Der Direktor der Urologie soll einem seiner Mitarbeiter Qualifikationen attestiert haben, die dieser nicht hat. Der bisher öffentlich nicht bekannte Fall beschäftigt nun auch die Politik.
Das Zürcher Unispital ist eigentlich noch damit beschäftigt, die Probleme in der Herzklinik aufzuarbeiten, die der ehemalige Direktor Francesco Maisano hinterlassen hat. Doch mittendrin versetzt nun ein Fall in einer anderen Klinik die Spitalführung in Aufregung.
Es geht es um falsche Angaben eines Arztes zu Operationen, mit denen er einen prestigeträchtigen Titel erwerben wollte. Und um einen Chef, der den Fehler nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte. Im Zentrum stehen Daniel Eberli, Direktor der Klinik für Urologie, und einer seiner leitenden Ärzte.
Der bisher öffentlich nicht bekannte Vorfall hat im Hintergrund für viel Wirbel gesorgt. Spitzenärzte werfen dem Klinikdirektor und dem leitenden Arzt Arglist vor und sprechen von einem Glaubwürdigkeitsverlust für ihren Berufsstand. Inzwischen haben sich auch das Zürcher Kantonsparlament und die Führung des Unispitals in die Sache eingeschaltet. Die beiden Ärzte sind in den letzten Wochen immer stärker unter Druck geraten.
Über allem schwebt die Frage: Geht es hier nur um einen Fall von Nachlässigkeit oder um bewusste Täuschung?
Über 30 Urologen intervenieren
Wer als Urologe in der Schweiz Karriere machen will, kommt nicht darum herum, die Prüfung «Schwerpunkt operative Urologie» abzulegen. Denn wer den Titel innehat, beweist damit, dass er auch die schwierigsten Eingriffe in seiner Disziplin beherrscht.
Eigentlich ist klar geregelt, welche Voraussetzungen ein Arzt erfüllen muss, um den Titel «Operative Urologie» zu verdienen. Das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung führt die Vorgaben auf einem vierseitigen Dokument im Detail aus. Zentral ist darin der «Operationskatalog». Wer den Titel will, muss zum Beispiel mindestens 20 Mal eine Niere operativ entfernt haben, 10 Mal eine Harnblase, 40 Mal eine Prostata. Der Arzt muss den Eingriff selbst durchführen, bei der Operation bloss zu assistieren, reicht nicht.
Wer alle Auflagen erfüllt, kann die Prüfung absolvieren. Dabei muss man eine dieser Operationen vor einem Fachgremium durchführen und ausserdem mündliche Fragen der Experten beantworten. Die Prüfung bestehen in der Regel alle, denn zugelassen wird nur, wer sein Handwerk bereits beherrscht.
Der leitende Arzt des Zürcher Unispitals gab bei seiner Anmeldung an, dass er die nötigen Vorgaben erfülle. Mit seiner Bewerbung wurde er auch bei seinem direkten Vorgesetzten, Daniel Eberli, vorstellig. Eberli unterschrieb seinem Mitarbeiter die Unterlagen.
Die Prüfungsanmeldung des Zürcher Arztes spricht sich herum. Denn die Welt der Spitzenurologen in der Schweiz ist klein: Man hat zusammen studiert, kennt sich von Kongressen, konkurriert um Stellen. Einige der Kollegen kommen bald zum Schluss, dass mit der Anmeldung etwas nicht stimmen kann. Der Titelanwärter sei doch gar nicht ausreichend qualifiziert.
Whistleblower intervenieren bei der Prüfungskommission von Swiss Urology, der Fachgesellschaft der Urologen. Und die Sache zieht rasch weitere Kreise. 31 Kaderurologen aus der ganzen Deutschschweiz unterschreiben einen Brief, den sie am 27. Februar an den Vorstand und die Mitglieder von Swiss Urology senden. Ihre Vorwürfe wiegen schwer: Es gebe Hinweise darauf, dass ein Prüfungsteilnehmer aus dem Unispital Zürich mit Unterstützung seines Vorgesetzten zur Prüfung zugelassen werden soll, obwohl er die Vorgaben nicht erfülle.
