Bei seiner Einreise nach Algerien wurde Sansal noch am Flughafen unter fadenscheinigen Gründen von der Polizei verhaftet. Es droht ihm eine langjährige Haftstrafe.
Über jeder Inhaftierung eines Intellektuellen oder Dissidenten durch eine autoritäre Macht schwebt der Schatten von Alexander Nawalny, der im Februar 2024 in russischen Kerkern in der Strafanstalt Charp im Ural starb. Die Verhaftung des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal am 16. November in Algier durch die Militärpolizei lässt das Schlimmste befürchten.
Viel ist über sein Schicksal bis jetzt nicht bekannt. Er reiste als französisch-algerischer Doppelbürger aus Frankreich in sein Heimatland. Bei der Ankunft wurde er noch am Flughafen verhaftet. Über die Gründe für die Verhaftung und über seinen Aufenthalt schweigen die Behörden. Es fehlt jede Spur von ihm.
Boualem Sansal ist ein 75-jähriger französisch-algerischer Schriftsteller, mit dem ich eng befreundet bin. Er hat zahlreiche Literaturpreise erhalten, darunter 2015 den Preis der Académie française. Sein Vater ist marokkanischer Herkunft, er wurde als Ingenieur und Wirtschaftswissenschafter ausgebildet.
Nach der Veröffentlichung seines Romans «Dis-moi le paradis» (2003; dt. «Erzähl mir vom Paradies», 2004), der sich sehr kritisch mit der algerischen Regierung und den Islamisten auseinandersetzt, wurde er aus dem Staatsdienst entlassen. Mit seinem Rossschwanz aus weissen Haaren und seinem Apachengesicht ist Boualem Sansal das Paradebeispiel eines gutmütigen, aber sturen Rebellen. Er beleidigt nicht, beschimpft nicht, er ist aber so unbeugsam wie unerschrocken. Seine Verhaftung hat das Zeug für eine Staatsaffäre und stellt eine schwerwiegende Belastung dar in den französisch-algerischen Beziehungen.
Drohungen gegen Autoren
Alles beginnt damit, dass Kamel Daoud am 4. November im Restaurant Drouant der Prix Goncourt für sein Buch «Houris» verliehen wird. Die Ehrung findet ungeachtet der Verleumdungskampagnen statt, die von Algier aus orchestriert und über staatsnahe Stellen, darunter die von Edwy Plenel gegründete islamistisch-trotzkistische Website Mediapart, inszeniert werden.
Eine Stunde lang erklärt Daoud den zehn Juroren des Preises, zu denen ich gehöre, dass er auf einer schwarzen Liste von Personen stehe, die aufgespürt werden sollten, dass er habe umziehen und seinen Sohn in eine andere Schule schicken müssen und dass er beim Betreten des Restaurants Angst gehabt habe, von einem Fanatiker zusammengeschlagen oder erstochen zu werden, obwohl etwa vierzig Zivilbeamte der französischen Polizei anwesend waren.
In der algerischen Presse erschienen zahlreiche Artikel, in denen Daoud, der ein guter Freund von Boualem Sansal ist, beschuldigt wurde, seine ehemalige Frau geschlagen und die Geschichte einer Patientin seiner Frau, die Psychiaterin ist, plagiiert zu haben. Mit dem Prix Goncourt, mit dem sowohl ein politisches als auch ein literarisches Zeichen gesetzt werden sollte, haben die algerisch-französischen Beziehungen eine brüske Wendung genommen.
Einige Tage zuvor, Ende Oktober, hatte Emmanuel Macron einen offiziellen Versöhnungsbesuch in Marokko absolviert, das er in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft gemieden hatte. Während dieses Besuchs bestätigte Macron, was er bereits im Sommer angekündigt hatte: die Anerkennung der Souveränität Rabats über die Westsahara, den Zankapfel mit Algerien.
Damit war das Fass voll für die algerischen Behörden, die eine regelrechte Hetzkampagne gegen Frankreich eröffneten. Am 22. November publizierte die offizielle Nachrichtenagentur Alger Presse Service eine Erklärung: «Das macronistisch-zionistische Frankreich nimmt Anstoss an der Verhaftung von Boualem Sansal am Flughafen von Algier.» Mit anderen Worten: Die jüdische Lobby sorge in Paris für Gesetze, um den Islam und Algerien zu diskreditieren.
Sansal redet Klartext
Zu diesem Psychodrama gehört auch ein Interview, das Boualem Sansal dem französischen Medium «Frontières» gab. Darin skizziert er die Position Marokkos und fügt hinzu, dass der gesamte westliche Teil Algeriens vor der französischen Kolonialisierung marokkanisch war, darunter die drei Städte Tlemcen, Oran und Mascara. Dann fügte er einen Satz hinzu, der die algerische Regierung in höchste Aufregung versetzte: Frankreich habe Marokko nicht kolonialisiert (es war von 1912 bis 1955 ein Protektorat), weil es «ein grosser Staat» sei, der seit 13 Jahrhunderten existiere. «Es ist leicht, kleine Entitäten zu kolonialisieren, die keine Geschichte haben, aber einen Staat zu kolonialisieren, ist schwierig.»
Die Regierung der «kleinen Entität» sah rot. Zur Erinnerung: Algerien war von 1516 bis 1835 der osmanischen Regentschaft unterworfen, behielt jedoch eine weitgehende Autonomie. Doch es ist Frankreich, gegen das die algerische Führung ihre Schläge richtet, weil die Hohe Pforte des Osmanischen Reichs muslimisch war. Und Boualem Sansal hat sich mit seiner Aussage des Verrats und der Verletzung der territorialen Integrität seines Landes schuldig gemacht.
