Bund und Kantone wollen Polizeidaten effizienter austauschen – und kassieren vom eidgenössischen Datenschutzbeauftragten Adrian Lobsiger harsche Kritik: «Mich ärgert diese rechtsstaatliche Ignoranz.»
Sie sind der Datenschutzbeauftragte des Bundes und waren zuvor der stellvertretende Direktor des Bundesamtes für Polizei. Die Polizeikorps beklagen, der Datenaustausch zwischen den Kantonen funktioniere schlechter als der Austausch mit den EU-Ländern. Wie sehen Sie das?
Es war ein bewusster Entscheid, dass Daten zu Bagatelldelikten und leichteren Störungen, welche die Polizei im Kontakt mit der lokalen Bevölkerung bearbeitet, nicht schweizweit über direkte Datenbankzugriffe zugänglich sein sollen. Dafür gibt es die Amtshilfe: Ein Polizeikorps muss begründen, weshalb es Daten über eine Person benötigt, die beispielsweise illegal Abfall entsorgt hat.
In einem neuen Bericht der Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren (KKJPD) heisst es, bei der Bekämpfung von Terrorismus oder Schwerstkriminalität seien die Prozesse so schwerfällig und langsam, dass «erhebliche Sicherheitsprobleme» damit verbunden seien. Ist da eine vollständige nationale Polizeidatenbank nicht der einzig richtige Weg?
Der Bericht ist leider mager und ohne treffende Fallbeispiele. Schwerstkriminelle und gefährliche Personen können national und EU-weit ausgeschrieben werden. Online zugänglich gemacht werden in diesem schwerstkriminellen Kontext auch Daten über gesuchte Sachen oder Tatortspuren wie Fingerabdrücke. Aber auch die vorhandenen Hilfsmittel im Bereich der lokalen und regionalen Alltagsdelinquenz finden im Bericht nur knappe Erwähnung. So der nationale Polizeiindex, in welchem jedes Polizeikorps von Bund und Kantonen innert Sekunden erfahren kann, ob die anderen Korps über eine bestimmte Person Daten bearbeiten. Ich weiss deshalb nicht, was die KKJPD mit ihrer Klage meint.
Also haben die Kantonspolizeien Ihrer Ansicht nach genügend Zugriff auf Daten anderer Kantone?
Ich masse mir nicht an, die Herausforderungen des heutigen Polizeialltags zu überblicken. Dafür bin ich zu lange nicht mehr in dieser Branche. Aber ich verstehe das schweizerische Polizeisystem. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) stellt zahlreiche polizeiliche Informationssysteme zur Verfügung. Über diese erfassen und verbreiten die kantonalen Korps Daten. Es handelt sich um Daten zur Verfolgung und Aufklärung schwerer Straftaten und zur Fahndung nach Personen und Sachen. Über das Schengener Informationssystem können die Korps Fahndungsdaten auch mit den Partnerbehörden der EU teilen. Das lässt der Bericht der KKJPD unerwähnt.
Aber weshalb haben die EU-Länder Zugriff auf weitere Daten?
Das ist nicht so. Es wird aufgrund der Schwere, Häufigkeit und Relevanz von Ereignissen differenziert, ob es einen direkten Zugriff auf Datenbanken benötigt oder ob ein begründetes Amtshilfegesuch erforderlich ist. Das gilt sowohl national als auch bei der Zusammenarbeit mit Polizeistellen der EU.
Weshalb sollen Kleinstdelikte wie das illegale Entsorgen von Abfällen oder Nachbarschaftsstörungen nicht zentral gespeichert werden?
Weil geringfügige Friedensstörungen von lokalen, mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten Polizistinnen und Polizisten geregelt werden sollen. Ich wüsste nicht, weshalb die Urner Polizei bei einer Verkehrskontrolle sehen muss, dass Sie in Lausanne illegal Abfall entsorgt haben. Das widerspräche doch dem gesunden Menschenverstand, auf dem auch der Föderalismus und die verfassungsmässig verankerte kantonale Polizeihoheit beruhen. Wenn alle Polizeikorps alle Bürgerdaten in einem vernetzten Einheitssystem bearbeiteten, würde die kantonale Polizeihoheit noch auf dem Papier existieren.
Was ist aus Ihrer Sicht zu tun, um die Digitalisierung dennoch voranzutreiben?
Meines Erachtens braucht es vorerst keine weitere Zentralisierung oder Verknüpfung von Polizeidatenbanken. Vordringlicher wäre, die Amtshilfe zu digitalisieren. So dass Amtshilfegesuche online eingegeben, typisiert begründet und in Standardsituationen automatisiert genehmigt werden können. So liessen sich die gewünschten Informationen zwischen den Korps rasch freischalten, falls dies im konkreten Fall wirklich erforderlich ist.
