Ärzte und Pflegende ächzen, weil sie jeden Tag stundenlang Daten sammeln müssen. Und doch ist unser Gesundheitswesen im permanenten Blindflug. Wie geht das zusammen?
Diese verfluchte Bürokratie! Wer mit Menschen spricht, die im Gesundheitswesen tätig sind, kommt bald auf dieses Thema. Das Pflegepersonal enerviert sich darüber, dass es jeden WC-Gang notieren muss. Die Ärzteschaft beklagt sich über die Papierflut, die kaum mehr zu bewältigen sei. An den Spitälern wenden die Mediziner laut einer Umfrage pro Tag rund zwei Stunden auf, um den Papierkram zu erledigen. Zeit für die Behandlung von Patienten fehlt.
Immerhin, so müsste man meinen, führt diese Arbeit dazu, dass immer mehr Informationen über das Schweizer Gesundheitssystem verfügbar sind. Zusammen mit den Informationen, die viele Menschen über sich selber sammeln – Schritte, Schlafphasen oder Blutdruckwerte – und den Abrechnungsdaten der Krankenkassen ist ein Datenberg entstanden, der wächst und wächst. Diese Informationen könnte man nutzen, um teure Leerläufe bei der Behandlung von Krankheiten ausfindig zu machen. Oder um zu erforschen, welche Bevölkerungsschichten welchen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind.
Doch das passiert nicht. Das Gesundheitswesen ist weitgehend im Blindflug. Ein OECD-Bericht hielt nüchtern fest, die Schweiz könne keine wissensbasierte Politik betreiben, wenn sie nicht genug ins Sammeln von Informationen investiere. Das war 2011. Verbessert hat sich die Situation in den 12 Jahren seither kaum. Was also läuft schief?
Daten ohne Nutzen
Das Problem beginnt schon am Patientenbett. Ein Grossteil der Informationen, welche die Ärzte und Pflegenden mit grossem Aufwand sammeln, ist überflüssig. Die Präsidentin der Ärztevereinigung FMH, Yvonne Gilli, beobachtet etwa, dass es in vielen Spitälern zu einer wiederholten Erfassung von Administrativdaten kommt. Zudem gebe es nicht vollständig digitalisierte Meldeformulare. «Im schlimmsten Fall müssen sie ausgedruckt und von Hand ausgefüllt werden, um nachher wieder eingescannt und digital verschickt zu werden.»
Auch Thomas Straubhaar, bis vor kurzem Präsident des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ), sagt: «Gerade in Zeiten mangelnder Fachkräfte können wir es uns schlichtweg nicht mehr leisten, mit viel Aufwand Daten zu generieren, die kaum oder nicht ausgewertet werden – und dadurch keinen Nutzen haben.»
Die verspätete Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens rächt sich. Noch immer gibt es kein funktionierendes elektronisches Patientendossier. Viele Praxisärzte halten ihre Notizen weiterhin auf Papier fest. Die Spitäler haben zwar elektronische Datenverarbeitungssysteme. Doch nationale Vorgaben für die Formate gibt es nicht, weshalb diese oftmals nicht kompatibel sind.
Wenn also die Pflegefachfrau im Spital Daten zu einem Patienten erfasst, kann der Kollege im Pflegeheim oder die Apothekerin später kaum etwas damit anfangen. Das ist nicht nur für die medizinischen Fachleute zeitraubend und mühsam für die Patienten, die die gleichen Fragen mehrfach beantworten oder die gleichen Untersuchungen wiederholt über sich ergehen lassen müssen. Sondern es stellt auch die Wissenschaft vor grosse Hindernisse.
Warum sind Romands teurer?
Marcel Zwahlen ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin an der Universität Bern. Er zählt eine Reihe von denkbaren Forschungsprojekten auf, die sich derzeit kaum umsetzen lassen. So ist ungeklärt, warum in den letzten Lebensmonaten die Ausgaben der Krankenkassen und der öffentlichen Hand in der Romandie höher sind als in der Deutschschweiz.
Fachleute vermuten, dass man die Patientinnen und Patienten in den welschen Kantonen länger und wiederholt im Spital behandelt, bevor sie in ein Pflegeheim gehen. Das wäre für die Allgemeinheit zwar teurer, finanziell für die Patienten aber von Vorteil, weil sie im Pflegeheim einen grösseren Anteil der Kosten selbst schultern müssten. «Doch ob diese These stimmt, können wir heute nicht überprüfen, weil uns die Daten zur gleichen Person über ganze medizinische Versorgungsketten hinweg fehlen», sagt Zwahlen.
Auch das nationale Forschungsprojekt (NFP) 74 «Gesundheitsversorgung», das Zwahlen mitverantwortet hat, kommt zu einem vernichtenden Schluss: «Aufgrund des fragmentierten Gesundheitssystems in der Schweiz gibt es keine zentrale Übersicht über die vielen bestehenden Datenbanken, welche Art von Informationen sie enthalten und ob die Daten über Datensilos hinweg interoperabel sind.» Rechtliche Hürden sorgten zusätzlich dafür, dass das «immense Potenzial, das Realweltdaten für die Gesundheitsforschung haben, nur sehr begrenzt genutzt werden» könne.
