Der Historiker Rolf Graber legt eine neue Geschichte der direkten Demokratie in der Schweiz vor. Er betont die Bedeutung antielitärer Widerstandsbewegungen.
Das 175-Jahr-Jubiläum der Gründung des schweizerischen Bundesstaats ist quer durchs politische Spektrum eine Gelegenheit, das Ereignis ins eigene Narrativ einzubetten. Während Freisinnige die Errungenschaften des Liberalismus feiern, spinnt die Linke eine «progressive» Erfolgsgeschichte von 1848 über den Landesstreik und das Frauenstimmrecht bis zur Klimastreik-Bewegung.
Aus Sicht von Rolf Graber sind beide Erzählungen falsch. Der Historiker stellt ihnen eine alternative Erzählung gegenüber. Seine Grundthese ist, dass die moderne schweizerische Demokratie massgeblich durch Konflikte und Widerstand entstanden ist. Diese haben eine längere Tradition, als das Fremd- und Selbstbild der Schweiz als Hort von Frieden und Stabilität vermuten liesse.
Tatsächlich stützten sich die Bewegungen des 19. Jahrhunderts auf eine alte «Widerstandskultur», wie Graber betont. Weil die Bauernkriege in Bern und Luzern im 17. Jahrhundert den Aufbau stehender Heere verhindert hatten, war das Repressionspotenzial der eidgenössischen Obrigkeiten begrenzt. Entsprechend gut waren die Erfolgsaussichten von Rebellionen.
Neues Freiheitsverständnis
Die Volksrechte mussten gegen den Widerstand der Eliten erkämpft werden, wobei diese immer wieder wechselten. Im Zuge der Französischen Revolution begannen viele Schweizer, die Verhältnisse im eigenen Land zu hinterfragen. Das ist zugleich ein Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbild, die Graber anhand verschiedener Beispiele beschreibt. So forderten die Unterzeichner des «Stäfner Memorials» von 1794 von der Stadtzürcher Obrigkeit mehr Rechte für die benachteiligte Landbevölkerung.
Interessant ist dabei, wie sich das Freiheitsverständnis verändert hat. Widerstandsbewegungen vor dem 19. Jahrhundert beriefen sich meist auf eine Vorstellung von Freiheit als ein Privileg, das man kraft göttlichen Willens oder der eigenen militärischen Stärke erhält. Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution änderte sich diese Vorstellung. Freiheit wurde nicht mehr als Privileg, sondern als unveräusserliches Recht jedes Menschen verstanden.
Antielitäre Mythen
Gleichzeitig beriefen sich Widerstandsbewegungen bei ihren Forderungen nach Mitsprache auf vormoderne Formen der Demokratie wie die Landsgemeinde, die wiederholt als Referenzmodell diente. Die Regenerationsbewegung in den 1830er Jahren bezog sich ebenso auf sie wie die Demokraten in den 1860ern. Die Landsgemeindekantone selber waren von dem Wandel des Demokratieverständnisses nicht ausgenommen. So gaben sich Glarus und Schwyz im Zuge der Regeneration neue Verfassungen, die individuelle Freiheitsrechte und Gewaltenteilung verankerten.
Neben der Versammlungsdemokratie dienten auch Mythen immer wieder der Legitimation von Widerstand. Graber streicht dabei hervor, dass Mythen in der Schweizer Geschichte nicht (nur) eine staatstragende Funktion hatten, sondern «zugleich eine antietatistische, antiautoritäre und antielitäre Stossrichtung» erhielten.
Die Gegenüberstellung von Volk und Eliten erinnert an populistische Rhetorik in der heutigen Politik. Tatsächlich stellt Graber fest, «dass Elemente der modernen Populismusdiskussion schon in den Debatten der Regenerationszeit präsent sind».
Aufstand der Verlierer
Die Widerstandsbewegungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts richteten sich gegen aristokratische und konservative Obrigkeiten. Nachdem die Liberalen im 19. Jahrhundert in immer mehr Kantonen an die Macht gekommen waren, wurden sie selbst zunehmend zum Ziel von Rebellionen und Forderungen nach mehr Mitbestimmung. Denn im Fokus der Liberalen standen Rechtsgleichheit, wirtschaftliche und religiöse Freiheit. Die demokratische Mitsprache hatte keine Priorität und sollte sich nach ihren Vorstellungen auf die Wahl von Repräsentanten beschränken. Es brauchte neue Bewegungen, welche die Freisinnigen zu Zugeständnissen zwangen.
Ein wiederkehrendes Merkmal der Widerstandsbewegungen ist, dass sie partizipatorische mit materiellen Forderungen verbanden. Die Träger der Aufstände waren laut Graber oft «die Verlierer und Verliererinnen der von den Liberalen vorangetriebenen wirtschaftlichen Modernisierung». Graber nennt als Beispiele Heimarbeiter, Handwerker oder Kleinbauern. Typischerweise waren es Menschen vom Land; der Historiker kommt daher zum Schluss: «Träger der Demokratiebewegungen im 19. Jahrhundert war die ländliche Bevölkerung.»
Bogen zur Moderne
Graber stellt damit die «liberale Meistererzählung» infrage, gemäss der die moderne schweizerische Demokratie im Wesentlichen das Werk des Freisinns ist. Zugleich kritisiert er aber auch, dass von linker Seite eine direkte Linie vom Frühliberalismus zur modernen Sozialdemokratie gezogen und damit eine eigene «Meistererzählung» gesponnen wird. Dabei passe, schreibt Graber, «der Frühliberalismus schlecht in die Ahnengalerie der politischen Linken».
Das hält Graber nicht davon ab, selber den Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Die Exklusion breiter Teile der Bevölkerung zur Zeit des Ancien Régime stellt er auf eine Stufe mit dem Ausschluss von Ausländern vom Stimmrecht heute. Das ist, gerade mit Blick auf das gewandelte Freiheitsverständnis und die Rechtsstaatlichkeit, ein gewagter Vergleich. Recht hat Graber indes mit der Feststellung, «dass die Entwicklung der halbdirekten Demokratie in der Schweiz eine Geschichte von Exklusion und Inklusion ist». Oft spielten die beiden Gegensätze zusammen. Denn je mehr Mitspracherechte die Bürger geniessen, desto geringer ist ihr Interesse daran, diese Rechte anderen Gruppen zuzugestehen; nicht zuletzt dadurch erklärt sich die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Jede Bestrebung nach Inklusion trifft auf die erbitterte Ablehnung jener, welche die Macht haben. Das wussten die demokratischen Rebellen früherer Jahrhunderte nur zu gut.
Rolf Graber: Labor der direkten Demokratie. Konkurrierende Wahrnehmungen der politischen Mitbestimmung in der Schweiz. Zürich: Chronos, 2023. 144 S.