Der Premierminister hat in seiner ersten Regierungserklärung skizziert, wie er Frankreichs Finanzen sanieren will. Geplant sind Kürzungen und Steuererhöhungen für Vermögende und Energiekonzerne – aber auch ein höherer Mindestlohn. Von Teilen der Linken wurde er ausgebuht.
Nur einen kurzen Moment währte die Stille. Die Präsidentin der Pariser Nationalversammlung bat am Dienstagnachmittag um eine Schweigeminute zu Ehren der 19-jährigen Philippine. Der Tod der Studentin, die kürzlich im Bois de Boulogne gefunden wurde, bewegt Frankreich. Und er hat wieder einmal die Migrationsdebatte im Land befeuert, da es sich bei dem mutmasslichen Mörder um einen abgelehnten Asylbewerber handelt.
Michel Barnier trat daraufhin ans Rednerpult und sagte, auch ihn habe Philippines Tod betroffen gemacht. Seine Solidarität, erklärte der französische Premierminister, gelte darüber hinaus allen weiblichen Opfern von Gewalt. Womöglich hatte Barnier dabei an die Rentnerin Gisèle Pelicot gedacht, die sich derzeit in Avignon in einem aufsehenerregenden Prozess um Vergewaltigung ihren Peinigern stellt.
Ein Drahtseilakt
Nach diesen Worten trug Barnier seine erste Regierungserklärung vor, und sofort war es mit der Ruhe im Hohen Haus vorbei. Fast eineinhalb Stunden lang fielen die Abgeordneten der linken Partei La France insoumise dem Premierminister brüllend ins Wort. Barnier, der erst vor drei Wochen ins Amt gekommene frühere EU-Kommissar, kann sich im Parlament auf keine eigene Mehrheit stützen. Seine aus Zentristen und Konservativen bestehende Regierung wird vom linken Lager kategorisch abgelehnt und ist deswegen vom Wohlwollen der rechten Opposition in Gestalt des Rassemblement national abhängig.
Mit Spannung war deswegen erwartet worden, wie sich Barnier in Fragen der Migration äussern würde, wo die Partei von Marine Le Pen einen harten Kurs fordert. Bei der Frage, ob die verheerenden Staatsfinanzen mit Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen saniert werden sollten, gingen wiederum schon die Vorstellungen der Regierungsparteien teilweise weit auseinander. Er sei sich der «Schwere des Moments bewusst», sagte der Premierminister, bevor er sein Vorbild Charles de Gaulle mit Durchhalteparolen zitierte.
Tatsächlich kündigte er bei der Einwanderung jedoch wenig Neues an. Seine Regierung werde daran arbeiten, Asylverfahren zu beschleunigen und Migranten ohne Bleiberecht konsequenter auszuschaffen. Auch sollen neue Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsländern der Migranten verhandelt werden. «Wir haben die Migration nicht mehr im Griff», sagte Barnier. Um dem Sicherheitsbedürfnis der Franzosen Rechnung zu tragen, soll es ausserdem mehr Polizeipräsenz im öffentlichen Raum geben.
Bei der Haushaltspolitik wurde der Premierminister ausführlicher. Die kolossalen Schulden, die das Land aufgetürmt habe, bezeichnete er als «das wahre Damoklesschwert», sie gefährdeten nicht zuletzt Frankreichs Stellung in der EU. Barniers erklärtes Ziel ist es, das Staatsdefizit, das im laufenden Jahr bei 6 Prozent der Wirtschaftsleistung liege, im kommenden Jahr auf 5 Prozent zu senken. Der europäische Grenzwert liegt eigentlich bei 3 Prozent. Das soll 2029 erreicht werden. Und zwar mit einem Sparkurs und mit höheren Steuern, aber nur für Vermögende und grosse Unternehmen.
Für Bürger, die mehr als 250 000 Euro verdienen, gibt es zusätzlich zur Einkommenssteuer schon heute eine Abgabe, die bei 3 bis 4 Prozent liegt. Sie soll nach den Plänen der Regierung künftig verdreifacht werden, auf 9 bis 12 Prozent. Das soll rund 3 Milliarden Euro in die Staatskasse spülen. Barnier sprach am Dienstag von einem «aussergewöhnlichen Beitrag für die reichsten Franzosen». Geplant ist zudem eine Steuer auf die sogenannten Übergewinne grosser Energiekonzerne, die von den gestiegenen Strompreisen profitiert haben, was dem Staat weitere 12 Milliarden Euro bringen soll. Den Unternehmen versprach Barnier, dass die höheren Steuern nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit bedrohen würden.
Lob von Le Pen
Frankreichs öffentliche Ausgaben liegen weit über denen seiner Nachbarländer. Barnier will hier Kürzungen vornehmen, er kündigte aber an, die Bereiche Gesundheit, Bildung und Soziales nicht anzutasten. Gleichzeitig will die Regierung eine für 2025 geplante Erhöhung des Mindestlohns um 2 Prozent auf Anfang November vorziehen – das ist auch im Interesse des Rassemblement national, das seinen Wählern eine Stärkung der Kaufkraft versprochen hat.
Le Pen lobte nach der Rede Barniers «Sinn für Höflichkeit» und seinen Respekt gegenüber allen Parteien im Parlament. Die Rechtspopulistin forderte aber zugleich mehr Lösungen bei der «Explosion der illegalen Einwanderung». An einem übereilten Sturz der Regierung hat Le Pen, die sich als Alternative zum Chaos präsentiert, kein Interesse. Anders die linke Opposition: Sie wird einen Misstrauensantrag gegen den Premierminister wohl schon in wenigen Tagen stellen.