Lateinamerika ist stabil in einer Welt zunehmender Krisen. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung als Lieferant von Energie, Lebensmitteln und Rohstoffen zu. Es bleiben jedoch politische Risiken.
Im vergangenen Jahr erlebte Lateinamerika eine Charmeoffensive aus Europa. Ständig waren europäische Staatsoberhäupter und Delegationen zu Besuch. Erstmals fand nach acht Jahren wieder ein EU-Lateinamerika-Gipfel statt, genauso wie die Deutsch-Brasilianischen Regierungskonsultationen. Mit Chile unterzeichnete die EU ein Freihandelsabkommen, mit Mexiko steht es kurz bevor. Schon lange nicht mehr haben sich die Regierungen in Europa so intensiv engagiert, um das Abkommen mit dem Mercosur abzuschliessen – bisher jedoch ohne Ergebnis.
Europa reagiert damit verzögert auf die gewachsene strategische Bedeutung Lateinamerikas – später als China und die USA, die schon lange ihre Beziehungen zu der Region intensivieren. Auch die wohlhabenden Nahoststaaten werden gerade zu wichtigen Investoren und Handelspartnern für Lateinamerika. Genauso wollen Indien und andere asiatische Staaten ihre Beziehungen ausbauen.
Lateinamerika produziert Lebensmittel, Energie und Rohstoffe
Ein Grund ist, dass Lateinamerika nicht nur grosse Mengen an Agrarprodukten, Energie und Metallen produziert, sondern davon auch Überschüsse erwirtschaftet. Denn es verbraucht selbst nur einen geringen Teil seiner Produktion. Zum Vergleich: Lateinamerika hat eine Fläche etwa so gross wie China und die USA zusammen. Doch dort lebt mit 650 Millionen Menschen nur rund ein Drittel der Bevölkerung der beiden Grossmächte.
Lateinamerika wird seine Vorrangstellung auf einzelnen Rohstoff- und Energiemärkten weltweit noch ausbauen: Schon jetzt hat es bei einzelnen Produkten eine führende Position. Fast die Hälfte der weltweiten Lithiumreserven befindet sich in Südamerika. Neben Chile und Argentinien bauen auch Brasilien, Mexiko und Ecuador die Produktion aus. Peru und Chile bedienen 40 Prozent der weltweiten Kupfernachfrage. 15 Prozent der globalen Öl- und Gasreserven liegen in der Region. Brasilien und Guyana sowie möglicherweise schon bald Argentinien steigern ihre Exporte massiv.
Lateinamerikas Farmer liefern knapp die Hälfte der auf dem Weltmarkt gehandelten Agrarprodukte für die Lebensmittelproduktion. Die Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion Lateinamerikas für die Sicherung der Ernährung wird mit wachsender Weltbevölkerung weiter zunehmen.
Lateinamerika ist weit entfernt von den Krisenherden der Welt
Doch es gibt auch einen anderen, neuen Grund für die gewachsene Attraktion Lateinamerikas: Die Region profitiert davon, stabil dazustehen in einer instabilen, kriselnden Welt. Zwar drohen auch in Lateinamerika neue Spannungen zwischen einzelnen Staaten. Doch die Region hat seit hundert Jahren keinen Krieg mehr erlebt. Zudem ist sie weit entfernt von den derzeitigen und potenziellen Konfliktherden in Europa, Nah- und Fernost.
Das macht Lateinamerika attraktiver für Unternehmen, die ihre Fertigungsketten in sicherere Regionen verlegen wollen. Die Stichworte sind Decoupling und Reshoring. Mexiko und Zentralamerika profitieren bereits jetzt von diesem Trend. Amerikanische Konzerne investieren nicht mehr in China, sondern errichten ihre neuen Fabriken näher an ihren Heimatmärkten.
Der Trend der Verlagerung der Fabriken nach Lateinamerika durch weltweite Konzerne steht erst am Anfang. Er dürfte noch zunehmen. Das liegt auch an der nachhaltigen Energiematrix des Kontinents: Nirgendwo sonst weltweit werden im Durchschnitt 60 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen – und die Nachhaltigkeit wächst weiter. 2023 erzeugte Brasilien 93 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energiequellen wie Wasser- und Windkraft, Solarenergie und Biomasse. Der Strom in Staaten wie Uruguay, Paraguay oder Costa Rica wird fast ausschliesslich nachhaltig gewonnen.
Für Industrieunternehmen, die ihre Emissionsbilanz verbessern wollen, ist das zusätzlich attraktiv bei einem Standortentscheid. Das Stichwort hier lautet Powershoring. Zumal Südamerika mit seinem grösstenteils nachhaltig gewonnenen Strom auch die besten Voraussetzungen dafür hat, bei der Produktion von grünem Wasserstoff weltweit an der Spitze mitzuspielen.
