Seit dem Schuttstrom im vergangenen Jahr beobachten Geologen den Hang oberhalb von Brienz genau. Jetzt sehen sie dort bedrohliche Anzeichen. Und fragen sich: Zerstört der Schutt das ganze Dorf, oder passiert gar nichts?
Für die Bewohner des Bündner Dorfes Brienz muss es sich anfühlen wie ein Déjà-vu. Bis am Sonntag müssen sie wieder ihre Häuser verlassen, wann sie zurückkehren können, ist unklar. Alles erinnert an die Evakuation im vergangenen Jahr. Damals rutschte wenige Wochen später ein Schuttstrom den Berg herab und kam erst knapp vor dem Dorf zum Stehen.
Jetzt wird der Berg den Brienzern erneut gefährlich. Denn wenn sich der Schutt am Hang oberhalb des Dorfes löst, könnte ein katastrophales Szenario eintreten: eine sogenannte Fliessrutschung oder Schuttlawine. Dann bewegt sich das lose Gestein mit einer solchen Geschwindigkeit und Wucht zu Tal, dass nichts seinen Weg noch aufhalten kann.
Für Geologen wie Andreas Huwiler ist das dieser Tage die grosse Sorge. Huwiler ist Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Amt für Wald und Naturgefahren in Graubünden und einer der Experten, die vor Ort in Brienz die Lage beurteilen. Er sagt: «Wenn es zu einer Fliessrutschung kommt, ist das Dorf danach für Generationen unbewohnbar. Das kann man nicht einfach wieder aufräumen.» Es sei zwar sehr unwahrscheinlich, dass dieses Schreckensszenario eintrete. Doch falls es einträte, wäre das der Tod aller, die sich dann noch in Brienz aufhielten.
Das Problem ist der Schutt vom vergangenen Jahr
Die jetzige Bedrohung hängt allerdings direkt mit den Ereignissen im vergangenen Juni zusammen. Damals hat sich oberhalb von Brienz eine Felsmasse gelöst, und 1,7 Millionen Kubikmeter Gestein haben sich ins Tal ergossen.
Doch nicht alles Gestein, das sich damals löste, ist auch ins Tal gerollt. Ein grosser Teil des Schutts liegt noch immer lose im Hang. Und genau diese lose Schutthalde ist heute der Grund für die erneute Sorge.
Seit ihrer Entstehung im vergangenen Jahr steht die Schutthalde unter genauer Beobachtung. Zunächst schien sich der Schutt im Hang beruhigt zu haben und stabil zu sein. Die Geologen gaben Entwarnung, und die Bewohner von Brienz kehrten in ihre Häuser zurück. Monatelang blieb es dabei. Die Geologen hielten ein wachsames Auge auf den losen Schutt am Berg. Und der verhielt sich ruhig.
Die Schutthalde wird instabil
Doch in diesem Sommer ist wieder Bewegung in die Schutthalde gekommen. Während der starken Regenfälle im Juni begann der Schutt, deutlich schneller als zuvor den Hang herunterzurutschen. Statt sich nur wenige Meter pro Jahr zu bewegen, rutschte er plötzlich mit einer Geschwindigkeit von rund 30 Metern pro Jahr.
Dann im Oktober wurde es wieder nass in Brienz. Und die Schutthalde beschleunigte sich abermals – diesmal sogar noch stärker als im Juni, auf bis zu 80 Meter pro Jahr beziehungsweise 30 Zentimeter pro Tag.
«Wir haben Glück gehabt, dass im Oktober nichts passiert ist», sagt Huwiler. Die Geschwindigkeit der Rutschung sei wieder zurückgegangen, als der Regen nachgelassen habe. «Aber wir haben gesehen, dass die Schutthalde immer sensitiver auf Niederschlag reagiert. Das ist ein deutliches Warnsignal.» Es spreche dafür, dass der Schutt instabil sei und sich bei starkem Regen ganz lösen und abrutschen könnte.
Grund genug für die Geologen, mehr über die Zusammensetzung der Schuttmasse herauszufinden. Im Oktober haben sie mit einem Bagger Sondierungen im unteren Teil der Schuttablagerung durchgeführt. «Wir haben gehofft, zeigen zu können, dass der Schutt vor allem aus grossen Blöcken besteht», sagt Huwiler. Denn diese würden stabiler zusammenhalten und weniger wahrscheinlich abrutschen. Stattdessen fanden sie viel feines Material im Untergrund der Schutthalde. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Schutt abrutscht.
