Wer Japan jenseits der Weltausstellung bereist, erlebt die Schönheit des Makels: Samurai kämpfen gegen Müll, Keramik erstrahlt im Bruch. Zwei alte Künste zelebrieren das Unvollständige.
So etwas wie Müdigkeit scheinen Keisuke Naka und Ikki Goto nicht zu kennen. Seit neunzehn Jahren sorgen die beiden Samurai dafür, dass die Strassen der grössten Metropole der Welt sauber bleiben. Dabei ziehen sie alle Blicke auf sich: In edler Samurai-Kleidung und mit kunstvollen Sprüngen, die an die Kampfkunst der legendären aristokratischen Kriegerkaste erinnern, verwandeln sie ihre Arbeit in ein Spektakel. Und so sehen die Bewohner Tokios den Männern auch liebend gerne bei ihrer Arbeit zu, denn sie bieten eine Performance der ganz besonderen Art.
Erst umzingeln die beiden alle Arten von Unrat, den sie auf der Strasse finden, egal ob eine Dose oder ein Stück Papier. Dann vollführen sie, so scheint es, eine Art Freudensprung und umtanzen ihren Fund, bevor sie ihr «Schwert» zücken, das am Ende mit einer Zange ausgestattet ist. Es folgt eine elegante Drehung um die eigene Achse, bevor sie den Müll in ihrem Bambuskorb am Rücken verschwinden lassen. Origineller lässt sich dem Unrat wohl kaum der Kampf ansagen.
Bewegungen aus dem Schwertkampf
«Unsere Bewegungen stammen aus dem Schwertkampf, doch wir nutzen auch die Elemente des Karate», erklärt Ikki Goto, Gründer der Müll-Samurai, die hierzulande Gomihiroi-Samurai (Müll sammelnde Samurai) heissen. Sein Mitwirken bei vielen Samurai-Serien für das japanische Fernsehen kommt dem athletischen Mann jetzt zugute.
Die Idee für die spezielle Art des Müllsammelns kam dem 59-Jährigen in seinem Geburtsort Sapporo auf Hokkaido, der grössten der vier japanischen Hauptinseln. «Ich beobachtete eine Frau, die mit einem Stab Müll aufpickte. Im Morgenlicht und aus der Entfernung sah der Stab wie ein Schwert aus.» In diesem Moment wurde die Geschäftsidee der Gomihiroi-Samurai geboren.
Die beiden sind keine gewöhnlichen Müllsammler, sondern international anerkannte Künstler. Seit der Gründung ihrer Truppe im Jahr 2006 haben sie 800 000 Follower in den sozialen Netzwerken um sich versammelt, die meisten auf Tiktok. Ihr wichtigster Einsatzort ist das Ausgehviertel Ikebukuro.
Es ist ein Viertel der Gegensätze. Breite Strassen mit imposanten Hochhäusern und turmhohen Glasfassaden wechseln sich ab mit engen Gassen voller Bars und Restaurants. Grelle Neonlichter prägen das Bild ebenso wie traditionelle rote oder weisse Laternen.
Uralter Ehrenkodex
Besonders die Studierenden der nahe gelegenen Rikkyo-Universität haben das Viertel in den letzten Jahren in eine Partymeile verwandelt. Der Bahnhof von Ikebukuro gilt zudem als der drittgrösste von ganz Tokio, viele Pendler bleiben hier nach Büroschluss auf der Suche nach einem günstigen Abendessen oder einem schnellen Bier erst einmal in den lauten Tavernen hängen.
Im Grunde sind die Menschen in Tokio wohlerzogen. «Sie werfen vergleichsweise wenig Müll weg, auch weil dies unter Strafe steht», bemerkt Keisuke, der kleinere und jüngere der beiden Samurai. Doch das ändert sich, sobald die Leute sich unbeobachtet fühlen, wie etwa auf Parkplätzen, wo sich Gruppen zum Rauchen versammeln.
Entsprechend viele Zigarettenstummel liegen dort verstreut, für Keisuke kein Problem. Er fixiert die kleinen Umweltverschmutzer und lässt einen Stummel nach dem anderen zielsicher in seinem Korb verschwinden, ohne den Kopf zu drehen. «Diese Körbe kommen in Japan eigentlich nur bei der Tee- oder Obsternte zum Einsatz, wir aber verwenden sie, damit wir beide Hände frei haben», erklärt er.
Ihr Projekt, das von der Stadtverwaltung und Spenden finanziert wird, hat bereits Nachahmer gefunden. In Los Angeles etwa hält ebenfalls eine kleine Truppe von Samurai die Strassen sauber.
Obwohl die Ära der Samurai längst vergangen ist, prägt ihr Ehrenkodex mit Werten wie Tapferkeit, eiserner Disziplin und bedingungsloser Loyalität noch immer die japanische Kultur und Gesellschaft. Vorbild der beiden Öko-Samurai ist denn auch der legendäre japanische Ritter Saigo Takamori, der als «letzter echter Samurai» gilt. Seine Bronzestatue steht im Ueno-Park, der bekanntesten Grünanlage der Metropole.
Tomoya Nakagawara, der Manager der Müll-Samurai von Tokio, glaubt fest an den pädagogischen Wert der Initiative. «Unsere künstlerischen Auftritte sensibilisieren die Menschen. Viele haben uns gesagt, dass sie nicht mehr achtlos Müll wegwürfen, sondern ihn sogar selbst von der Strasse aufhöben. Das macht uns stolz auf unsere Arbeit.» Eine Arbeit, die wie eine stille Antwort wirkt auf die Wegwerfmentalität der heutigen, rastlosen Zeit.
