Noch vor kurzem drehte das Riesenland in einer Abwärtsspirale. Doch die Regierung Modi hat den Tiger entfesselt. Für die Schweiz kommt das Handelsabkommen mit Indien gerade richtig.
Paul Zumbühl erinnert sich genau. Mit viel Pomp weihte der indische Lizenzpartner des Tessiner Logistikkonzerns Interroll eine neue Fabrik in Bangalore ein. Überall hingen Blumengirlanden, Zumbühl fand seinen Namen auf einer Granitplatte verewigt. Nur etwas irritierte den damaligen Interroll-CEO. Die neue Maschine war durch ein Tuch verhüllt. Als er dahinter blickte, kam er dem Grund auf die Schliche: Die Anlage war gar nicht fertig.
Gerichtsurteil gegen Novartis-Produkt wirkt nach
Das war 2010, und Zumbühl, mittlerweile Verwaltungsratspräsident von Interroll, ist überzeugt: Die Geschichte könnte sich auch heute noch so zutragen. «Das ist nun mal Indien. Gewisse Dinge ändern sich nur langsam», sagt er. Korruption, wuchernde Bürokratie, fehlende Rechtssicherheit, schlechte Infrastruktur – das bevölkerungsreichste Land der Erde wird seine Plagen so schnell nicht los. Und dennoch ist Zumbühl überzeugt: «Die Dynamik ist eine ganz andere als vor 14 Jahren. Um Indien kommt man heute nicht mehr herum.»
Der jüngste Hoffnungsschimmer ist das sich anbahnende Handelsabkommen zwischen Indien und der Schweiz. Vor 16 Jahren sass man erstmals am Verhandlungstisch. Immer wieder wurde der Durchbruch beschworen, immer vergeblich. Doch nach dem Treffen von Wirtschaftsminister Guy Parmelin und dem indischen Handelsminister Piyush Goyal am vergangenen Wochenende in Delhi ist ein Deal nun in Griffnähe.
Die Annäherung ist Folge einer handelspolitischen Kehrtwende, die die Regierung von Premierminister Narendra Modi Ende 2021 einleitete. Das lange abgeschottete Riesenland lancierte eine breit angelegte Freihandelsoffensive. Einige Abkommen sind schon im Trockenen.
Gelingt der Deal mit der Schweiz, können sich vor allem die Schweizer Exporteure freuen. Die oft zweistelligen Zölle würden sinken oder ganz wegfallen. Das sei dringend nötig, sagt Miodrag Stojsic, Indien-Verantwortlicher der Bruderer Maschinenfabrik in Frasnacht am Bodensee. «Unsere Hauptkonkurrenz stammt aus Japan, das bereits ein Freihandelsabkommen mit Indien abgeschlossen hat und dessen Währung im Sinkflug ist.» Ohne Deal würden Schweizer Unternehmen aus dem Markt gedrängt.
Die Pharmaindustrie ist skeptisch
Doch lohnt sich der Preis dafür? Ist Indien bereit, mit der Vergangenheit zu brechen und den Rechtsschutz für ausländische Unternehmen auf internationales Niveau anzuheben?
Bei der Pharmaindustrie, der mit Abstand grössten Schweizer Exportbranche, will keine rechte Vorfreude aufkommen. Eher herrscht ein gewisser Argwohn. Die Branche, die mit einem Volumen von fast 110 Milliarden Franken vorletztes Jahr 40 Prozent der Schweizer Warenausfuhren beisteuerte, sorgt sich wegen des Schutzes des geistigen Eigentums.
Schweizer Medikamentenherstellern sitzt noch immer der Schrecken eines indischen Gerichtsentscheids vor elf Jahren in den Knochen. Der oberste Gerichtshof verweigerte im April 2013 den Patentschutz auf Glivec, einem Krebsmedikament von Novartis. Dem Urteil war ein siebenjähriger Rechtsstreit zwischen dem Pharmaunternehmen und der Regierung Indiens vorangegangen.
Glivec war damals mit einem weltweiten Umsatz von knapp fünf Milliarden Dollar der Kassenschlager von Novartis. Das Unternehmen wollte mit dem Leukämie-Mittel auch im aufstrebenden indischen Markt Kasse machen, ohne die Konkurrenz durch Kopien fürchten zu müssen.