Die Kritiker halten fest, es gebe Hinweise darauf, dass der eingereichte Operationskatalog Zahlen enthalte, die möglicherweise nicht der Realität entsprächen. Sollte sich dies bestätigen, «wäre dies äusserst besorgniserregend, da dies das Vertrauen in die Integrität des Prüfungsverfahrens und die Glaubwürdigkeit unserer Fachgesellschaft beeinträchtigen könnte», schreiben die Ärzte in ihrem Brief.
Der Ton wird rauer
Swiss Urology reagiert mit einer schnellen Stellungnahme und antwortet dann einen Monat später ausführlich. Die Fachgesellschaft habe unmittelbar nach dem Eingang der Hinweise eine Untersuchung gestartet. Diese habe ergeben, dass der leitende Arzt die Voraussetzungen tatsächlich nicht erfülle und für die Zulassung zur Prüfung nicht qualifiziert sei.
Der Vorstand habe Massnahmen ergriffen: Die zunächst sistierte Prüfung des Anwärters wurde definitiv annulliert. Der Klinikdirektor Eberli und der leitende Arzt seien vom Vorstand gerügt worden. Der Klinikdirektor habe seine Sorgfaltspflicht nicht wahrgenommen. Zudem sei die Prüfungskommission angewiesen worden, bei Prüfungsanmeldungen in Zukunft vermehrt Stichproben vorzunehmen, insbesondere auch für Anmeldungen aus dem Zürcher Unispital.
Die Fachgesellschaft wiegelt zugleich ab: Der Fall habe gezeigt, dass Fehlverhalten aufgedeckt werde. Zudem sei kein Schaden entstanden, denn der Kandidat habe die Prüfung am Ende gar nicht absolviert. Beim Klinikdirektor und dem leitenden Arzt liege auch kein strafrechtlich relevantes Verhalten vor.
Die Sache ist damit allerdings nicht ausgestanden. Der Streit geht weiter, der Ton wird rauer. Die Kritiker monieren, die Fachgesellschaft versuche, die Angelegenheit zu bagatellisieren. In einem zweiten Brief schreiben sie, der Fall beweise keineswegs, dass das Prüfungssystem funktioniere, schliesslich sei es «ausschliesslich der Intervention von Whistleblowern zu verdanken», dass die bereits geplante Prüfung abgesagt wurde.
Ob ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliege, werde von Juristen zwar unterschiedlich beurteilt. Trotzdem sei es augenfällig, schreiben die Kritiker in ihrem Brief, dass der leitende Arzt und der Klinikdirektor versucht hätten, die Fachgesellschaft zu täuschen, «und entschlossen waren, mittels frei erfundener Qualifikationen» den Schwerpunkttitel zu erlangen. Es brauche deshalb eine unabhängige Untersuchung des Falls.
Eberli tritt aus dem Vorstand zurück
Die Kritiker warfen damit zwei wichtige Fragen auf:
Hat die Fachgesellschaft die nötige Distanz, um den Fall zu untersuchen? Der Klinikdirektor Eberli ist laut Aussagen von Swiss Urology zwar in den Ausstand getreten, gleichwohl war er aber Vorstandsmitglied des Verbands.
Und kann es sein, dass dem Klinikdirektor der Fehler nur aus Nachlässigkeit unterlaufen ist? Müsste der Chef nicht wissen, ob einer seiner drei leitenden Ärzte die nötigen Qualifikationen für die Prüfung mitbringt – zumal ja selbst den Whistleblowern bekannt war, dass der Mann die Anforderungen nicht erfüllte?
Um diese Frage beurteilen zu können, ist zentral, wie deutlich der leitende Arzt die Vorgaben verfehlte. Der NZZ liegen dazu keine Zahlen vor. Mehrere unabhängige Quellen sagen aber, dass er die Anforderungen in mehreren Kategorien bei weitem nicht erreicht habe. Auch die Fachgesellschaft schreibt auf Anfrage von «deutlichen Fehlern» im eingereichten Operationskatalog.
