Die Logik der polnischen Politik nach der Wende von 1989 ist nicht leicht zu verstehen. Polens Geschichte ist von Traumata belastet und seine Souveränität entsprechend prekär. Unentwegt toben reale oder imaginierte Überlebenskämpfe, welche tiefe Narben hinterlassen.
In der polnischen Geschichte geht es – verkürzt gesagt – um Teilungen und Aufstände. Im 19. Jahrhundert existierte Polen nicht auf der europäischen Landkarte, im 20. Jahrhundert wurde die wiedererstandene Republik nach nur zwanzig Jahren das doppelte Opfer von Hitlers und Stalins Aggression.
An Traumata mangelt es also nicht. Der Jurist Jaroslaw Kuisz und die Soziologin Karolina Wigura betreiben seit 2009 das Onlineportal «Kultura Liberalna». Nun haben sie gemeinsam einen Essay mit dem Titel «Posttraumatische Souveränität» verfasst. Hier deuten sie die polnischen Wirren der letzten Jahre aus einer historischen Perspektive.
Aus ihrer Sicht steigert gerade die wiederholte Erfahrung des Staatszusammenbruchs in Polen den Wert der nationalen Souveränität, der in westlichen Ländern schon längst anderen Staatszielen wie der Sicherung von Wohlfahrt, Gesundheit oder Infrastruktur gewichen ist. Dieses unterschiedliche Staatsverständnis kann bisweilen zu grotesken Episoden führen. So rief der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki im Oktober 2021 symbolisch zu den Waffen, falls die Europäische Kommission im Streit um Polens Rechtsstaatlichkeit «einen dritten Weltkrieg» anzetteln würde.
Ein Land «in Ruinen»
Kuisz und Wigura verstehen sich als Brückenbauer zwischen Ost und West und versuchen aufzuzeigen, warum der Begriff der «Souveränität» einen ganz anderen Klang in den Ohren der polnischen Bevölkerung hat. Gerade weil die Nation auch in der jüngsten Vergangenheit immer in ihrer Existenz bedroht war, stellt die «posttraumatische Souveränität» eine wichtige politische Antriebskraft dar, die weit über die konservative Wählerschaft der PiS hinausreicht.
Die beiden Autoren sprechen von «liberalen Emotionen», die gerade auch vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkmächtig werden. Ihre These lautet, dass die «posttraumatische Souveränität» Polens nach dem 24. Februar 2022 auch auf den Westen übergegriffen hat. Vor dem russischen Einmarsch wurden warnende Stimmen aus Polen als Alarmismus abgetan. Heute herrscht in vielen europäischen Hauptstädten die Überzeugung, dass in der Ukraine auch die Souveränität der westlichen Staaten verteidigt werden müsse.
Noch ausführlicher hat Kuisz seine These der «posttraumatischen Souveränität» im Buch «The New Politics of Poland» entwickelt. Er analysiert aus einer Vogelperspektive den Glanz und das Elend von Jaroslaw Kaczynskis PiS-Partei.
Ein wichtiger Erfolgsfaktor bestand darin, dass Kaczynski dem Wahlvolk 2015 einhämmern konnte, Polen liege «in Ruinen» und müsse gerettet werden. In einem weitherum beachteten Interview für die «Financial Times» wiederholte Kaczynski 2016 seine Diagnose und hielt in seinem typischen Duktus fest: «Die Elite sagt, dass in Polen alles in Ordnung sei. Aber es ist nichts in Ordnung. Überhaupt nichts ist in Ordnung.»
Alsbald gelang es den Parteistrategen, in ihrem Propagandadiskurs den Liberalismus auf die gleiche Ebene wie den Faschismus und den Kommunismus zu stellen. Damit etablierte Kaczynski gemeinsam mit Orban innerhalb der EU eine illiberale Allianz. Es war eine Frontstellung mit Ansage: Bereits 2011 hatte Kaczynski laut von einem «Budapest in Warschau» geträumt.
Veritable Verfassungskrise
Kuisz zeichnet nach, wie Kaczynskis PiS-Partei nach dem Wahlsieg von 2015 die Justiz, die Medien und schliesslich auch die Seelen der Menschen manipulierte. Er verschweigt nicht, dass auch Tusks liberale Bürgerplattform versuchte, das Verfassungsgericht nach eigenem Gusto zusammenzusetzen. Allerdings kam es erst unter der PiS-Regierung zu einer veritablen Verfassungskrise, die bis heute andauert. Die PiS brachte auch schnell Radio und Fernsehen unter ihre Kontrolle.
Den Effekt beschrieb der Osteuropahistoriker Timothy Garton Ash so: «Neben dem polnischen Staatsfernsehen sieht Fox News wie eine kanadische Sendestation aus.» Als letzten Trumpf spielte Kaczynski die katholische Karte und holte für seine Partei den Segen der Kirche. Die PiS gewann so auch die «Regierung über die Seelen» – diese romantische Vision geht auf den Nationaldichter Adam Mickiewicz zurück.
Obwohl die PiS eine radikal europaskeptische Richtung einschlug, war Kaczynski klar, dass ein «Polexit» verheerende Folgen für die eigene Volkswirtschaft haben würde. Der Brexit wurde deshalb zu einem Fanal für die PiS: Zuvor hatte Kaczynski geglaubt, er könne innerhalb der EU gegenüber der europhilen Achse Berlin–Paris eine euroskeptische Achse Warschau–London errichten.
Das wahre Ausmass der britischen EU-Feindlichkeit wurde nicht nur von David Cameron, sondern auch von Kaczynski unterschätzt. Nach dem britischen Austritt aus der EU setzte Kaczynski seine Spiegelfechtereien allein fort: Als Donald Tusk 2017 als Präsident des Europäischen Rates wiedergewählt wurde, erhielt er ein hervorragendes Resultat – die einzige Gegenstimme kam aus Polen. Gleichzeitig machte Kaczynski klar, dass er Polens Mitgliedschaft in der EU und in der Nato nur als eine Zwischenlösung betrachtete. Sein Zukunftsziel bestand in der Schaffung einer Vierten Republik mit einer autoritären Verfassung.
Es fällt westlichen Beobachtern oft schwer, den politischen Schleuderkurs Polens zu verstehen. Der Deutungsansatz der «posttraumatischen Souveränität» zeigt die schlecht verheilten Narben der polnischen Nation, die von realen oder imaginierten Überlebenskämpfen herrühren.
Neben dem prekären Illiberalismus der PiS-Partei gibt es jedoch auch positive Folgen der «posttraumatischen Souveränität»: Der heldenhafte Widerstand der Gewerkschaft Solidarnosc und der Kirche spielte in den achtziger Jahren eine entscheidende Rolle bei der Beendigung der kommunistischen Herrschaft in ganz Osteuropa.
Jaroslaw Kuisz, Karolina Wigura: Posttraumatische Souveränität. Ein Essay. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023. 184 S., Fr. 25.90.
Jaroslaw Kuisz: The New Politics of Poland. A Case of Post-Traumatic Sovereignty. Manchester University Press, Manchester 2023. 364 S., Fr. 46.90.