In Myanmar kämpfen die Militärs gegen die Rebellen und alle gegen die Rohingya. Seit 2017 fliehen sie ins grösste Flüchtlingsheim der Welt und von dort weiter. Weshalb ist das Volk so verhasst?
Am 20. Oktober hat Sharifah Shakirah erreicht, wovon Millionen ihn ihrer zerstörten Heimat nur träumen können. Die 31-jährige Rohingya steht vor dem Büro der Einwanderungsbehörde in Houston, hält eine amerikanische Flagge in der einen und die Einbürgerungsurkunde in der anderen Hand. Das erste Mal in ihrem Leben verfügt sie über eine Staatsbürgerschaft.
Als wir die strebsame junge Frau das erste Mal vor sechs Jahren in Kuala Lumpur trafen, war sie in Malaysia nur knapp geduldet: eine Vertriebene ohne Flüchtlingsstatus, eine Muslimin ohne offizielle Papiere. Rohingya werden als illegale Migranten betrachtet und fristen ein Leben am Rand der Gesellschaft. Denn Malaysia (wie auch Thailand) hat die Uno-Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterschrieben.
In Myanmar, wo bis 2017 die meisten lebten, geht es den Rohingya noch schlechter. Sie werden dort abschätzig als «Bengali» bezeichnet und seit Jahrzehnten als fremd, invasiv oder gar als staatsgefährdend betrachtet und entsprechend diskriminiert. Für die Militärs, die sich in Myanmar als Beschützer der Nation und Bewahrer der religiös-kulturellen Identität der buddhistischen Bamar, der grössten ethnischen Gruppe im heutigen Myanmar, sehen, sind es rechtlose Untermenschen.
Unbequeme Fragen
Die mirakulöse Wende in Sharifahs Leben hebt sich entsprechend scharf vom Schicksal anderer Vertriebener aus der Nordhälfte Rakhines ab, des westlichsten Gliedstaats am Golf von Bengalen. Die Kleinstadt Buthidaung, wo Sharifah ihre frühe Kindheit verbrachte, sollte zum Epizentrum einer Gewaltwelle und ab 2017 zum Schauplatz einer beispiellosen ethnischen Säuberung werden. Die Ausgrenzung, die Vertreibung und schliesslich das Niederbrennen der Rohingya-Siedlungen kostete Tausende das Leben.
Als Scharen von Rohingya auf Booten zusammengepfercht in der Andamanensee trieben und das Morden in Rakhine Ausmasse eines Genozids annahm, zeigte sich die Welt entsetzt. Indessen: Jener mörderische Plan der Militärregierung, der mithilfe von Handlangern in der Provinz orchestriert und brutal umgesetzt wurde, existierte seit langem.
Hier stellen sich unbequeme und grundsätzliche Fragen – nicht zum ersten Mal: Wie kann es so weit kommen, dass Gemeinschaften und Nachbarn, die jahrelang einigermassen friedlich nebeneinander leben, zusehends einem Freund-Feind-Muster verfallen? Was elektrisiert und spornt Menschen an, um schliesslich als gewaltbereite Gruppen mordend übereinander herzufallen?
Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an die Ereignisse in Ex-Jugoslawien oder in Rwanda Mitte der neunziger Jahre. An den bis heute wenig aufgearbeiteten Massenmord an Chinesen 1965 in Indonesien. An den Terror der Roten Khmer in Kambodscha, an die Boat-People aus Südvietnam oder an den jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Sri Lanka, der erst 2009 endete. Selbst das heute so friedlich wirkende Malaysia hatte 1969 sein Schreckensjahr, als eine Hasswelle Inder, Chinesen und Malaien gegeneinander aufbrachte.
Demokratie und Pogrom – wie passt das zusammen?
Zum Grauen von Gewalt und ethnischer Säuberung im Rakhine State im Herbst 2017 gesellt sich ein sehr irritierendes Detail: Jene systematischen Vertreibungen fallen just in eine Zeit, da sich Myanmar gegenüber der Welt öffnete – und notabene eine hauptsächlich im Westen vielbeklatschte Demokratisierung einleitete. Und es waren wie erinnerlich jene Aufbruchsjahre, als die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi weltweit als Darling, Nationalidol und Heilsbringerin verehrt wurde. Wie geht das zusammen?
Die Frage, wieso Rohingya keine Bürgerrechte geniessen und systematisch ausgegrenzt und schliesslich vertrieben worden sind, beschäftigt Sharifah seit ihrer Kindheit. Als Angehörige einer muslimischen Minderheit, die in Myanmar nie als eine der (offiziell) 135 indigenen Volksgruppen klassiert war, sei man stets der Willkür der Behörden ausgesetzt gewesen und gesellschaftlich auf der untersten Sprosse gestanden, sagt sie.