Doch die Pläne zerschlugen sich mit dem richterlichen Verdikt. Für Novartis und die gesamte Schweizer Pharmaindustrie war klar: Indien schert sich nicht um den Patentschutz für innovative Therapien. Lieber fördert das Land die eigene mächtige Generikabranche. Kein anderes Land der Welt stellt mehr Medikamentenkopien her als Indien. Laut Schätzungen stammt ein Fünftel aller Generika aus indischen Produktionsstätten.
Fehlender Rechtsschutz
Stephan Mumenthaler, Direktor des Branchenverbands Scienceindustries Switzerland, wirft Indien einen laschen Umgang mit geistigem Eigentum vor: «Indien ist zwar grundsätzlich ein Rechtsstaat mit funktionierenden Institutionen, doch beim Patentschutz leistet es sich eigenwillige Interpretationen.»
Problematisch aus Sicht von Scienceindustries ist besonders, dass Daten aus klinischen Studien nicht ausreichend geschützt sind. Indische Generikafirmen nutzen dieses Schlupfloch und verwenden die Daten für eigene Zulassungsgesuche. Dabei ersparen sie sich den hohen finanziellen Aufwand, den die Erprobung eines Wirkstoffs in klinischen Studien nach sich zieht.
Andere halten solche Bedenken für überholt. Natürlich schütze Indien seine Generikaindustrie, sagt Philippe Reich, Präsident der Schweizerisch-Indischen Handelskammer. Er ist aber überzeugt: «Zwangslizenzen wie noch vor rund zehn Jahren sind heute kaum mehr denkbar.» Indien wolle nicht mehr nur den Westen kopieren, sondern selber zu den innovativen Ländern aufsteigen. «Indische Unternehmen funktionieren gleich wie westliche, sie haben ein Interesse an einem funktionierenden Patentschutz.» Die entsprechenden Gesetzesvorlagen befänden sich in der Pipeline.
Reich gehört zu den Befürwortern eines Abkommens. Wer Indien ständig auf seine Schwächen reduziere, tue dem Land unrecht. «Viele Leute haben ein Bild von einem Indien im Kopf, das in der Realität längst nicht mehr existiert», sagt Reich.
Tatsächlich hat sich Indien in den einschlägigen Ranglisten verbessert. Im Weltbank-Ranking «Ease of Doing Business», einem Indikator für unternehmensfreundliche Regulierung, arbeitete sich Indien seit Modis Amtsantritt von den hintersten Rängen ins vorderste Drittel vor. Auch bei der Wettbewerbsfähigkeit gibt es Fortschritte. Kein Ruhmesblatt ist hingegen der 85. Platz im Korruptionsindex von Transparency International – hinter Südafrika, Kuba oder Saudiarabien.
Beziehungen sind entscheidend
Auch hier habe die Regierung Modi die Weichen neu gestellt, sagt Reich. «E-Government ist weit fortgeschritten, die Bewilligungsprozesse wurden digitalisiert», sagt er. Dadurch werde der Raum für Missbräuche durch Beamte eingeschränkt.
Doch die Bürokratie lässt sich nicht so schnell totkriegen. «Der Papierkrieg mit der Verwaltung ist enorm», sagt der Thurgauer Maschinenbauer Stojsic. «Das zeigt sich zum Beispiel bei den Zolltarifen, die je nach Produkt unterschiedlich sind.» Hinzu kommt, dass die Regeln je nach Bundesstaat ändern. Dass die Digitalisierung den Klientelismus ausmerzt, bleibt vorläufig ein Wunschtraum. Wer in Indien auf einen grünen Zweig kommen will, braucht die richtigen Kontakte.
«Das Beziehungsmanagement ist alles», sagt der Indien-Spezialist Michael Enderle, der einst das Indiengeschäft eines Schweizer Industriekonzerns führte und den Swiss Business Hub in Mumbai aufbaute. «Man hat schnell viele Beziehungen in Indien. Entscheidend ist aber, dass man die richtigen Beziehungen zu den richtigen Leuten hat. Das wird auch mit einem Freihandelsabkommen so bleiben.» Als Westler komme man allein nicht weit. «Man muss Teams aufbauen mit Leuten, die über die richtigen Kontakte und Kompetenzen verfügen.»
Alternative zu China
Was sich im Vergleich zu früher aber geändert hat: Indien ist nicht mehr ein Ausreisser nach unten. ¨Mit denselben Problemen sind Schweizer Unternehmen auch in anderen Schwellenländern konfrontiert. Indien hebt sich heute vielmehr positiv ab: Die Wirtschaft wächst rasant, die Bevölkerung ist jung, ambitioniert und gut ausgebildet, das Land geopolitisch perfekt positioniert.
