Obschon es immer mehr Gutausgebildete gibt, müsste der Bildungsstand besser sein. Der Ökonom bemängelt, dass wir es gar nicht besser wissen wollen – und warnt vor den Konsequenzen.
Stefan Wolter, durchlebt die Schweiz gerade eine der grössten Bildungskrisen?
Das kann man so nicht sagen. Was aber stimmt: Die Schweiz konnte zwar in der letzten Pisa-Studie sogar Ränge gewinnen, aber nur deswegen, weil die anderen Länder noch schlechter wurden. Beim hochgelobten Finnland sieht man das besonders drastisch. Beim Pisa-Test für Erwachsene (PIAAC) sieht es auch nicht viel besser aus. Wir sind zwar besser als der OECD-Durchschnitt, müssten angesichts des Bildungsstandes der erwachsenen Bevölkerung jedoch deutlich besser sein.
Was sind die Gründe dafür?
Bei Pisa fragt sich das die ganze Welt. Wir wissen es nicht. Den einen entscheidenden Grund scheint es nicht zu geben. Man sagt beispielsweise, dass es an der Digitalisierung liegen müsse. Das ist schwer möglich, sind wir doch so «gut» wie bei der ersten Messung im Jahr 2000 – und damals gab es keine Digitalisierung. Covid kann es bei uns auch nicht sein, wie wir dank Untersuchungen wissen – allerdings bei anderen Ländern schon, weil sie die Schulen viel länger als die Schweiz geschlossen hielten.
Irgendwelche Befunde muss es für die Schweiz doch geben.
Nein, wir sind im Blindflug, was schlimm ist, weil wir zwingend besser abschneiden müssten.
Warum ist das klar?
Aus zwei Gründen. Erstens: Wir investieren so viel Geld in die Bildung wie nie zuvor. Trotz steigenden Schülerzahlen sind die Klassen nicht grösser geworden, dafür das Hilfsangebot. Es wird also viel gemacht. Zweitens – und das gilt besonders für die Erwachsenen: Deren Kompetenzen sind praktisch identisch wie vor 23 Jahren. Dabei müssten diese viel höher sein. Heute haben viel mehr Menschen einen tertiären Bildungsabschluss. Und es ist erwiesen: Höhere Bildung sorgt für bessere Resultate. Das heisst nichts anderes als: De facto sind wir in der Schweiz alle schlechter geworden. Besser als der Durchschnitt zu sein, genügt deshalb nicht. Nein, das Resultat ist schlecht, und es muss uns beschäftigen.
Warum beschäftigt es uns nicht genug?
Die Schweiz hat eine Aversion gegen das Testen. Das ist für viele ein Vorteil, weil man behaupten kann, was man will. Jeder Vergleichstest ist ein politischer Kraftakt. Weil sich alle davor drücken. So kann man dahindümpeln, weil man sich den Spiegel so selten vorhält. Es gibt bei uns Reformen, die gross angekündigt und mit schönen Worten beschrieben werden – aber nie wird die Abmachung getroffen, welches Ziel damit eigentlich erreicht werden soll, und noch viel wichtiger: wie man die Zielsetzung einmal auch überprüfen will. So stehlen sich alle aus der Verantwortung. Wenn man dann fragt, warum die Leistungen schlechter wurden, dann gibt es nur eine Antwort: Wir haben keine Ahnung. Das ist ein Trend, der sich überall zeigt.
Wie äussert sich das?
Eine Mitarbeiterin eines grossen Unternehmens hat in einem Vortrag von einer grossen Reform erzählt, die sie verantwortet – die Geschäftsleitung hat dafür mehrere Millionen gesprochen. Da dachte ich mir: Das ist wissenschaftlich interessant, diese Reform könnte man doch evaluieren. Nach dem Referat habe ich sie gefragt, ob das Projekt wissenschaftlich begleitet werde. Sie hat mich entgeistert angeschaut und gefragt: Spinnen Sie? Und gesagt: Sie gehe doch nicht zur Geschäftsleitung und verlange Millionen – um dann überprüfen zu lassen, dass die Reform am Ende vielleicht gar keine gute Idee gewesen sei. Wie man sieht, ist es nicht nur im Bildungswesen so, sondern auch in der Privatwirtschaft. Niemand will scheitern.
