Sinkende Geburtenraten dürften in Italien, Deutschland, China und Japan in den kommenden Jahrzehnten für einen starken Rückgang der Bevölkerung sorgen. Experten sprechen von einem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit.
Es ist lange her, dass die Weltbevölkerung stark geschrumpft ist – sehr lange. Zuletzt geschah es im Mittelalter, als die Beulenpest wütete. Der «Schwarze Tod» raffte im 14. Jahrhundert in Europa Dutzende Millionen dahin.
Ab Mitte des 17. Jahrhunderts setzte dann ein bedeutendes Wachstum der Weltbevölkerung ein. Anfang des 19. Jahrhunderts erreichte sie eine Milliarde Menschen und stieg laut Angaben der Vereinten Nationen bis 1950 auf 2,5 Milliarden. Mitte 2024 waren es dann nach einem rasanten Wachstum schon 8,2 Milliarden. Grosse Fortschritte in Gesundheit, Hygiene, Medizin und Wohlstand trieben das Bevölkerungswachstum voran.
Rückgang der Bevölkerungszahl um 20 bis 50 Prozent
Doch das starke Bevölkerungswachstum wird sich in den kommenden Jahrzehnten verlangsamen – in manchen Industrieländern sogar ins Gegenteil verkehren.
Eine neue Studie des McKinsey Global Institute geht davon aus, dass die Bevölkerungszahl in bedeutenden Volkswirtschaften bis zum Jahr 2100 um 20 bis 50 Prozent zurückgehen dürfte. Einigen Ländern prognostiziert sie einen regelrechten «Bevölkerungskollaps».
«Diese Entvölkerung oder ‹Depopulation› ganzer Länder ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit und in diesem Umfang noch nie da gewesen», sagt Hans Groth, Präsident des St. Galler World Demographic & Ageing Forum. Dabei sei diese Entwicklung aus demografischer Sicht schon lange absehbar gewesen. «Sie hat schleichend begonnen, wird sich über Generationen hinziehen und lässt sich kaum aufhalten – zumal die entsprechenden Nachkommen nicht geboren worden sind und auch nicht geboren werden», sagt er.
Besonders hart dürfte die Entwicklung Länder wie China, Italien, Japan oder Deutschland treffen (vgl. Grafik). Auch Schwellenländer wie die Türkei oder Brasilien dürften laut den Prognosen von der Entvölkerung betroffen sein. Hingegen dürfte es Industrieländern wie Frankreich, Grossbritannien und den USA gelingen, ihre Bevölkerungszahl trotz den sinkenden Geburtenraten zu steigern. Dasselbe gilt für Schwellenländer wie Indien oder Indonesien.
Das mit Abstand stärkste Bevölkerungswachstum weltweit dürfte es in den kommenden Jahrzehnten in der Region Subsahara-Afrika geben. Laut den Prognosen der Uno dürfte beispielsweise Nigeria seine Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2100 mehr als verdoppeln.
Niedrige Geburtenraten sind entscheidend
Haupttreiber der Entvölkerung (Depopulation) sind die niedrigen Geburtenraten. Sie sind laut der Analyse des McKinsey Global Institute für rund 80 Prozent der demografischen Veränderungen im Zeitraum 1960 bis 2021 verantwortlich. Die Lebenserwartung, die im selben Zeitraum in vielen Ländern massiv gestiegen ist, war demzufolge für die demografische Entwicklung deutlich weniger relevant.
Damit die Bevölkerungszahl eines Landes stabil bleibt, ist eine durchschnittliche Anzahl von Kindern von 2,1 pro Frau notwendig. Bereits heute leben laut der Studie zwei Drittel der Menschheit in Ländern mit Geburtenraten unterhalb dieser Grenze. In den vergangenen 25 Jahren seien sie in 90 Prozent der Länder weltweit gesunken, heisst es in der Studie.
Knappheit an jungen Menschen
Es dürfte also zu einer zunehmenden Knappheit an jungen Menschen («youth scarcity») auf der Welt kommen. Damit dürfte auch die erwerbsfähige Bevölkerung in vielen Ländern deutlich zurückgehen. In China beispielsweise dürfte der Anteil der Erwerbs- an der Gesamtbevölkerung laut der Analyse von derzeit 67 Prozent auf 59 Prozent im Jahr 2050 sinken.
Die Entwicklung werde auch in anderen Ländern der «ersten Welle» der demografischen Alterung zu beobachten sein, bevor sie dann nach einer bis zwei Generationen auch die Länder der «zweiten Welle» erreichen dürfte, heisst es weiter. Die erste Welle umfasst dabei Länder, in denen die demografische Entwicklung bereits weit fortgeschritten ist. Zur zweiten Welle gehören vor allem Schwellenländer, die derzeit noch höhere Geburtenraten, kombiniert mit einem geringeren Anteil an Rentnern an der Bevölkerung, haben.
Die Folgen der Entvölkerung
Die neuen demografischen Realitäten dürften dabei erhebliche Folgen für die Wirtschaft, die Gesellschaft, die sozialen Sicherungssysteme sowie die politischen Strukturen der schrumpfenden Länder haben.