Sicher ist: Eberli gerät immer stärker in Bedrängnis. Inzwischen beschäftigt sich sogar das Zürcher Kantonsparlament mit dem Fall. Dessen Aufsichtskommission für Bildung und Gesundheit schaltete sich ein, schliesslich gehört das Unispital dem Kanton. Vor einer Woche mussten der Spitalratspräsident André Zemp und der ärztliche Direktor Malcolm Kohler vor der Kommission antraben.
Einen Tag später, am 9. Mai, verfasste Eberli ein Schreiben. In diesem gab er seinen Rücktritt aus dem Vorstand von Swiss Urology bekannt. «Mit Bedauern muss ich feststellen, dass das Vertrauen in mich nicht mehr gegeben ist.» Im Interesse des Verbands habe er sich deshalb entschieden, sein Amt als Sekretär mit sofortiger Wirkung niederzulegen.
Gleichzeitig versuchte er im Schreiben auch, seinen Fehler zu relativieren. Er habe zu keinem Zeitpunkt jemanden dabei unterstützen wollen, sich unrechtmässig für eine Prüfung anzumelden. Für die fehlende Kontrolle der Unterlagen habe er sich in aller Form entschuldigt. Den leitenden Arzt nennt er einen «ausgezeichnet ausgebildeten Urologen mit viel Erfahrung». In anderen Fällen sei es auch schon vorgekommen, dass Titelanwärter gewisse Defizite durch eine besonders breite Erfahrung hätten kompensieren können.
Spital-CEO: «Wir werden die nötigen Konsequenzen ziehen»
Dem Klinikdirektor und dem leitenden Arzt droht nun allerdings auch vom Unispital Ungemach. Die CEO Monika Jänicke hat sich der Angelegenheit persönlich angenommen und nimmt auch in einem Gespräch mit der NZZ Stellung zu den Vorwürfen. Darin wird sie deutlich: «Das ist ein Verhalten, das nicht zu den Werten des Unispitals passt und das wir hier so nicht haben wollen.» Jänicke sagt aber auch, dass sie den Fall noch nicht abschliessend beurteilen könne. Zuerst brauche es eine lückenlose Aufklärung. Und diese sei im Gange.
Das Spital hat die Anwaltskanzlei Nater Dallafior beauftragt, allen Vorwürfen nachzugehen. Und selbstverständlich werde sie auch den Klinikdirektor und den leitenden Arzt anhören, sagt Jänicke. «Sobald alle Fakten auf dem Tisch liegen, werden wir die nötigen Konsequenzen ziehen.» Man werde sehen, welche personalrechtlichen Schritte nötig seien und welche Lehren aus den Vorfällen gezogen werden könnten.
Laut Jänicke geht es um die Glaubwürdigkeit des Unispitals, um Werte wie Ehrlichkeit, Respekt und Transparenz. Diese seien ihr enorm wichtig, darum nehme sie die Angelegenheit auch so ernst.
Der Klinikdirektor Daniel Eberli beantwortet die Fragen der NZZ schriftlich. Zu den Details äussert er sich nicht, sagt aber: Er sei bereit, sämtliche Konsequenzen zu tragen, und arbeite eng mit dem Spital und der Fachgesellschaft zusammen, um die Sache aufzuarbeiten. Am Donnerstag hat Eberli der Spital-CEO Jänicke dann angeboten, sich für die Dauer der Abklärung beurlauben zu lassen. Jänicke sagt dazu auf Anfrage, sie begrüsse dies sehr. Das beweise, wie sehr der Klinikdirektor daran interessiert sei, dass nun alles aufgeklärt werde.
«Rückblickend», schreibt Eberli in seiner Stellungnahme an die NZZ, «würde ich vieles anders machen, und ich übernehme die volle Verantwortung.»
Was dies für ihn und den leitenden Arzt bedeutet, wird sich in einigen Wochen zeigen, wenn die externe Kanzlei der Spitalspitze die Ergebnisse ihrer Untersuchung präsentiert.