Das Obergericht hat die Freiheitsstrafe für einen 29-jährigen deutschen Sozialhilfebezüger, der einen 20 Monate alten Knaben misshandelte und zu Tode schüttelte, auf 15 Jahre erhöht.
«Mir kommen fast die Tränen, wenn ich das höre», sagt der vorsitzende Oberrichter einmal während des Berufungsprozesses zu Vorwürfen in der Anklage. – «Mir geht es genauso», antwortet der 29-jährige Beschuldigte, der einen Freispruch beantragt hat.
Das Bezirksgericht Winterthur hatte den arbeitslosen Deutschen im September 2023 der vorsätzlichen Tötung, mehrfachen versuchten schweren Körperverletzung und weiterer Delikte schuldig befunden, weil er das 20 Monate alte Söhnchen seiner damaligen Lebenspartnerin im Mai und Juni 2021 misshandelt und zu Tode geschüttelt haben soll.
Er wurde in Winterthur zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren und 3 Monaten und 11 Jahren Landesverweis verurteilt. Der Staatsanwalt hatte 15 Jahre Freiheitsstrafe wegen eventualvorsätzlichen Mordes beantragt. Beide Parteien sind vor Obergericht in Berufung gegangen.
Verletzungen des Kindes selber dokumentiert
Der Beschuldigte sass über sieben Monate in Untersuchungshaft und befindet sich seit April 2022 in Freiheit. In der Anklage wird dem 29-Jährigen vorgeworfen, im Mai und Juni 2021 innerhalb von wenigen Wochen den Buben massiv misshandelt zu haben. Dies soll immer erfolgt sein, wenn er allein mit dem Kleinkind war und es hüten musste. Seine Partnerin war zu diesen Zeitpunkten oft im Winterthurer Stadtpark, um Drogen zu verkaufen.
Äusserliche Verletzungen des Buben dokumentierte der Beschuldigte selber. Entsprechende Fotos wurden auf seinem und dem Handy der Kindsmutter gefunden. Anfang Juni 2021 hatte das Kind in der Kita zu erbrechen begonnen. Es verweigerte aufgrund grosser Schmerzen plötzlich das Laufen und Krabbeln. In den darauffolgenden Tagen ging es ihm immer schlechter. Am 10. Juni erlitt es einen Krampfanfall mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand und wurde ins Spital gebracht. Am 12. Juni 2021 starb es an einem irreversiblen Funktionsausfall des Gehirns.
Dass beim Tod des Kindes Gewalt im Spiel sein könnte, wurde erst später durch rechtsmedizinische Abklärungen entdeckt, die unter anderem auch einen Bruch des achten Brustwirbelkörpers zutage förderten. Zweieinhalb Monate nach dem Tod des Buben wurden der Beschuldigte und die Kindsmutter in Untersuchungshaft genommen. Sie galten als gleich verdächtig. Die Mutter wurde nach drei Monaten entlassen. Die Untersuchung gegen sie ist noch immer sistiert. Das Bezirksgericht Winterthur hatte sie im erstinstanzlichen Urteil aber als mögliche Täterin ausgeschlossen.
Der beschuldigte Deutsche wohnt wieder bei seinen Eltern, wie er vor Obergericht erzählt. Er ist nicht der Vater des getöteten Kindes, hat aber zwei eigene Kinder mit zwei verschiedenen, von ihm getrennt lebenden anderen Frauen. Dort nehme er seine Besuchsrechte wahr. Auch heute hat er wieder eine neue Lebenspartnerin.
Er ist nicht berufstätig und lebt von der Sozialhilfe. Unterhaltsbeiträge an die Kinder könne er deshalb nicht bezahlen. Wie hoch seine Schulden sind, will er vor Publikum nicht sagen. Er kam im 12. Altersjahr mit seinen Eltern in die Schweiz, hat keinen Schulabschluss, eine abgebrochene Lehre und arbeitete bis zu seiner Verhaftung vor allem temporär auf dem Bau und konsumierte viel Marihuana.
Keine Erklärungen zu den Verletzungen
Mit Drogen habe er vollständig abgeschlossen, erzählt er. Bei der Befragung zur Sache bleibt er einsilbig wie vor der Vorinstanz. Die Verletzungen des Kindes könne er sich nicht erklären. Er sei nie gewalttätig gegen das Kind gewesen. Die Fotos habe er jeweils nur gemacht, um Verletzungen für den Kinderarzt zu dokumentieren.
Die Vorwürfe stimmten nicht, er habe keine Erklärung oder er könne sich nicht erinnern, sagt er immer wieder. Auf den drohenden Landesverweis angesprochen, meint er, das sehe er nicht ein. Wenn er das Land verlassen müsse, dann gehe er halt. Das sei aber «scheisse» für seine eigenen Kinder.