Aber halten Sie damit den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden nicht Informationen vor, die diese für Ihre Arbeit benötigen?
Nein. Ich erlebe es in meiner Praxis zur Genüge, wie bei digitalen Projekten vor lauter technokratischer Umtriebigkeit Prinzipien wie die Gewaltenteilung oder der Föderalismus als alter Zopf betrachtet werden. Mich ärgert diese rechtsstaatliche Ignoranz. Statt den föderalistischen Rechtsstaat zu digitalisieren, werden einfallslos Daten zentralisiert. Nur, weil es technisch machbar und bequem erscheint, alle Daten in einen Topf zu werfen. Unsere Staatsidee darf doch nicht einem zentralen Datensilo geopfert werden! Das sind Rezepte autoritärer Regenten. Bedauerlich, wenn sich auch die Spitzen von Bundesämtern und Polizeikorps von solch plumpen Konzepten und ihren englischen Begrifflichkeiten blenden lassen.
Seit Jahren kritisieren Sie, dass auch die Tätigkeiten des Fedpol und des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) rechtlich schlecht abgestützt sind. Was meinen Sie damit?
Die Datenbearbeitung durch das Fedpol und das BAZG leidet an einem historisch bedingten Wildwuchs von Spezialgesetzen und Spezialbestimmungen, deren Zahl ständig weiter anwächst. Ich fürchte, dass selbst die spezialisierten Rechtsdienste dieser Ämter Mühe haben, den Überblick zu behalten. Von den Polizistinnen und Polizisten im Vollzugsalltag und der von deren Datenbearbeitung betroffenen Bevölkerung ganz zu schweigen.
Und welche Folgen hat es, wenn vor lauter Zersplitterung der gesetzlichen Grundlagen niemand mehr den Überblick hat?
Ich muss Bundesämter in unzähligen Projekten zurückpfeifen, wenn sie angesichts der chaotischen Rechtslage unter Anrufung der Leerformel der Digitalisierung allerlei technisch Machbares ohne gute Begründung vorantreiben. Die Bundesverwaltung ist dafür aber nicht allein verantwortlich. Das Parlament müsste das Polizeirecht des Bundes bürgerfreundlich ausgestalten. Ich befürchte allerdings, dass dies erst passiert, wenn der nächste Polizeiskandal bekannt wird.
Sie sehen eine Neuauflage des Fichenstaates auf die Schweiz zukommen?
Ja, die Rechtslage ist auf Stufe des Bundes unzumutbar komplex und unübersichtlich geworden. Ich versuche, mit meiner Aufsichtstätigkeit dagegenzuhalten. Und ich hoffe, dass meine wiederholten Warnungen nicht eintreffen, bevor die Politik handelt.
Was muss die Politik tun?
Der Bund sollte wie jeder Kanton ein Polizeigesetz haben, das für die Bürgerinnen und Bürger verständlich ist.
Ist es nicht so, dass übertriebener Datenschutz in der Vergangenheit sowohl im In- als auch im Ausland dazu geführt hat, dass man Gefährder nicht rechtzeitig bremsen konnte?
Es ist unbestreitbar, dass einer von sehr vielen Garderobendieben, Ruhestörern und Verkehrssündern eines Tages zum Terroristen werden kann. Es widerspricht aber jeder Verhältnismässigkeit, Daten über Bagatelltäter und Ruhestörer auf Vorrat zentralstaatlich zu bearbeiten. All diese Menschen unter nationale Generalbeobachtung zu stellen, bindet knappe Polizeiressourcen, die für die Terrorbekämpfung zielführender eingesetzt werden können. Mich irritiert die Vorstellung einer zentralen Cloud, in der alle Abweichungen und Störungen erfasst sind. Ich lehne einen solchen Massenspeicher ab, aus dem sich alle Polizeien, Grenzwachtbehörden und Nachrichtendienste zum Wohle aller scheinbar «Anständigen» bedienen, die meinen, nichts zu verbergen zu haben. Und übrigens tragen diesbezüglich die Medien eine Mitverantwortung
Inwiefern?
Ich halte wenig davon, wenn Journalistinnen und Journalisten nach jedem schwerstkriminellen Anschlag nach dem Vorleben der Täterschaft forschen, um dort auf ein polizeilich bekanntes Bagatelldelikt zu stossen und dann nach Rücktritten bei den Sicherheitsbehörden zu rufen. Solche Kampagnen übersehen meiner Meinung nach, dass das verfassungsmässige Grundrecht auf ein privates und selbstbestimmtes Leben höher zu gewichten ist als das öffentliche Interesse an absoluter Sicherheit.