Obwohl stichhaltige Beweise fehlen, schieben die USA Argumente der nationalen Sicherheit im Kampf gegen Tiktok vor. Das ist nicht nur für Tiktok bitter, sondern auch für die liberale Gesellschaft. Sie hätte eine chinesische Unterhaltungs-App aushalten können.
Tiktok hat sich mit allen Mitteln gegen das Gesetz aufgelehnt, doch Widerstand war zwecklos. Nun muss die amerikanische Version der Plattform an einen Investor aus den USA verkauft werden. Sollte dieses Vorhaben scheitern, geht die App in den USA offline. So will es das Gesetz, das nach dem Entscheid des Supreme Court nun definitiv am 19. Januar in Kraft tritt.
Das Gesetz ist unverhältnismässig. Es untergräbt die liberale Identität der USA, die auf der Wirtschaftsfreiheit und der Unschuldsvermutung basiert. Nun wird ein Gesetz in Kraft treten, das diese beiden Grundpfeiler des Staates erschüttert.
Natürlich ist ein gesundes Mass an Misstrauen bei Tiktok angebracht. Die chinesische Regierung hat wiederholt gezeigt, dass sie nicht davor zurückschreckt, Firmen für ihre Interessen einzuspannen. Dennoch blieb die Befürchtung bisher hypothetisch, dass China den immensen Datensatz für die Spionage verwendet, den Tiktok über seine amerikanischen Nutzer sammelt. Nachweisen konnte man Tiktok in den bald sieben Jahren Betrieb in den USA kein Vergehen, das an Spionage im Interesse eines anderen Landes erinnert. Auch fehlt der Beweis, dass die kommunistische Partei Chinas ihre vorhandene Befehlslinie zu Tiktok je missbraucht hätte.
Die App nun per Gesetz zum Verkauf zu zwingen oder für alle zu verbieten, geht deshalb zu weit. Sinnvoller wäre der Ansatz, den die USA bisher verfolgten: Regierungsmitarbeiter durften die App nicht auf ihren Dienstgeräten installieren. Man schränkte die Nutzung dort ein, wo besonders sensible Informationen zirkulieren. Anstatt diesen risikobasierten Ansatz weiterzuentwickeln, agiert die amerikanische Politik nun mit dem Holzhammer.
Die Unverhältnismässigkeit dürfte Missgunst unter den 170 Millionen amerikanischen Tiktok-Nutzern säen. In einer Zeit, in der sich das Volk sowieso schon von der politischen Elite abwendet, nimmt diese ihm eine seiner Lieblingsplattformen weg. Besonders Influencer dürfte das ärgern, die sich in jahrelanger Arbeit eine Gefolgschaft aufgebaut haben und mit der Plattform Geld verdienten.
Manche nutzen die Aktualität allerdings auch und witzeln unter dem Stichwort «Goodbye Chinese Spy» über das Verbot.
Nutzern ist Quellenkritik und Reflexionsvermögen zuzutrauen
Die USA hätten besser daran getan, Tiktok zu mehr Transparenz zu zwingen und zu einem sorgfältigeren Umgang mit Jugendlichen. Stattdessen reglementiert das Parlament die App einfach weg. Gelöst ist das Problem der potenziellen Spionage damit mitnichten: Nun dürfte bei jeder neuen chinesischen Unterhaltungs-App die Frage nach einem Verbot wieder anstehen – so auch bei Rednote, der App, auf die viele amerikanische Tiktok-Nutzer nun umsteigen. Solche Apps in Zukunft alle zum Verkauf an einen inländischen Investor zu zwingen, wäre ein deutlicher Bruch mit der regelbasierten demokratischen Ordnung der USA.
Das Urteil des Supreme Court ist deshalb nicht nur für Tiktok bitter, sondern auch für die freiheitsliebende amerikanische Gesellschaft. Die USA hätten sich auf ihre offene Tradition zurückbesinnen und ihren Bürgern Quellenkritik und Reflexionsvermögen zutrauen sollen. Denn eine liberale Gesellschaft kann es aushalten, dass sie auf Tiktok ein chinesisch geprägtes Weltbild vermittelt bekommt. Schliesslich ist schon länger bekannt, dass Tiktok Inhalte unterdrückt, falls dies im Interesse der chinesischen Regierung ist.
Gerade bei Tiktok erwarten Nutzer keine ausgewogenen politischen Diskussionen. Sie schätzen die Plattform als eines der unterhaltsamsten Portale der Welt. Trotzdem wäre es wichtig, dass Gesetzgeber Tiktok und die anderen sozialen Plattformen dazu zwingen, mehr externe Forschung und Inhaltsanalysen zuzulassen.
Stattdessen haben sich die USA auf die Herkunft der Plattform eingeschossen. Dass für einmal eine erfolgreiche Plattform aus China und nicht aus den USA stammt, zeigt, dass der Markt für Plattformen doch nicht so schlecht funktioniert, wie manche behaupten. Silicon-Valley-Unternehmen, denen oft monopolistisches Verhalten vorgeworfen wird, sind keinesfalls so unbesiegbar, wie sie es gerne wären.
Das Gesetz der USA ist also auch unter seinem Wettbewerbsaspekt zu sehen: Das amerikanische Parlament räumt deren nationalen Champions aus Kalifornien, allen voran Facebook, Instagram und X, den wichtigsten ausländischen Konkurrenten aus dem Weg. Auch wenn das nicht das oberste Ziel des Gesetzes war: Es wirkt nun auch wie Protektionismus.