Beim Flicken von gesprungenen Tassen mit der Kintsugi-Technik werden die Bruchstellen mit Gold gekittet. Die Verbindung wirkt oft stabiler als das Original.
Die Schönheit liegt in den Narben
Noch besser, als Müll aufzuheben, ist es, ihn erst gar nicht entstehen zu lassen. Dieser anspruchsvollen Kunst widmet sich Kintsugi, die japanische Tradition, zerbrochene Alltags- und Kunstgegenstände, seien sie aus Keramik oder Porzellan, zu reparieren. Daraus entstehen oft kleine Kunstwerke, die sich durch zarte Goldfäden auszeichnen, die an hervortretende Adern einer Hand oder eines Arms erinnern.
Die Bruchstelle, so die Philosophie, wird keinesfalls kaschiert, sondern mit einem natürlichen oder synthetischen Lack geklebt und mit Goldstaub betupft und so erst richtig hervorgehoben. Derart entsteht ein neuer Gegenstand mit einer eigenen Persönlichkeit, dessen Schönheit gerade im Makel liegt. Übersetzt bedeutet Kintsugi «goldenes Zusammensetzen».
Zu erlernen ist diese uralte japanische Technik in einer kleinen Werkstatt im Stadtteil Nihonbashi, der seinen Namen von der gleichnamigen Brücke erhalten hat. Unweit davon verläuft die Tokaido Road, eine alte Feudalstrasse, die im 19. Jahrhundert die Verbindung zwischen Tokio und Kyoto war. Viele Handwerksbetriebe und kleine Läden der Gegend bestehen bis heute.
Zum Kintsugi-Kurs finden sich drei Japanerinnen ein, sie haben mehrere Stunden reserviert. «Für Kintsugi braucht man viel Ruhe und Geduld, die Arbeit erfordert eine grosse Konzentration und Fingerfertigkeit», erklärt Fumiyo Yamada, Managerin der Mutoh Corporation im Herzen des traditionsreichen Viertels.
Die Technik geht auf die japanische Teekultur zurück. Dort schätzte man Porzellan seit je hoch ein, da es von Generation zu Generation vererbt wurde. So verlegte man sich frühzeitig darauf, Bruchstücke einfach wieder zusammenzufügen, wie Fumiyo erklärt. Der Legende nach wollte der japanischen Shogun Ashikaga Yoshimasa im 15. Jahrhundert auf seine geliebte, aber zerbrochene Teeschale nicht verzichten und übergab sie chinesischen Töpfern zur Reparatur. Diese verwendeten unschöne Metallklammern, was den Herrscher enttäuschte. Daraufhin wandte er sich an japanische Keramiker, die die goldenen Linien entwickelten – so entstand Kintsugi.
Die heutige Kintsugi-Werkstatt begann 1923 als kleiner Betrieb für Lackwaren. Fumiyo schwärmt: «Die Schönheit von Gegenständen liegt oftmals in ihrer Unvollkommenheit. Dadurch werden sie einzigartig und besonders.»
So sehen es auch die Kursteilnehmerinnen an diesem Nachmittag. Hingebungsvoll schleifen sie oftmals mehr als eine halbe Stunde nur eine einzige Bruchstelle glatt, bevor sie den Lack in minuziöser Kleinarbeit mit einem Wattestäbchen auftragen. Es herrscht absolute Stille.
Stiller Protest gegen die Wegwerfgesellschaft
Die Kintusgi-Frauen verkörpern genau das, was Japan-Besucher auf ihrer Reise nach und nach zu schätzen lernen: die Liebe seiner Bewohner zum sei es noch so unscheinbaren Detail, ihre Geduld, das Sich-selbst-Zurücknehmen und nicht zuletzt das feine und respektvolle Miteinander, sei es hier in der Werkstatt, auf der Strasse oder in der U-Bahn.
Eine der Teilnehmerinnen schafft es sogar, kleine Glasstücke in eine gebrochene Tasse einzufügen. Diese Technik, bei der ein fehlendes Porzellanstück durch die Scherbe eines anderen Materials ersetzt wird, heisst Yobitsugi, es ist sozusagen Kintsugi für Fortgeschrittene. Für die Japaner steht das neue Kunstwerk dem alten in nichts nach. Diese dem Zen-Buddhismus entsprungene Philosophie hat mit der europäischen Einstellung zu Scherben nichts zu tun. «Wir schätzen alte Dinge, die schon gebraucht und unvollkommen sind», erklärt Hijiri, die junge Helferin in der Werkstatt. Das Schaffen eines neuen Unikats, so sinniert Hijiri, sei ein stiller Protest gegen die heutige Wegwerfgesellschaft.
Gut zu wissen
Die Weltausstellung findet bis zum 13. Oktober 2025 in Osaka unter dem Motto «Designing Future Society For Our Lives» statt.
Unterkunft: Asakusa View Hotel, 3-17-1 Nishiasakusa, Taito-ku 111-Tokyo, mit schönem Blick auf den nachts beleuchteten und mehr als 600 Meter hohen Rundfunk- und Fernsehturm Tokyo Skytree, Doppelzimmer ab rund 200 Franken pro Nacht.
Kintsugi-Kurse buchbar etwa bei https://tnca.tokyo/kintsugi_trial.html oder https://otonami.jp/experiences/mutoh-2/, Preise pro Kurs ab 125 Franken.
Infos unter: https://www.japan.travel/de/de/
Diese Reportage wurde möglich dank der Unterstützung des Tokyo Convention & Visitors Bureau.