Aber es gibt doch gewisse Entwicklungen in der Schweiz, die klar ersichtlich sind. Etwa, dass es pro Schulklasse oft mehrere Lehrer braucht – und keine Lehrerin mehr allein vor der Klasse steht, wie das bis vor zehn Jahren der Normalfall war. Da ist doch schon ein Scheitern.
Ich muss wissenschaftlich bleiben. Man kann nicht sagen, ob die Reformen nichts gebracht haben, weil wir nicht sagen können, wie es ohne gekommen wäre. Weil es eben an Vergleichsmöglichkeiten mangelt. Aber was ich erlebe, kann ich zumindest an einem Beispiel erklären. Für grosse Untersuchungen befragen wir immer wieder Tausende von Schülern. Da gehen wissenschaftliche Mitarbeiter in die Klassen, und die Schüler machen an einem Experiment mit. Vor zehn Jahren waren die begeistert – und die Lehrer auch, weil die Klasse noch nie so konzentriert und motiviert war. Heute ist es das Gegenteil: Die Klassen halten sich nicht an die Regeln, meine Mitarbeiter werden nicht mehr ernst genommen, teilweise gar vor den Lehrern angepöbelt. Da stehen meiner Meinung nach auch die Eltern in der Verantwortung.
Fakten gibt es trotzdem. Sie selbst haben nachgewiesen, dass etwa zu hohe Maturitätsquoten – wie in der Westschweiz oder Basel-Stadt – kontraproduktiv sind für viele Schüler, die eigentlich nicht gut genug fürs Gymnasium sind. Kein Wunder, schneiden Erwachsene trotz tertiärer Bildung schlechter ab . . .
Wir wissen: Je höher die Gymnasialquote, desto niedriger die Abschlussquote an der Uni. Aber selbst hier, wo wir Fakten haben, nützt es wenig. Weil politisch nichts zu machen ist.
Warum?
In der Westschweiz kann die Politik die Gymnasialquote nicht einfach halbieren – aus Angst vor den Wählern, die das gar nicht goutieren würden. Wir haben in einem Experiment gezeigt: Wenn die Erfolgschancen des Kindes im Gymnasium schwinden, würden Deutschschweizer Eltern ihr Kind ab einem gewissen Punkt nicht mehr ans Gymnasium schicken. In der Westschweiz hingegen hatte das Risiko keine Auswirkung auf die Präferenz für das Gymnasium. Aber es gibt dafür auch noch andere Gründe.
Welche?
In der Westschweiz gewichtet man den Aspekt, allen eine Chance zu geben, höher – und ist bereit, dafür den Preis von höheren Ausfällen zu zahlen. Wenn wir annehmen, dass 25 Prozent der Schüler gut genug fürs Gymnasium wären, dann nimmt man in Genf lieber 45 Prozent, damit die richtigen 25 Prozent mit Sicherheit dabei sind. Konservativere Kantone nehmen hingegen nur 15 Prozent, weil sie die Ausfallquote tief halten wollen. Zum Preis, dass man 10 Prozent ausschliesst, die das Gymnasium auch geschafft hätten.
Aber das ist doch gut? Diese 10 Prozent machen dann tolle Lehren, gründen Unternehmen, das stärkt das duale System.
