Nicht Machthunger, sondern eine Mission trieb Alexei Nawalny an. Dass ihn seine Kritik am Putin-Regime in tödliche Gefahr brachte, nahm er bewusst in Kauf.
Alexei Nawalny wusste, dass es grössere Dinge gab als seine Liebe, seine Familie und letztlich sein Leben. Er war ein unbedingter Patriot, der früh verstanden hatte, dass in Putins Russland das Vaterland und der Staat nicht mehr dasselbe waren. Das führte den Jüngling zu einigen Verwirrungen, die er allerdings ablegte, als er sich vom Nationalisten zum Korruptionsbekämpfer wandelte.
Natürlich wirkte er auf viele Oppositionelle überheblich, manchmal sogar selbstverliebt. Aber gleichzeitig wurde deutlich, dass hier einer am Werk war, der nicht aus Machthunger, sondern aus einer Mission heraus russischer Präsident werden wollte. Er wusste um die tödliche Gefahr, die vom Kreml ausging, und stellte sich ihr sehenden Auges. Seinen Galgenhumor verlor er bis zuletzt nicht. Allerdings schien es bisweilen, dass er diese Scherze nicht so sehr an seine Unterstützer ausserhalb der Gefängnismauern, sondern an sich selbst richtete.
Hatte seine Selbstaufopferung einen Sinn?
Aus einer pragmatischen Aussenperspektive mag Nawalnys Selbstaufopferung sinnlos erscheinen. Für Nawalny selbst gab es allerdings gar kein Abwägen von Risiken und Chancen. Für ihn kam nach dem Giftanschlag von 2020 eine Emigrantenexistenz, wie sie etwa Chodorkowski in London führt, überhaupt nicht infrage. Der Rigorismus, mit dem Nawalny sein Leben auch gegen die eigenen Interessen organisierte, folgt einem Verhaltensmodell, das aus früheren autoritären Kontexten in Russland stammt.
Der russische Semiotiker Juri Lotman hatte als Erster die russische Kultur wie eine Sprache beschrieben, in der es eine Verhaltensgrammatik und ein Lexikon von Werthaltungen gibt. Zentrale Einträge in diesem Lebenswörterbuch wie Aufrichtigkeit oder Verantwortung haben sich tief in das Hirn der Menschen eingegraben, die sich der Verteidigung der Wahrheit in einem verlogenen System verschrieben haben. Die Verhaltensgrammatik generierte allerdings nur einen biografischen Satzbau, dessen Ende unweigerlich auf die schlimmstmögliche Wendung zu gravitierte.
Das Lebensglück wird geopfert
Ein solches Leben wie aus einem Buch schuf sich etwa der Literat Nikolai Tschernyschewski im 19. Jahrhundert. Er war Lenins Lieblingsautor, weil er eine konsequent materialistische Philosophie vertrat. Durch seine regierungskritischen Ansichten geriet Tschernyschewski in das Visier der zaristischen Geheimpolizei, die ihn 1862 unter einem fadenscheinigen Verdacht verhaftete.
Tschernyschewski verfasste in der anderthalbjährigen Untersuchungshaft den Roman «Was tun?», in dem er seine sozialistische Gesellschaftsutopie als literarische Phantasie ausgestaltete. Wie Tschernyschewski selbst heiratet sein Protagonist aus Liebe, opfert dann aber sein Lebensglück einem höheren sozialen Ziel. Der Roman beschreibt das Leben in einer Kommune, die vom Prinzip des «vernünftigen Egoismus» regiert wird. Das wahre Eigeninteresse besteht im sorgfältig erarbeiteten Gemeinwohl.
«Was tun?» konnte nur aufgrund eines Zensurversehens überhaupt im Druck erscheinen. Als das Buch einen durchschlagenden Erfolg erzielte, war es schon zu spät. Die Behörden konnten nur noch den unaufmerksamen Zensor entlassen. Tschernyschewski selbst wurde zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Nach zehn Jahren wurde ihm eine Begnadigung angeboten, allerdings lehnte er es ab, einen entsprechenden Antrag zu verfassen. Seine ohnehin schon drakonische Strafe wurde schliesslich noch administrativ verlängert.
Angehörige und Freunde bemühten sich vergeblich, den Gefangenen durch Bittschriften zu befreien. Erst nach zwanzig Jahren Verbannung durfte Tschernyschewski nach Astrachan am Kaspischen Meer übersiedeln. Im Alter von 61 Jahren starb er in seiner Heimatstadt Saratow, in die er erst kurz vor seinem Tod zurückkehren konnte.
Offizielle Todesursache: Unterkühlung
Auch unter dem Sowjetregime gab es unerschrockene Kämpfer, die mit ihrem Lebensglück für ihre Überzeugungen einstanden. Der ukrainische Dichter Wasil Stus starb wie Nawalny im Alter von 47 Jahren in Haft. Als junger Literaturwissenschafter und Dichter protestierte er gegen die Unterdrückung ukrainischer Intellektueller durch das Sowjetsystem. Mit unglaublichem Mut beschuldigte er das KGB öffentlich, für den Tod der ukrainischen Dissidentin Alla Horska verantwortlich zu sein. 1972 wurde Stus verhaftet und wegen «antisowjetischer Agitation und Propaganda» zu fünf Jahren Gefängnishaft und zwei Jahren sibirischer Verbannung verurteilt. Nachdem er diese Strafe vollumfänglich verbüsst hatte, engagierte er sich in Kiew für die Helsinki-Menschenrechtsgruppe.