Mit anderen Ethnien wie den buddhistischen Rakhine, die in Myanmar als einheimische Gruppe registriert seien, habe man früher zwar gutnachbarliche Beziehungen gehabt, und die Kinder hätten auch durchaus miteinander gespielt. Aber für Rohingya habe es in Myanmar weder bildungsmässig noch beruflich Chancen oder Perspektiven gegeben.
In ihrer ursprünglichen Heimat leben inzwischen kaum noch Muslime. Auf einer Fläche von 20 000 Quadratkilometern – halb so gross wie die Schweiz – sind vormals ethnisch und religiös durchmischte Siedlungen durch Soldaten, Milizen und einen entfesselten Mob entvölkert und niedergebrannt worden. Die buddhistischen Rakhine, die mit den Bamar (Ethnie Myanmars) kulturell und sprachlich verwandt sind, haben einen Grossteil der Siedlungen in Besitz genommen.
Auf der anderen Seite der Grenze, im Südzipfel von Bangladesh bei Cox’s Bazar, wuchert derweil das weltweit grösste Flüchtlingslager, Kutupalong, mit mittlerweile über einer Million Vertriebenen. Ein Ende dieses Elends in der subtropischen Lehm- und Sumpflandschaft ist nicht in Sicht. Eine Rückkehr der Rohingya in ihre alte Heimat bleibt Illusion. Wie konnte sich so etwas in einem Land abspielen, wo die Demokratie erwachte und sich der Griff der Generäle langsam löste?
Thant Myint-U, ein Enkel des früheren Uno-Generalsekretärs U Thant, liefert in seinem 2020 erschienenen Buch «The Hidden History of Burma» einen aus der Kolonialgeschichte bekannten Ansatz: Es war das britische Kolonialregime, das mit der Strategie «Teile und herrsche» die Animositäten zwischen Burmesen und andern Ethnien befeuerte. Das habe zur tief verankerten Abneigung gegenüber Einwanderern aus dem Subkontinent beigetragen, speziell zum Hass auf die (vorwiegend) muslimischen Bengalen.
Für die national-buddhistisch gesinnten Bamar sind die muslimischen Rohingya nämlich nichts anderes als eingewanderte Bengalen aus dem benachbarten Bangladesh. Rohingya dagegen definieren sich als Nachfahren früherer Siedler, die zum Teil seit Generationen in Rakhine ansässig sind.
«Not India at all»
Die hasserfüllten Gräben zwischen Religionen und Volksgruppen in Myanmar wirken mitunter verstörend: «Wenn du in der Wüste einer Schlange und einem Inder begegnest, dann töte zuerst den Inder.» Die Phrase stammt von einer jungen Einwohnerin Myanmars mit Universitätsabschluss. So lernte sie es – wie sie sagt – von ihrer Grossmutter.
Für jene Generation war prägend, dass Britisch-Burma seinerzeit von Indien aus verwaltet wurde, im Gegensatz zu Ceylon (heute Sri Lanka), Malaysia, Singapur und Hongkong, die den Status von Kronkolonien genossen. Burma jedoch war von den Briten zu einer geringgeschätzten indischen Provinz degradiert worden.
Für bekannte Literaten wie George Orwell und Rudyard Kipling, die vor hundert Jahren in Burma weilten, wirkte das schon damals befremdlich: Orwell warf dem Empire und seinen Landsleuten vor, das Land zu segregieren und schamlos auszubeuten. Und Kipling notierte: «This is Burma, and it will be quite unlike any other land you know . . . not India at all.»
Aus nationalistischer Perspektive und im Geschichtsverständnis aller Militärherrscher in Burma beziehungsweise Myanmar steht fest: Die nationalen (burmesischen) Wurzeln und die (angebliche) Einheit des Landes wurden während der Kolonialzeit versehrt. Vom Bild und Mythos einer glorreichen Epoche, die durch die Invasion aus dem Westen (und Indien) zerstört wurde, leiteten sie aber 1962 den Auftrag ab, «alle zerstörerischen externen Feinde zu zerquetschen». Mit solch martialischen Sätzen wurden Besucher in Myanmar noch bis 2010 empfangen.
Dass die Invasion aus dem Subkontinent die kulturelle Identität des damaligen Königreichs unterlief und das Selbstbild zerstörte, ist unbestritten. Nach den Niederlagen ihrer sieggewohnten Heere gegen die Briten im 19. Jahrhundert wurde der Monarch verschleppt und das tausend Jahre alte Königreich de facto aufgelöst. Klerus und Klöster, die als Hüter von Buddhismus und Kultur sowie als Stätten der Bildung und Erziehung wirkten, verloren an Bedeutung und wurden – aus Sicht der Besetzer – gewissermassen zur Folklore. Fazit: Mit den Briten und ihren Handlangern und Verwaltern aus dem indischen Subkontinent zogen zwei neue Herrschaftsschichten ein.