Persönlich bin ich da voll auf dieser Linie, aber aus der individuellen Sicht der Eltern sieht das halt immer wieder anders aus. Für das Bildungssystem als gesamtes ist es aber – vorausgesetzt es ist durchlässig, wie in der Schweiz – durchaus besser, dass man dort einsteigt, wo man realistische Chancen auf Erfolg hat. Ein Aufstieg ist immer möglich. Umgekehrt gilt: Wenn man zu hoch eingestuft wird, aus dem Gymnasium fliegt oder das Unistudium nicht schafft, besteht die Gefahr, dass der Misserfolg derart demotiviert, dass man am Schluss weniger weit kommt. Im internationalen Vergleich sind wir in der Schweiz aber vorbildlich.
Erzählen Sie.
Ich kann das anhand einer persönlichen Anekdote erzählen. Einmal ging ich zum Coiffeur und wurde von einer jungen Frau bedient, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Weil sie nur am Samstag arbeitet. Unter der Woche studierte sie. Ich wollte schon aufstehen – und habe sie gefragt: Sind Sie überhaupt eine Coiffeuse? Sie erzählte mir ihre Geschichte: Als Teenager sei sie schulisch komplett unmotiviert gewesen, mit entsprechend schlechten Noten. Eltern und Lehrer meinten, da würde nur diese Lehre bleiben. Sie zog diese durch, aber dachte irgendwann: Das kann’s doch nicht gewesen sein. Sie machte die Berufsmaturität und studierte danach Biochemie. Das ist Durchlässigkeit. Im Vergleich zu Schweden etwa . . .
. . . wo Sie wieder beim Coiffeur gewesen sind?
Ja. (Lacht.) Das ist wirklich wahr. Dort habe ich die Coiffeuse gefragt, welchen Bildungsweg sie durchlaufen habe. Zuerst eine Matura mit Schwerpunkt Medien. Der einfachste Weg, weil sie nicht wirklich eine gute Schülerin war. Danach habe sie realisiert, dass ihr das wenig bringe, da in Schweden die Unis die Studenten auswählen könnten und sie keinen Studienplatz gefunden habe. Darum musste sie – privat finanziert – ihre Coiffeuse-Ausbildung machen. Sie sehen: Als Teenager waren wohl beide schulisch gleich schlecht. Welcher Pfad ist nun aber langfristig der bessere gewesen?
Eine rhetorische Frage . . .
Das ist einer der Vorzüge unseres Modells mit einer starken Berufsbildung und einer selektiven, aber guten akademischen Ausbildung.
Dennoch haben wir in der Schweiz zu viele Menschen, gerade aus dem Ausland, mit ungenügenden Kompetenzen. Ist das nicht auch ein Problem?
Das ist so. Der Anteil an Migrantinnen und Migranten mit ungenügenden Kompetenzen ist viel zu hoch – was aber auch damit zusammenhängt, dass die Schweizer Wirtschaft immer noch zu viele schlecht ausgebildete Personen aus dem Ausland holt. Das ist eine Hypothek.
Holen wir die falschen Migranten?
Die Wirtschaft «füllt» mit Migranten die Löcher, wo es sie gibt. Der Schweizer will nicht putzen und servieren – und Ärzte und Astrophysiker haben wir auch nicht genug. Früher war es allerdings noch schlechter, denn mit dem Kontingentsystem holten wir nur die Unqualifizierten. Durchschnittlich ist die Qualifikation heute deshalb besser, aber bipolar. Der eine Pol ist gleich oder besser qualifiziert als die Schweizer, der andere sehr viel schlechter.
Was hat das für Folgen?
Schlecht qualifizierte Migranten belasten im Durchschnitt das Bildungssystem nicht selten über Generationen, weil auch ihre Kinder und Enkel wegen der Bildungsferne der Eltern eher Probleme haben. Aber eben: Das sind Menschen, die mit einem Arbeitsvertrag hierherkommen. Die Schweizer Wirtschaft will sie. Und die Migration ist auch nicht hauptverantwortlich für unsere schlechten Bildungsresultate. Wir haben heute besser qualifizierte Migranten, und es sind vor allem die einheimischen Schüler, die in den letzten zwanzig Jahren schlechter geworden sind.
