Arme Rentner, verstärkter Finanzdruck auf dem Mittelstand: Diese Behauptungen sind in der Schweiz oft zu hören. Wahr ist das Gegenteil. Das bekräftigen die neusten Daten des Bundes.
Zwei populäre Volksinitiativen verlangen einen starken Ausbau der AHV. Absender des ersten Vorstosses waren die Gewerkschaften. Diese Initiative hat das Volk 2024 angenommen. Deshalb steigen 2026 alle AHV-Jahresrenten um 8,3 Prozent (13. Monatsrente). Kosten: 4 bis 5 Milliarden Franken pro Jahr. Bezahlen werden es vor allem die Jüngeren.
Die zweite AHV-Volksinitiative stammt von der Mitte-Partei. Diese will die Ehepaar-Renten erhöhen; der bisherige Ehepaar-Deckel (maximal 150 Prozent einer Einzelrente) soll wegfallen. Kosten: 3,5 bis 4 Milliarden Franken pro Jahr – wohl ebenfalls weitgehend zulasten der Jüngeren. Das Begehren ist im Parlament hängig. Auch diese Initiative hat sehr gute Chancen.
Aus sozialpolitischer Optik geht es bei beiden Ausbauvorlagen grösstenteils um Verschwendung. Denn es gibt in der Schweiz keine allgemeine Rentnerarmut. Und die angebliche Heiratsstrafe in der AHV gibt es auch nicht – da die Heiratsvorteile wie Witwenrenten und Einkommenssplitting weit stärker ins Gewicht fallen als die Nachteile. Der am Montag publizierte Datenkranz der Bundesstatistiker zeichnet das neuste Bild über die Finanzlage der Privathaushalte in der Schweiz. Die Daten beruhen auf der Erhebung von 2023 über die Einkommen und Lebensbedingungen; die erfassten Einkommen betreffen das Jahr 2022. Befragt wurden rund 9000 Haushalte mit total über 19 000 Personen.
5,5 Prozent mit Entbehrungen
Die verfügbaren Einkommen der Rentnerjahrgänge lagen im Mittel (Median) mit rund 44 200 Franken pro Person zwar deutlich unter den Einkommen der Erwerbsjahrgänge (56 100 Franken). Doch Rentner haben meist deutlich tiefere Kosten und höhere Vermögen als die Jüngeren.
Ein genaueres Bild über die Finanzknappheiten liefern die Entbehrungen. Die Statistiker stellen zum Beispiel folgende Fragen: Sind Sie bei Zahlungen etwa für Miete, Kreditzinsen oder Stromrechnung im Rückstand? Könnten Sie eine unerwartete Ausgabe von 2500 Franken innert eines Monats bezahlen? Müssen Sie aus finanziellen Gründen auf eine regelmässige kostenpflichtige Freizeitbeschäftigung verzichten? Weitere Fragen betreffen etwa Ferien, das Ersetzen von abgenutzten Möbeln und Kleidern sowie den Internetzugang.
Wer bei mindestens fünf von dreizehn Fragen einen Verzicht aus finanziellen Gründen meldet, zählt zu den Personen mit Entbehrungen. In der Erhebung von 2023 lag die Entbehrungsquote insgesamt bei 5,5 Prozent.
Bei den Rentnerjahrgängen war die Quote deutlich tiefer als bei den Erwerbsjahrgängen (vgl. Grafik). Und innerhalb der Rentnerjahrgänge lag die Quote bei den Paaren tiefer als bei den Alleinstehenden. Auch die Erhebungen zur generellen finanziellen Zufriedenheit zeigen das gleiche Bild: Der Anteil der Zufriedenen ist bei den Rentnerjahrgängen mit fast 71 Prozent deutlich grösser als bei den Erwerbsjahrgängen (54 Prozent) – und bei den Paaren ab Alter 65 ist der Anteil besonders hoch. Die AHV-Initiative der Mitte liegt aus dieser Sicht mit ihrer Verstärkung der Umverteilung von Jung zu Alt und von Nichtverheirateten zu Verheirateten doppelt schief.
Besser statt schlimmer
Die Urheber von teuren Volksinitiativen suggerieren auch oft, dass sich die Finanzlage der Privathaushalte in der Schweiz verschlimmert habe. Auch hier zeigen die Daten ein anderes Bild. Für die genannten Entbehrungsquoten gibt es vergleichbare Daten bis 2014 zurück. Die ausgewiesene Quote für die Gesamtbevölkerung ist unter Berücksichtigung der statistischen Unschärfen stabil geblieben.
Ähnliches gilt bei der Betrachtung der Personen, deren Einkommen unterhalb der von der Konferenz für Sozialhilfe definierten Armutsgrenze liegt. Hier reicht die Datenreihe bis 2007 zurück. Die Armutsquote lag 2023 bei 8,1 Prozent, und 2007 betrug sie 9,3 Prozent.
Die Kaufkraft der Löhne hat in der genannten Periode zugelegt. Das gilt auch für die verfügbaren Einkommen (Bruttoeinkommen minus obligatorische Ausgaben wie Sozialversicherungsbeiträge, Steuern und Krankenkassenprämien für die Grundversicherung). Das mittlere verfügbare Pro-Kopf-Einkommen lag in der Erhebung von 2023 mit rund 52 000 Franken kaufkraftbereinigt gut 10 Prozent höher als 2007. Gemeint ist hier das statistische «Äquivalenzeinkommen», das den Vergleich von Haushalten verschiedener Grössen ermöglicht.
Wegen einer Änderung der Erhebungsmethode sind die jüngsten Angaben nur mit den Daten bis 2015 zurück direkt vergleichbar; mit der neuen Methode lagen die ausgewiesenen Einkommen 2015 tiefer als ein Jahr zuvor mit der alten Methode. Seit 2015 war der Median der verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen teuerungsbereinigt ziemlich stabil – mit einer kleinen Zunahme bis 2023. So taugt dieser Vergleich nicht als Basis für eine Krisengeschichte zum Schweizer «Mittelstand». Zu berücksichtigen wären zudem der Rückgang der Normalarbeitszeiten und der stärkere Konsum von Gesundheitsleistungen.
Von Österreich überholt?
Die Erhebungen zu den Einkommen und Lebensbedingungen sind europaweit standardisiert. Der Lebensstandard in der Schweiz gehöre «nach wie vor zu den höchsten in Europa», stellen die Bundesstatistiker fest. Gemessen am Median der verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen von 2022 lag die Schweiz kaufkraftbereinigt hinter Luxemburg, Norwegen und Österreich auf Platz 4. Österreich ist laut den Bundesstatistikern bei diesem Kriterium erstmals vor der Schweiz. Das mag erstaunen, da die Durchschnittslöhne und die Wirtschaftsleistung pro Kopf in der Schweiz kaufkraftbereinigt immer noch deutlich über dem österreichischen Niveau liegen.
Gemessen an den deklarierten Entbehrungen standen mit Ausnahme von Schweden und Slowenien alle anderen erfassten Länder schlechter da als die Schweiz. Die Entbehrungsquoten waren im Mittel unserer vier Nachbarländer und auch im Durchschnitt der EU-Staaten etwa doppelt so hoch wie in der Schweiz.