Geringeres Wirtschaftswachstum: Durch die demografische Alterung der Bevölkerung droht die wirtschaftliche Entwicklung in vielen Ländern an Dynamik zu verlieren. «In ihren Fünfzigern beginnen Menschen, weniger zu arbeiten», sagt Anu Madgavkar, Co-Autorin der Studie bei einem Anlass zu derselben. Die Analyse geht für den Zeitraum 2023 bis 2050 im Durchschnitt von einem um 0,4 Prozentpunkte pro Jahr geschmälerten Wirtschaftswachstum in den Industrieländern der ersten Welle sowie in China aus. In manchen Ländern könnten es sogar 0,8 Prozentpunkte sein. Als Gegenmittel könnten eine Steigerung der Produktivität oder längere Arbeitszeiten dienen.
Arbeitskräftemangel und neue Zuwanderungsstrategien: Als Folge der Entwicklung dürfte es in vielen der betroffenen Länder zu einem Arbeitskräftemangel kommen. Wollten diese aber ihre Prosperität wahren, dürften sie um das politisch heikle Thema Zuwanderung nicht herumkommen, sagt Groth. Dies könnte dazu führen, dass die schrumpfenden Nationen gezielt gewünschte und hochqualifizierte Zuwanderer aussuchen und abwerben.
Gleichzeitig stünden die von Entvölkerung betroffenen Länder aber vor der Herausforderung, dass nationale Identitäten und kulturelle Eigenheiten aufgrund grosser Zahlen von Zuwanderern als gefährdet angesehen würden. Derartige Entwicklungen seien ernst zu nehmen, sagt Groth. Zudem gehe es darum, eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme zu verhindern: «Die von Entvölkerung betroffenen Industriestaaten müssen sicherstellen, dass sie produktive Einwanderer bekommen, welche die Sozialsysteme stabilisieren und nicht destabilisieren.»
Richard Baldwin, Professor für internationale Wirtschaft an der Wirtschaftshochschule IMD, sieht hier zunehmende internationale Telearbeit als einen Teil der Lösung, wie er an dem Anlass sagte. «Telemigration» dürfte angesichts der demografischen Entwicklung deutlich zunehmen. Ausserdem erwartet Baldwin, dass künstliche Intelligenz (KI) die Effizienz von Arbeitskräften vergrössern wird. KI helfe auch dabei, dass Arbeitskräfte in Schwellenländern zunehmend zu denjenigen in Industrieländern aufschliessen würden.
Sozial- und Rentensysteme kommen unter grösseren Druck: In jedem Fall macht es die schrumpfende und alternde Bevölkerung nötig, die Ausgestaltung des Sozialstaats in vielen Ländern zu überdenken. «Reformen und Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme dürften unerlässlich werden, um die gesellschaftliche Stabilität über alle Generationen hinweg zu erhalten», sagt Groth. Die bestehenden Rentensysteme drohten unter der Last einer abnehmenden Erwerbsbevölkerung und der bisher weiter zunehmenden Langlebigkeit mit immer längeren Rentenbezugsphasen ihre Nachhaltigkeit zu verlieren.
Schliesslich müsse der immer kleinere, jüngere Teil der Gesellschaft die Kosten von immer mehr Rentnern schultern, während die Wirtschaft als Folge der Entwicklung weniger stark wachse, so bringt es die McKinsey-Studie auf den Punkt. Da für die heute jüngeren Generationen der Vermögensaufbau zur Herausforderung wird, könnte mittelfristig der traditionelle Fluss von Vermögen zwischen den Generationen kleiner ausfallen.
Immer grössere Silver Economy: Laut der Studie dürften Senioren bis 2050 einen Viertel des globalen Konsums ausmachen. Damit würde sich dieser Anteil im Vergleich mit dem Jahr 1997 verdoppeln. Auch werde sich der weltweite Konsum stärker in Schwellen- und Entwicklungsländer verlagern, sagte Madgavkar.
Folgen der Entvölkerung für die Umwelt: Groth wirft auch die Frage auf, welche Auswirkungen die Depopulation auf die Umwelt haben könnte. Weniger Leute konsumieren schliesslich weniger Ressourcen, was sich als Chance für Klima und Umwelt herausstellen könnte. Allerdings könnte die Entvölkerung auch dazu führen, dass die Bevölkerung aufgrund sinkenden Wohlstands die nötigen Anpassungen für den Klimaschutz nicht finanzieren kann – und dass weniger Steuereinnahmen für eine entsprechende Politik zur Verfügung stehen.
Baldwin indessen geht davon aus, dass der Klimawandel im Umkehrschluss auch für eine starke Migration von Menschen aus Regionen mit zunehmend unwirtlichem Klima sorgen wird. Er kritisierte an dem Anlass, Politiker unterschätzten immer noch den demografischen Wandel. «Sie sollten diese Entwicklung viel ernster nehmen», sagte er.
Demografische Entwicklung wird immer noch unterschätzt
Die Studie des McKinsey Global Institute sieht eine Kombination aus höherer Produktivität, längeren Arbeitszeiten pro Person, der Zuwanderung von qualifizierten Erwerbstätigen, in Verbindung mit höheren Geburtenraten, als Lösung für das Problem der Entvölkerung. Keiner dieser Hebel reiche allein aus, und jeder davon sorge auch für Herausforderungen. Letztlich brauchten die betroffenen Länder nicht weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag, um mit der demografischen Entwicklung umzugehen.