalfall werden der gleitende Durchschnitt und die Standardabweichung, das statistische Mass für Kursschwankungen, über zwanzig Perioden – seien es Tage, Wochen oder Monate – errechnet.
Das obere Band liegt zwei Standardabweichungen über, das untere zwei Standardabweichungen unter dem gleitenden Durchschnitt. Damit umfassen die Bänder rund 95% aller während der beobachteten Periode bezahlten Kurse. Bollinger-Bänder sind in vielen Chart-Angeboten vorhanden – so zum Beispiel bei Finance.yahoo.com.
Diese Angebote ermöglichen ferner, den Kursverlauf als japanischen Kerzen-Chart darzustellen. Im Gegensatz zu einem Linien-Chart, der nur die Schlusskurse miteinander verbindet, zeigen japanische Kerzen Eröffnungs- und Schlusskurs – sie bilden den Körper der Kerze – sowie Höchst- und Tiefstkurs, den Schatten (siehe Grafik weiter unten). Weiss oder grün ist die Kerze, wenn der Schluss- über dem Eröffnungskurs liegt. Schwarz oder je nach Anbieter auch blau oder rot ist sie, wenn der Schluss- unter dem Eröffnungskurs liegt.
Kerzen enthalten wertvolle Informationen zum Momentum eines Titels. Grosse weisse Kerzen ohne Schatten stehen für einen stabilen Aufwärtstrend. Eine Kerze fast ohne Körper, aber mit langem Schatten kann nach einer Hausse auf eine Ermüdung hinweisen.
Besonders spannend ist die Kombination aus Kerzen-Charts und Bollinger-Bändern, wenn Letztere nach längerer Konsolidierung eng beisammen sind und eine grosse grüne oder weisse Kerze den Ausbruch nach oben signalisiert – so wie das derzeit beim Schweizer Schokoladenhersteller Lindt & Sprüngli der Fall sein könnte.
Um den Tageslärm auszublenden, setzt Alfons Cortés auf Monats- und Wochendaten. Damit bestimmt er den lang- und den mittelfristigen Trend. Tagesdaten benutzt er einzig zum Timing des Ein- und des Ausstiegs.
Die Anzahl Perioden ergibt sich aus der Historie eines Titels. Zur Beantwortung spezifischer Fragen verwendet Cortés den gleitenden Durchschnitt über zehn Monate zusammen mit Bollinger-Bändern, die 1,9 Standardabweichungen um den Schnitt gelegt werden, sowie Vierzigmonatsbänder. So hilft ihm der Zehnmonatsschnitt bei der Bestimmung des Abwärtsrisikos für Aktien, die nach einer Blasenbildung konsolidieren. Der Vierzigmonatsschnitt kommt bei einer aus dem Nichts aufgetretenen Korrektur zum Einsatz, um nicht überstürzt zu handeln und im dümmsten Zeitpunkt verkaufen zu müssen.
Mehr zur Verwendung der Bollinger-Bänder erfahren Sie hier.