Zu allem Überfluss stellten die Geologen ausserdem fest, dass das Gestein nicht ganz trocken ist. Wegen der starken Regenfälle im Frühling und Herbst ist der Schutt feucht, an der Basis der Schuttablagerung trat sogar Wasser aus dem Boden aus. Das begünstigt die Entstehung einer Fliessrutschung, die das Dorf zerstören könnte.
Damit ist klar: Brienz könnte womöglich eine tödliche Schuttlawine drohen. Doch wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?
Noch kann für die Brienzer alles gut ausgehen
«Das wahrscheinlichste Szenario ist im Moment, dass gar nichts passiert», sagt Huwiler. Der Schutt am Hang könne sich wieder stabilisieren oder nur sehr langsam weiter abgleiten.
Für die Bewohner von Brienz dürfte das besonders frustrierend sein. Denn dann beginnt das bange Warten. Auf eine Evakuation von mindestens sechs Monaten sollten sich die Brienzer einstellen, hiess es bei der Gemeindeversammlung am Dienstag. Eine lange Zeit, wenn auf den ersten Blick am Berg alles in Ordnung scheint. Entwarnung kann es aber erst geben, wenn die Geologen anhand von weiteren Beobachtungen und Messungen eine gefährliche Schuttlawine als extrem unwahrscheinlich einschätzen.
Möglich ist auch, dass der Hang ins Rutschen kommt, sich dabei aber ähnlich verhält wie im vergangenen Jahr. Ein verhältnismässig langsamer Schuttstrom könnte niedergehen und das Dorf verschonen. Dann könnten die Bewohner wohl erneut in ihre Häuser zurückkehren.
Die Unsicherheit ist gross
Ob es überhaupt zu einer Rutschung kommt, wird massgeblich von drei Faktoren beeinflusst.
Der erste Faktor ist Wasser. Wie sich im Juni und Oktober gezeigt hat, können Niederschläge dazu führen, dass sich der Schutt schneller bewegt. Starker Regen oder die Schneeschmelze im Frühjahr wären also mögliche Auslöser für eine Rutschung. «Allerdings wissen wir nicht, wie viel Regen es braucht, um die Schutthalde zu destabilisieren», sagt Huwiler. Vielleicht wird es erst bei 50 Millilitern Regen am Tag gefährlich. Vielleicht schon bei 5.
Der zweite Faktor sind Felsstürze. Wenn weiter oben im Berg Fels abbricht und auf die Schutthalde stürzt, könnte das den Anstoss fürs Abrutschen geben. Doch wie viel zusätzlichen Schutt hält die Halde aus? Das abzuschätzen, sei sehr schwierig, sagt Huwiler. Denn man habe in den vergangenen Monaten keine Felsstürze auf die Schutthalde beobachtet, aus denen man Schlüsse ziehen könnte.
Als wäre das noch nicht genug, gibt es noch einen dritten, besonders unwägbaren Faktor für eine Rutschung. In den tiefen Schichten der Schutthalde könnten die Gesteinsbrocken durch das momentane langsame Abrutschen zu immer feineren Körnern zerbrechen. Sind sie zu klein, kann sich das Gestein spontan lösen. Ohne dass von aussen überhaupt ein Auslöser sichtbar wäre. Solche spontanen Rutschungen kennt man von Schutthalden im Bergbau.
Die drei Faktoren haben eines gemeinsam: Sie sind zum jetzigen Zeitpunkt schwierig bis unmöglich abzuschätzen. «Mit lockeren Gesteinsrutschungen, wie sie jetzt drohen, haben wir schlicht wenig Erfahrung», sagt Huwiler. «Das heisst, wir können uns nicht auf etablierte Prognosemodelle verlassen. Unsere Vorhersagen sind momentan mit riesigen Unsicherheiten behaftet.»
Sicher ist im Moment also nur eines: Für die Bewohner von Brienz mag sich die Geschichte wiederholen. Doch für Huwiler und seine Kollegen ist die momentane Situation das glatte Gegenteil eines Déjà-vu.