Sein Verteidiger plädiert auf einen Freispruch mit Ausnahme der Verurteilung wegen Betäubungsmitteldelikten. Dafür sei sein Mandant zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 30 Franken und einer Busse von 300 Franken zu verurteilen. Die übrigen Schuldsprüche seien inakzeptabel. Als Täterin komme ebenso seine Lebenspartnerin oder jemand in der Kita infrage. Die Aussagen der Kindsmutter seien nicht glaubhaft, würden unerklärliche Lücken und nicht auflösbare Widersprüche aufweisen.
Whatsapp-Nachrichten würden vielmehr darauf hindeuten, dass nicht der Beschuldigte, sondern die Mutter zum Zeitpunkt der Taten mit dem Kind alleine gewesen sei. Es handle sich um einen reinen Indizienprozess. Zusammenfassend könne dem Beschuldigten kein einziger Sachverhalt nachgewiesen werden. Dem begangenen Unrecht dürfe nicht dadurch begegnet werden, indem man eine unschuldige Person dafür verantwortlich mache und ihr Leben zerstöre.
Der Staatsanwalt akzeptiert die rechtliche Würdigung der vorsätzlichen Tötung, beantragt aber eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren und einen Landesverweis von 13 Jahren. Zudem verlangt er eine Verurteilung auch für eine einzelne Körperverletzung, für die es von der Vorinstanz einen Freispruch gegeben hatte. Das Kind sei dem Beschuldigten lästig gewesen, es habe ihn stark in seiner Beziehung zur Kindsmutter eingeschränkt, nennt er als Motiv.
Zusätzlich verlangt er, der Beschuldigte sei sofort nach Urteilseröffnung wegen Fluchtgefahr in Sicherheitshaft zu nehmen.
Strafe der Vorinstanz deutlich erhöht
Das Obergericht erhöht die Strafe der Vorinstanz deutlich auf 15 Jahre Freiheitsstrafe und die Dauer der obligatorischen Landesverweisung auf 13 Jahre. Es gibt zwei Freisprüche für eine einfache Körperverletzung und Tätlichkeiten bei einzelnen Anklagepunkten. Die Schuldsprüche auch für die restlichen Körperverletzungen und die Betäubungsmitteldelikte werden bestätigt. Die Kindsmutter erhält 75 000 Franken Genugtuung zugesprochen, der Kindsvater 55 000 Franken.
Laut der mündlichen Urteilsbegründung des Gerichtsvorsitzenden war der Bub einer Vielzahl von körperlichen Übergriffen ausgesetzt, die nicht die Folgen von unglücklichen Unfällen sein konnten, sondern das Resultat von Misshandlungen sein mussten. Das Kind sei über Wochen hinweg fast systematisch misshandelt worden. Als Täter seien nur der Beschuldigte oder die Kindsmutter infrage gekommen. Hinweise auf eine Dritttäterschaft im Umfeld der Kita gebe es nicht.
Der Richter widerspricht dem Verteidiger: Aus den Whatsapp-Nachrichten ergebe sich nichts, was auf die Täterschaft der Mutter hindeute. Die Aussagen der Kindsmutter seien glaubhaft, jene des Beschuldigten hingegen vage und sehr widersprüchlich. Auffallend sei zudem, dass er sich oft an dramatische Ereignisse, die eigentlich «prägend» sein müssten, nicht erinnern konnte.
Jeder einzelne Vorfall für sich könne zwar in Zweifel gezogen werden. Bei einer Gesamtbetrachtung ergebe sich aber ein klares Beweisbild dafür, dass der Beschuldigte «verantwortlich für das Martyrium des kleinen Buben war, das sich über Wochen hin fortsetzte».
Die Strafe der Vorinstanz sei insgesamt zu milde ausgefallen. Der Beschuldigte habe seine Taten an einem wehrlosen Kleinkind begangen, das ihm schutzlos ausgeliefert gewesen sei und eine lange Leidenszeit durchleben musste, bis es gestorben sei. Das Gericht nahm Eventualvorsatz und keinen direkten Vorsatz an. Zum Motiv habe man keine gesicherten Erkenntnisse, das Gericht gehe zugunsten des Beschuldigten davon aus, dass er überfordert war. Bis heute zeige er aber keine Reue.
Der Landesverweis sei zwingend. Weder sei ein schwerer persönlicher Härtefall ersichtlich, noch falle eine Interessenabwägung zugunsten des Beschuldigten aus. Den Antrag des Staatsanwalts auf Sicherheitshaft wies das Gericht aber ab. Es lägen keine konkreten Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr vor.
Urteil SB240054 vom 20. 3. 2025, noch nicht rechtskräftig.