In der Folge strömten aus dem Subkontinent gegen Ende des 19. Jahrhunderts Hunderttausende ins Land. Orwell, der in den zwanziger Jahren als Polizeibeamter in Burma weilte, sprach in diesem Zusammenhang von «indischen Horden», von Sikhs, Hindus und Muslimen, die Burma überrannten.
Die Neuankömmlinge dominierten aufgrund ihres legendären Geschäftssinns auch bald das Wirtschaftsleben. In dieser Hackordnung rutschten die Burmesen zusehends ab. In jener Zeit, als in Europa Rassentheorien, Klassenbewusstsein und gesellschaftliche Abgrenzungen hoch im Kurs waren, standen die Briten zuoberst und ihre Adlaten aus Indien an zweiter Stelle. Die alten Herrscher von Manipur, Arakan, Irrawaddy-Delta und Teile des heutigen Thailands dagegen befürchteten – im Jargon jener Zeit – den «Untergang ihrer Rasse» und den Verlust ihrer Identität.
Die Burmesen wehrten sich wiederholt gegen die Kolonialherrschaft der Briten und entwickelten als Reaktion einen eigenen Nationalismus. Die Bilder stammen aus dem Jahr 1939.
Tiefsitzende Urängste
Solche Urängste, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts überliefert sind, scheinen die Machthaber bis heute zu prägen. Selbstfindung, Bewahrung der Identität, Autarkiebestrebungen, Furcht vor ausländischen Einflüssen, Wiederherstellung der Nation sowie Stärkung des militärischen Rückgrats ziehen sich ab 1945 als roter Faden durch die Geschichte Myanmars.
Es begann mit dem hektischen Streben nach staatlicher Unabhängigkeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ablehnung des von London initiierten Commonwealth of Nations. Ab den sechziger Jahren verfolgte das Land den isolationistischen «burmesischen Weg zum Sozialismus». 1988 massakrierten die Machthaber rebellierende Studenten. 2004 bunkerte sich die Militärregierung in der neuen Hauptstadt Naypyidaw ein. Und natürlich Aung San Suu Kyi: Die im Ausland ausgebildete und mit einem Briten verheiratete Lady war den Generälen von Anfang an suspekt.
Wen wundert es da, dass den fremdartigen muslimischen Rohingya stets Hass entgegenschlug in dem zutiefst buddhistischen Land? Sie waren am westlichen «Einfallstor» in Rakhine ansässig, sind kulturell und sprachlich mit ihren Glaubensbrüdern in Bangladesh verwandt, und sie verzeichneten eine überdurchschnittlich hohe Geburtenrate – die «fremde» Minderheit wurde schleichend zu einer Mehrheit. Zudem wurden sie historisch nie als indigene – ortsansässige – Gruppe klassiert. Sie blieben immer Aussenseiter.
Es ist jedenfalls bezeichnend, dass es selbst den in der Bevölkerung verhassten Militärmachthabern 2017 gelungen ist, mit dieser Vertreibungspolitik landesweit Sympathien zu schaffen und sich als Hüter von Buddhismus, nationaler Wesensart und myanmarischer Kultur zu positionieren. Ob dies damals in erster Linie mit Blick auf anstehende Wahlen zynisches Kalkül war, ist bis heute umstritten.
Aung San Suu Kyi war letztlich autoritär
Tatsächlich verschloss damals bekanntlich auch Aung San Suu Kyi ihre Augen vor den Greueltaten der Armee und ihrer Schergen. Auch zu ihr die Frage: War es wahltaktisches Kalkül, weil sich mit einem Eintreten für Rohingya keine Stimmen gewinnen, jedoch anderswo Rückhalt im Volk schaffen liess? Oder wusste sie, dass die Generäle bei diesem ethnisch-religiösen Dogma weder Spielraum noch Empathie tolerierten?
Es fehlt rückblickend nicht an Einschätzungen, die glauben, dass selbst die weltoffene Lady nicht über den Schatten ihrer burmesischen Herkunft springen konnte. Jedenfalls zeigte sie während ihrer Amtszeit für ethnische Minderheiten wenig Gespür; für einen Besuch im nördlichen Rakhine brachte sie nie Zeit auf. Und ihr Führungsstil entpuppte sich als selbstherrlich und letztlich autoritär.
Kritische Stimmen meinen, es sei ihr wichtig gewesen, das Heldenepos um ihren 1947 zu früh aus dem Leben gerissenen Vater zu vollenden. Aber weder General Aung San noch seiner inzwischen 79-jährigen Tochter blieb es vergönnt, Myanmar in eine völkerverbindende und vielversprechende Zukunft zu führen. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihr. Auch nicht mit den Rohingya. Selbst für die Generäle schlägt demnächst die Stunde der Wahrheit. Für Sharifah Shakirah hingegen beginnt ein neues Leben.