Läuft es in vergleichbaren Ländern besser?
Teilweise schon. Die Niederlande, Schweden und Norwegen haben auch den freien Personenverkehr, viel Zuwanderung, zahlen hohe Löhne – und sie schneiden beispielsweise im OECD-Vergleich bei den Kompetenzen der Erwachsenen besser ab. Und Durchschnitt genügt für ein Land mit der Wertschöpfung wie jener der Schweiz nicht. Wo sollen in Zukunft die Arbeitsplätze entstehen für den Viertel der Schulabgänger, die keine adäquaten Kompetenzen in Grundlagenfächern haben? Meine Sorge ist, dass es zwar derzeit noch zu viele solcher Jobs gibt, aber wir sie uns auf die Dauer nicht mehr leisten werden, wenn man bedenkt, was Automatisierung, Roboterisierung und künstliche Intelligenz können.
Wird das unterschätzt?
Ja, weil dank der Technologie schlecht oder mittelmässig Ausgebildete nun Aufgaben erfüllen können, die eigentlich viel höhere Kompetenzen erfordern würden. Wirtschaftlich und gesellschaftlich wird das aber zunehmend ein Problem, denn diese Menschen haben zwar eine Leistung von kompetenten Personen, bleiben selbst aber inkompetent. Wem gehört dann der Mehrwert ihrer Arbeit? Nicht ihnen, sondern den Besitzern der Technologie. Für den Arbeitsmarkt und die Sozialpartnerschaft kann das zu schwierigen Auseinandersetzungen führen.
Was droht da?
Nun, einerseits die Gefahr der Erosion des Mittelstandes, weil schlechter gebildete Personen seine Jobs übernehmen – aber deswegen ökonomisch nicht in den Mittelstand aufsteigen. Andererseits, weil KI nicht nur jene mit mittelmässigen Kompetenzen trifft, sondern nun auch jene gefährdet, die Jahre in ihre Ausbildung investiert haben oder es tun könnten.
Wie wirkt sich das konkret aus?
Ich kann das am Beispiel des Anwalts beschreiben. Früher lebten der erfahrene Anwalt und der Volontär praktisch in einer Symbiose. Der Anwalt konnte die wenig anspruchsvollen Arbeiten auslagern, und der Volontär erwarb sich damit Kompetenzen, indem er beispielsweise einen Monat lang nach relevanten Gerichtsurteilen recherchierte. Heute kann der erfahrene Jurist dies dank KI in wenigen Minuten selbst erledigen. Er braucht keinen Volontär mehr, und zwar nicht deswegen, weil er Geld sparen will, sondern wegen der Zeitersparnis, die es ihm ermöglicht, viel mehr Fälle annehmen zu können. Das Problem ist aber: Wie soll sich der künftige Jurist dann das nötige Wissen aneignen, um später selbst ein Profi zu werden?
Wie soll man diesen Veränderungen begegnen?
Weniger mit der Frage, welche menschlichen Kompetenzen überflüssig werden, sondern damit, welche Kompetenzen der Mensch entwickeln muss, damit er die Technik zu seinen Gunsten nutzen kann. Derzeit sehe ich in der Wirtschaft und der Bildung eine Dualität. Die einen, die schon sehr fix unterwegs sind und es nicht an die grosse Glocke hängen. Zum Beispiel, damit die Konkurrenz nicht aufgeschreckt wird oder die Gewerkschaften keine Angst vor Stellenabbau bekommen. Und die anderen, die verharmlosen oder sich gar darüber lustig machen, im Stile von: Haha, in der Computerübersetzung hat es zwei Fehler. Höre ich so etwas, sage ich immer: Wie viele Fehler hätte ein Mensch beim Übersetzen gemacht? Und wie oft macht ein solches System den gleichen Fehler zweimal? Dass die Arbeitswelt und das Bildungswesen durch KI fundamental verändert werden, ist für mich klar – und muss ernsthafter diskutiert werden.