Schon 1980 wurde er erneut verhaftet und als «besonders gefährlicher Wiederholungstäter» hinter verschlossenen Türen zu zehn Jahren Zwangsarbeit und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Das Jahr 1983 verbrachte er in Isolationshaft, weil er ein Heft mit Gedichten aus dem Lager geschmuggelt hatte. Immer wieder wurde er wegen nichtiger Regelverstösse schikaniert, zuletzt weil er sich beim Lesen in der Zelle mit dem Ellbogen auf seiner Koje abgestützt hatte. Kurz vor seinem Tod protestierte er mit einem Hungerstreik gegen die unmenschlichen Haftbedingungen. Als offizielle Todesursache wurde Unterkühlung angegeben.
Der Meister des Youtube-Videos
Im Zarenreich und in der Sowjetunion waren der Pressefreiheit enge Grenzen gesetzt. Im 19. Jahrhundert galten scharfe Zensurgesetze. Äusserungen gegen die Regierung und gegen die Religion waren verboten. Die Stalin-Verfassung von 1936 gewährte zwar die «Freiheit des Wortes» und die «Freiheit der Presse», aber mit dem entscheidenden Zusatz, dass dabei die «Interessen der Werktätigen» und «das sozialistische System» gestärkt werden müssten. In Putins Russland hat sich erneut ein «Scheinkonstitutionalismus» etabliert, den Max Weber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland kritisierte. Artikel 29 der geltenden Verfassung garantiert die Pressefreiheit und verbietet die Zensur. Heute nimmt Russland im globalen Index der Pressefreiheit Rang 164 von 180 ein.
Angesichts dieser prekären Situation schufen sich die drei Oppositionellen energisch ihre eigenen öffentlichen Foren: Tschernyschewski schrieb wie besessen für seine Literaturzeitschrift, Stus druckte seine Texte im Selbstverlag und im westlichen Ausland, Nawalny war ein Meister des Youtube-Videos und erreichte damit ein Millionenpublikum.
Tschernyschewski, Stus und Nawalny loteten nicht nur ihren Handlungsspielraum aus, sondern überschritten bewusst die Grenzen des Sagbaren ohne Rücksicht auf ihre eigene Person. Michel Foucault nennt eine solche Position im Rückgriff auf die antike Tradition «Parrhesie» – das unerschrockene Sprechen gegen den Machthaber. Die Redefreiheit ist hier nicht einfach ein Möglichkeitsraum, sondern eine bewusste Lebensstrategie, in der die schonungslose Benennung der Wahrheit durch die Verletzlichkeit des Sprechers beglaubigt wird.
Kein Recht auf eine private Existenz
In den verschiedenen autoritären Staatskulturen in Russland stellt die «Parrhesie» die höchste Steigerung des Nichteinverständnisses mit der herrschenden Ordnung dar. Für kritische Intellektuelle gab es immer auch andere Verhaltensoptionen, die von innerer Emigration über hinter vorgehaltener Hand geäusserte Kritik bis hin zu sorgfältig dosierter Opposition reichten. Autoritäre Systeme sind auf solch niederschwellige Kollaboration angewiesen – keine Diktatur kann überleben, wenn sie nicht von einer schweigenden Mehrheit zumindest geduldet wird.
Tschernyschewski, Stus und Nawalny glaubten hingegen nicht, dass sie in ihrer historischen Lebenssituation ein Recht auf eine private Existenz hätten. Sie führten vor ihrer Verhaftung ein öffentliches Leben und erhoben ihre Stimme gegen die Herrschenden. Dabei wussten sie, dass sie allein gegen das übermächtige System nichts ausrichten konnten. Sie waren aber davon überzeugt, dass die Lüge, die sich wie eine Eisschicht über das gesellschaftliche Leben gelegt hatte, durch mutiges Aussprechen der Wahrheit durchbrochen werden konnte.
Ist Putin glücklich?
Die Verhaltensgrammatik, in der das persönliche Glück dem unbedingten Engagement für die eigene Gesellschaft geopfert werden muss, ist in Russland so attraktiv, dass sogar Putin die emotionalen Energien dieses Kulturmodells auf seine Mühlen lenkt. 2013 wurde ihm in einer Fernsehdiskussion die Frage gestellt, ob er glücklich sei. Seine Antwort lautete: «Ich bin dem Schicksal und den Bürgern Russlands unendlich dankbar, dass sie mir die Leitung des russischen Staats anvertrauen. Darin besteht mein ganzes Leben. Aber ob das genug ist für mein Glück – das ist eine andere Frage.»
Angesichts der schwindenden demokratischen Legitimität seiner nicht enden wollenden Präsidentschaft zapft Putin traditionelle Machtressourcen an, die er im absoluten Wahrheitsdiskurs der russischen Kultur findet. In seiner berüchtigten Rede am Tag des Überfalls auf die Ukraine behauptete er kühn, dass die Gerechtigkeit und die Wahrheit auf der Seite Russlands seien. Die «historische Wahrheit» fand bereits 2020 Eingang in den reformierten Verfassungstext. Putin präsentiert sich als Vollstrecker dieser «historischen Wahrheit» – jüngst in seinem ebenso drögen wie von zahlreichen faktischen Fehlern durchsetzten Interview mit Tucker Carlson.
Unter den zahlreichen Fakes in der gegenwärtigen russischen Propaganda ist die Selbsteinreihung Putins in die lange Reihe der selbstlosen Politiker angesichts von Nawalnys Tod der schändlichste.