Lange setzten westliche Industriekonzerne in Asien fast ausschliesslich auf China als verlängerte Werkbank. Doch im Zuge der Rivalität zwischen den USA und China wollen sie Klumpenrisiken reduzieren und Lieferketten diversifizieren. Die rigiden Lockdown-Massnahmen der chinesischen Regierung während der Pandemie sowie die wachsenden Aggressionen vor allem gegenüber Taiwan haben viele Unternehmen aufgeschreckt. «Der indische Markt wird zur logischen Alternative zu China», schreibt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) im jüngsten Länderbericht zu Indien.
Ein Beispiel ist der Westschweizer Maschinenbauer Bobst. Das Unternehmen hatte ursprünglich geplant, Produktreihen für Kunden mit einer niedrigeren Kaufkraft ausschliesslich in China zu fertigen. Aus geopolitischen Überlegungen sollen die vier chinesischen Werke künftig aber nur noch für lokale Abnehmer arbeiten. Die Rolle der globalen Produktionsstätte für günstige Maschinen solle Indien übernehmen, erklärt Finanzchef Attilio Tissi.
Bobst ist seit über zwanzig Jahren in Indien tätig und beschäftigt in einem Werk in Pune südöstlich von Mumbai schon heute über 400 Mitarbeiter. Laut Tissi sollen in den nächsten zwei, drei Jahren «einige hundert» in einer neuen Fabrik unweit dieses Standorts dazukommen. Das Unternehmen verspricht sich von seiner Offensive auch Vorteile dank der Abwertung der Rupie. Die indische Währung hat sich in den letzten Jahren gegenüber dem Franken um mehr als 30 Prozent verbilligt. Das macht Exporte ins Ausland günstiger.
Gleichzeitig sind die Löhne in Indien viel weniger stark gestiegen als in China. Doch die Zeiten, als man Angestellten in Pune 300 Dollar pro Monat bezahlt habe, seien passé, sagt Tissi. «Wir hatten in den vergangenen Jahren regelmässig Lohnrunden von 10 Prozent.»
Die Indien-Euphorie teilen weite Teile der Maschinenbau-, Elektro- und Metallindustrie (MEM-Sektor). Die zweitwichtigste Schweizer Exportbranche profitiert von einer kontinuierlich steigenden Nachfrage auf dem Subkontinent. Für die Unternehmen ist das umso erfreulicher, als viele von ihnen wegen der schwachen Konjunktur rund um den Globus mit Gegenwind kämpfen. Der Branchenverband Swissmem bezeichnete Indien im vergangenen November als «einzigen Lichtblick».
Wachsendes Interesse an Indien bei KMU
Mehr als 330 Schweizer Unternehmen sind heute in Indien tätig und bieten 166 000 Menschen meist gutbezahlte Jobs. Grösste Arbeitgeber sind die UBS und die CS, die Teile ihrer Informatik nach Indien ausgelagert haben. Auch Nestlé, ABB, Schindler und Rieter haben in grossem Stil investiert auf dem Subkontinent.
Neben multinationalen Konzernen befänden sich auch Schweizer KMU auf der Suche nach einem alternativen Produktionsstandort, für viele sei Indien erste Wahl, sagt Alberto Silini, der beim Exportförderer Switzerland Global Enterprise (S-GE) das globale Beratungsgeschäft leitet. Die Zahl der Beratungsgespräche, die S-GE zu Indien führt, habe sich in den vergangenen vier Jahren verdreifacht, sagt Silini.
Nach Einschätzung von Silini ist die Schweizer Präsenz in Indien noch deutlich ausbaubar, sofern sich die Rahmenbedingungen weiter verbessern sollten. Ein Handelsabkommen würde das Geschäft weiter ankurbeln.
Auch Interroll-Präsident Paul Zumbühl hegt grosse Pläne. Vor knapp einem Vierteljahrhundert wagte er sich erstmals nach Indien. «Uns wurde das Blaue vom Himmel herunter versprochen, doch eingetroffen war es selten», sagt er. Jetzt hat sich die Ausgangslage geändert. Interroll arbeitete in Indien bis anhin mit einem Lizenznehmer zusammen, nun soll der nächste Schritt erfolgen. «Wir haben bewusst bis heute gewartet, doch ich bin überzeugt, dass nun die Stunde von Indien schlägt», sagt Zumbühl.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»