Die Wissenschafter fordern deshalb, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz eine Identifikationsnummer erhalten. Dank dieser liessen sich die Behandlungen aller medizinischen Dienstleister einer bestimmten Person zuordnen, ohne dass deren Identität bekanntwürde. Das könnte die Behandlungspfade für wissenschaftliche Auswertungen leichter nachvollziehbar machen.
Der Wert der Krankenkassendaten
Denkbar wäre es auch, Krankenkassendaten auszuwerten. Doch an diese heranzukommen, sei für die Forscher ein Albtraum, sagt Marcel Zwahlen. Von diesem Problem war eines der Projekte des NFP 74 direkt betroffen. Das Tessin experimentiert seit einigen Jahren mit Behandlungen von psychisch Kranken daheim statt in einer Klinik. Ein Forscherteam wollte herausfinden, ob das günstiger und effektiver ist. Obwohl die Patienten schriftlich ihr Einverständnis dafür gaben, hätten die Versicherer nur sehr widerwillig die Kosten- und Behandlungsdaten geliefert, berichtet Zwahlen. «Bis ein paar Kassen doch noch dazu bereit waren, mussten meine Kollegen einen enormen Aufwand betreiben.»
Der Epidemiologe ist deshalb der Meinung, es müsse für die Krankenkassen künftig Pflicht sein, der Forschung die Daten zur Verfügung zu stellen. «Weil wir ein Versicherungsobligatorium haben, gehören diese Daten irgendwie auch der Allgemeinheit.»
Matthias Müller vom Krankenkassenverband Santésuisse weist darauf hin, dass das Gesetz den Versicherern sehr enge Grenzen setze, was die Datenbearbeitung und Weitergabe betreffe. Tatsächlich sei es für die Versicherten wichtig, dass die heiklen Daten akkurat behandelt würden. Doch Müller sagt auch: «Wir verstehen und unterstützen das Anliegen der Wissenschaft eines Zugangs zu Gesundheitsdaten.» Deshalb sei Santésuisse offen für eine Lockerung der Bestimmungen. Der Verband habe die Gesetzesänderung begrüsst, dank der das Bundesamt für Gesundheit seit kurzem Daten der Versicherer zu Forschungszwecken herausgeben darf.
Allerdings haben auch die Abrechnungsdaten der Krankenkassen Grenzen. So sagen sie wenig aus über den Erfolg oder Misserfolg einer Therapie. Wer ein komplettes Bild haben will, braucht deshalb – je nach Fragestellung – verschiedene Datenquellen.
Pharmaindustrie macht Druck
Wie schlecht es um die Datenlage im Schweizer Gesundheitswesen steht, zeigte kürzlich ein Bericht des Gesundheitsobservatoriums zur ambulanten ärztlichen Versorgung. Einen Mehrwert hätte die Studie dann bieten können, wenn sie aufgezeigt hätte, in welchen Gegenden es von welcher ärztlichen Disziplin zu wenige oder zu viele Vertreter gibt. Doch wie die Autoren einräumen, konnten sie gar keine Aussagen zur realen Unter- oder Überversorgung machen, weil ihnen dazu wichtige Informationen fehlten.
Unzufrieden ist auch die forschende Pharmaindustrie. Deren Verband Interpharma hat im letzten Herbst ein neues Gesetz gefordert, das regeln soll, wofür die in der Schweiz anfallenden Gesundheitsdaten genutzt werden dürfen und wer Zugang zu diesen erhalten soll. Parallel versucht das Parlament, den Bundesrat zu mehr Tempo in der Digitalisierung anzutreiben – mit mässigem Erfolg.
Bereits im Sommer 2016 nahmen die beiden Räte einen Vorstoss von der Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel an, die eine bessere Nutzung der Daten verlangte. Es verstrichen nicht weniger als sechs Jahre, bis der Bundesrat im Mai 2022 den entsprechenden Bericht vorlegte. Darin räumte die Regierung ein, dass es auf mehreren Ebenen Probleme gebe, so bei den Standards für die Datenspeicherung oder den Zugang der Forschung zu den Daten. Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen würden die Weiterverwendung und insbesondere die Verknüpfung von Gesundheitsdaten «sehr anspruchsvoll gestalten oder sogar verunmöglichen».
Aber der Bundesrat gelobt Besserung: Das Departement von Gesundheitsminister Alain Berset soll eine Nationale Datenkoordinationsstelle aufbauen und sich auch um die Schaffung eines personenbezogenen Identifikators kümmern – ganz im Sinne von Forschern wie Marcel Zwahlen. Irgendwann werden sie den Datenschatz vielleicht tatsächlich nutzen können.