Die Wachstumsprognosen weichen stark voneinander ab
Das steigende Interesse an Lateinamerika könnte einen strukturellen Wachstumsschub in der Region auslösen. So sind die kurzfristigen Wachstumsaussichten für Lateinamerika stabil. Fast alle Ökonomien werden dieses Jahr wachsen, wenn auch auf niedrigerem Niveau als 2023. In Chile, Peru und Uruguay werde die Konjunktur im Vergleich zum Vorjahr anziehen, so die Prognose der Investmentbank JP Morgan. In Brasilien, Ecuador und Mexiko wird das Wachstumstempo gegenüber 2023 abnehmen.
Jedoch sind solche Prognosen mit Vorsicht zu geniessen: Denn die Vorhersagen für Lateinamerika gehen auseinander. So rechnet das Institute of International Finance in diesem Jahr mit einem Wachstum von 2,6 Prozent für Lateinamerika. Der Internationale Währungsfonds (IMF) erwartet, dass Lateinamerika nur 1,9 Prozent zulegen wird.
Im vergangenen Jahr hatten die meisten Investmentbanken das Wachstum für Brasilien etwa deutlich niedriger eingeschätzt, als es sich tatsächlich entwickelte: Statt zu stagnieren, wuchs Brasiliens Wirtschaftsleistung um 3 Prozent.
Positiv für Lateinamerikas Konjunkturaussichten ist, dass die Inflation in fast allen Staaten zurückgeht – bis auf die notorischen Ausnahmen Argentinien und Venezuela. Damit werden die Zinsen in den meisten Ländern sinken und die Investitionen tendenziell steigen.
Lateinamerikas Regierungen müssen die Chance nutzen
Die «Financial Times» beschrieb die historische Gelegenheit für Lateinamerika kürzlich so: «Lateinamerika hat seine beste Chance seit einer Generation. Die einzigartigen Vorteile der Region bieten eine aussergewöhnliche Chance – die Regierungen müssen sie jetzt nutzen.»
Die Experten von Latam Investor fassen die Vorteile des Kontinents im weltweiten Vergleich kurz und bündig so zusammen: Lateinamerika sei friedlicher als Osteuropa, weniger korrupt als Afrika und demokratischer als Asien.
Dennoch gibt es Risiken für die weitere Entwicklung. Derzeit sind das China, die überforderte Politik und die organisierte Kriminalität.
So ist China der wichtigste Absatzmarkt für Lateinamerikas Exporteure geworden und in vielen Staaten der grösste Investor. Die Wachstumsflaute in Fernost schlägt sich noch nicht in den Handelsbilanzen der Staaten nieder. Es könnten jedoch Ausfälle drohen. Ebenso bleibt abzuwarten, wie Chinas Investitionen sich entwickeln.
Unter einer Regierung Trump könnten zudem die USA versuchen, Lateinamerika und vor allem Mexiko und Zentralamerika unter Druck zu setzen. Etwa indem die künftige amerikanische Regierung Sanktionen für lateinamerikanische Staaten erlässt, die chinesische Investitionen erhalten oder einen Grossteil des Handels mit China abwickeln.
Schwache Regierungen erleben die Wut der Strassen
Zwar haben sich die Demokratien in der Region im vergangenen Wahlzyklus als widerstandsfähig erwiesen. Doch den gewählten Regierungen fällt es schwer, ihre Programme und damit den Wählerauftrag umzusetzen: Soziale Proteste, gespaltene, gelähmte Parlamente hemmen die Exekutiven in Chile, Peru, Kolumbien – und möglicherweise bald in Brasilien und Argentinien.
Dieses Jahr stehen unter den grossen Ökonomien des Doppelkontinents nur Wahlen in Mexiko im Juni an. Dort hofft die Wirtschaft, dass Claudia Sheinbaum, die wahrscheinliche Nachfolgerin des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, im Gegensatz zum Amtsinhaber eine investorenfreundlichere Politik umsetzen wird. Denn die Aussichten für Mexiko sind aus unternehmerischer Sicht gut.
Die autoritären Regime in Venezuela, Kuba und Nicaragua schneiden noch schlechter ab bei der Krisenbewältigung: Lateinamerika erlebt vor allem aus diesen Ländern eine historische Emigration.
Zusätzlich belastend ist die organisierte Kriminalität. Zunehmend fordern Drogenbanden die Staaten heraus. Es wird schwerer, ihre Macht einzudämmen. Die Kosten für die Gesellschaften steigen mit der wachsenden Unsicherheit. Obwohl nur rund 8 Prozent der Weltbevölkerung in Lateinamerika leben, findet dort ein Drittel der Morde weltweit statt.