Die Entwicklung wäre nicht so dramatisch, wenn Macron zuvor nicht auf beunruhigende Weise laviert hätte. In Algier dient der Verweis auf den französischen Feind nur dazu, die unauslöschliche Schuld wieder aufleben zu lassen, die Paris angeblich gegenüber seinem ehemaligen Département hat. Am erstaunlichsten war, dass dieses Thema vom damaligen Präsidentschaftskandidaten Macron 2017 bei einem Besuch in Algier aufgegriffen wurde.
Der künftige Präsident sprach damals von der französischen Kolonialisierung als einem «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». In einer mimetischen Annäherung an Jacques Chirac gestand er, dass er mit Algerien das Gleiche tun wolle wie sein Vorgänger im Élysée-Palast mit der Shoah im Jahr 1995.
Der Vergleich war enorm, aber Macron stellte sich auf den Standpunkt, er sei gerechtfertigt durch die Tatsache, dass der Algerienkrieg «das Undenkbare» in der französischen Erinnerungspolitik sei. Das Undenkbare, wirklich? Dieses Undenkbare ist allerdings sehr gesprächig, diese stumme Geschichte ist weitschweifig, man kann die Tausende von Büchern, die Hunderte von Dokumentarfilmen und die Dutzende von Filmen, die diesem Krieg gewidmet sind, nicht mehr zählen.
Frankreichs ewige Schuld
Algier scheint nicht existieren, nicht atmen, nicht denken zu können, ohne Frankreich, den ewigen und unerlässlichen Gegner, zu verteufeln. Es drängt sich ein Eindruck auf: Macron will zu Algerien nicht auf Distanz gehen. Vielleicht ohne es zu wissen, spricht er weiterhin die religiöse Sprache der Reue, um Paris und Algier nicht auf eine friedliche Partnerschaft zu verpflichten. Er ist Atlas, der diese ewige Last trägt, die er der Nachwelt anvertraut.
Er stellt wider besseres Wissen eine zweifelhafte Verbindung zwischen der Kolonialisierung und dem Holocaust her, die zwei gänzlich unterschiedliche Phänomene sind. Die Wunde muss weiter eitern: Aber warum?
Wenn man der eigenen Geschichte ins Gesicht schauen muss, muss man zugleich auch die Realität betrachten: Die algerischen Dissidenten suchen in Frankreich Zuflucht, die algerische Jugend wendet sich nach Frankreich, der ebenso verhassten wie begehrten Stiefmutter, und giert nach Einreisevisa.
Algerien will das Opfer Frankreichs bleiben, um es zur Rechenschaft zu ziehen und die Erinnerungsprämie weiterhin einzufordern, die Macron im Oktober 2021 so treffend angeprangert hatte, bevor er sich, erschrocken über seine eigene Kühnheit, anders besann. In einer langen Reihe von Abschweifungen kann der französische Präsident manchmal eine unbequeme Wahrheit ausplaudern, die seine Gesprächspartner in Verlegenheit oder Rage versetzt.
Darin besteht das Wesen seines Lavierens: Am Ende verärgert er alle, ohne jemanden zu befriedigen. Denn der französische Präsident will keine Lösungen herbeiführen, er will im ewigen Pathos verharren. Wenn es richtig war, die Verbrechen des Kolonialismus zu verurteilen, hätte er auch an die der Unabhängigkeitskämpfer und insbesondere an das Massaker an den Harkis erinnern können. Eine klare Rede hätte den gordischen Knoten auch mit Algier durchschlagen und eine leidenschaftslose Zukunft für beide Länder eröffnen können. Boualem Sansal ist der Sündenbock für die Ambivalenzen der französischen Regierung.
Der Historiker Benjamin Stora, der als offizieller Abgesandter der französischen Regierung mit der Leitung der Versöhnungsarbeit betraut ist, übte am vergangenen Sonntag im Sender France TV eine erstaunliche Kritik an Boualem Sansal. Anstatt ihn zu verteidigen, betonte er, dass der Autor nicht frei von Schuld sei, da er mit seinen Äusserungen «das algerische Nationalgefühl verletzt» habe.
Kurz zuvor hatte der Politologe Nedjib Sidi Moussa, der den Salafisten nahesteht, Boualem Sansal scharf kritisiert und ihn beschuldigt, seit einigen Jahren feindselige Haltungen gegen Einwanderer und Muslime zu schüren. Wie könnte man hier nicht an die Blindheit der französischen Linken gegenüber Solschenizyn denken? An die abfälligen Bemerkungen eines Jean Daniel, Direktor des «Nouvel Observateur», der den russischen Dissidenten am 11. April 1975 schulmeisterlich darauf hinwies, dass man die Vergehen des Kapitalismus und des europäischen Kolonialismus nicht vergessen dürfe.
Boualem Sansal, ein Freiheitskämpfer und grosser französischsprachiger Schriftsteller, muss angesichts der Willkür einer militaristisch-islamistischen Macht bedingungslos verteidigt werden. Jegliche Zurückhaltung ist gleichbedeutend mit der Billigung dieser vom algerischen Staat angeordneten Entführung.
Pascal Bruckner ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Paris. – Übersetzt aus dem Französischen.