Die Beziehung zwischen den beiden Ländern durchlief in der Geschichte mehrere schwere Krisen. Seit Trump zum zweiten Mal im Amt ist, erlebt Russland eine Neuentdeckung der USA.
Für die Potsdamer Konferenz im Juli 1945 bereitete das Red Banner Red Army Song and Dance unter der Leitung von Alexander Alexandrow eine Aufführung von zwei Liedern der Alliierten vor. Das eine war britisch, das berühmte «It’s a Long Way to Tipperary», das andere war das amerikanische «There is a Tavern in the Town» (in der russischen Version «Kabatschok»). Später wurden die Lieder auf Schallplatten in Russland aufgenommen und erfreuten sich grosser Beliebtheit, ebenso wie andere Songs, wie zum Beispiel «Coming in on a Wing and a Prayer», das 1944 von Leonid und Edith Utesow dargebracht wurde.
«Kabatschok» und «Tipperary» kenne ich seit meiner Kindheit auswendig. Denn wenn meine Eltern – die Generation derer, die während des Krieges in der Schule waren – mit Freunden zusammenkamen, sangen sie Lieder, die in den vierziger Jahren populär gewesen waren. Das waren nicht russische Soldatenlieder, sondern auch Stücke, die eindeutig aus dem Westen importiert waren.
Am Morgen des 9. Mai 1945, nachdem Juri Lewitan um drei Uhr morgens im Radio die Unterzeichnung der deutschen Kapitulationsurkunde verkündet hatte, strömten begeisterte Menschenmassen auf die Strassen Moskaus. Mein Vater, der damals siebzehn Jahre alt war, wurde um vier Uhr morgens von einem Klassenkameraden geweckt, und sie eilten zum Roten Platz, der bereits mit jubelnden Menschen überfüllt war.
Begeisterung ohne Grenzen
Auch auf dem Mochowaja-Platz, wo sich die amerikanische Botschaft befand, herrschte den ganzen Tag über ein reges Treiben. Botschaftsmitarbeiter hingen sich aus den Fenstern und von den Balkonen und grüssten die Moskauer. «Wir waren gerührt und erfreut über diese Manifestation öffentlicher Gefühle, wussten aber nicht, wie wir darauf reagieren sollten», so erinnerte sich George Kennan, der damals noch Botschaftsrat war und noch nicht für sein «Langes Telegramm» berühmt war.
Das Problem bestand darin, dass die begeisterten russischen Bürger nicht nur jeden Rotarmisten in die Arme nahmen und herzten, sondern mit dem Botschaftspersonal der befreundeten Macht nicht anders verfuhren. Kennan, der Russisch sprach, wagte es, auf die Brüstung am Eingang der amerikanischen Mission zu klettern. Er rief aus: «Herzlichen Glückwunsch zum Tag des Sieges. Alle Ehre für die sowjetischen Verbündeten.»
Das russische Bewusstsein ist zutiefst auf die USA zentriert. Es vereint eine Mischung aus Bewunderung und Hass, Überlegenheitsanspruch und Minderwertigkeitskomplex. Man reklamiert geistige Überlegenheit bei materieller Unterlegenheit.
Stalin lud einst amerikanische Spezialisten in die Sowjetunion ein, und viele seiner gigantischen Industriekomplexe wurden von Amerikanern entworfen. Einer der berühmtesten Architekten der Stalin-Ära, Boris Iofan, besuchte 1935 die USA und sprach ganz offen darüber, dass «er alles von einem bestimmten Standpunkt aus betrachte: was von all dem ‹nach Hause gebracht› werden solle».
Die Logik der sowjetischen Aufholentwicklung implizierte stets den Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten. Die beiden wichtigsten Slogans der sechziger Jahre unter Chruschtschow lauteten: «Die heute junge Generation des sowjetischen Volkes wird mit Gewissheit im Kommunismus leben» und «Aufholen bedeutet: Amerika punkto Pro-Kopf-Produktion von Fleisch, Milch und Butter überholen».
Nikita Chruschtschow beharrte bei der Eröffnung der amerikanischen Nationalausstellung in Moskau auf den Vorteilen des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus: Am Modell einer typischen amerikanischen Küche entbrannte ein Streit zwischen dem Parteiführer und Präsident Richard Nixon, weshalb die Diskussion als «Küchendebatte» in die Geschichte einging. Und dann war da noch Chruschtschows historische Reise in die USA im Jahr 1959, die ihn, beeindruckt von grossen Maisernten und vollen Supermärkten, dazu inspirierte, viele Anleihen beim Systemfeind zu machen.
Der Küchen-Wettbewerb ging friedlich weiter – im Weltraum; und militärisch – bei den Atomraketen.
Der militärische Wettlauf löste die Kubakrise aus, die Welt schrammte haarscharf an einem nuklearen Showdown vorbei. Als aber John F. Kennedy 1963 in Dallas ermordet wurde, weinte die halbe Sowjetunion um den rothaarigen Prinzen von Amerika – so gross war die Sympathie für diesen jungen amerikanischen Politstar.
Nixon anerkannte die Fortschrittlichkeit der sowjetischen Raketentechnologie – der Sputnik-Schock sass den Amerikanern noch im Nacken. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass in den USA Farbfernseher und Waschmaschinen hergestellt würden. Chruschtschow konterte, dass viele amerikanische Erfindungen überflüssig seien, und fragte listig, ob es denn schon eine Maschine gebe, die den Menschen das Essen in den Mund lege und in den Rachen schiebe.
Mit Breschnew auf Wildschweinjagd
Nukleare Parität mit den Vereinigten Staaten zu erreichen, war die fixe Idee der sowjetischen Führung und insbesondere des militärisch-industriellen Komplexes, dem alle Parteivorsitzenden als Geiseln dienten, so auch Leonid Breschnew. Doch auch dies verhinderte nicht, dass es zu sehr pragmatischen Beziehungen kam, unter anderem zu formellen und informellen Kontakten zwischen Anatoli Dobrynin (Botschafter der UdSSR in den USA) und Henry Kissinger.
Im Dienste der Entspannung musste Kissinger mit Breschnew an einer Wildschweinjagd teilnehmen. Eine der Datschen von Breschnews Residenz in Sawidowo wurde von den Redenschreibern des Generalsekretärs als «Kiskas Haus» bezeichnet (Kiska bedeutet auf Russisch Katze). Leonid Breschnew nahm gerne Fahrzeugmuster der US-Autoindustrie als amerikanisches Geschenk an. Beim Andocken von Sojus und Apollo im Jahr 1976 tauchte in den Zigaretten «echter Virginia-Tabak» auf, genannt Sojus-Apollo – und wenn man sie sich anzündete, entstieg ihnen nicht der raue Rauch des Vaterlandes, sondern der qualmende Duft der grossen weiten Welt.
Raketen waren erneut die Ursache für eine schwere Krise in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen – unter dem Partei-Apparatschik Juri Andropow. Die gesamte erste Amtszeit von Ronald Reagan drehte sich um die Frage der Nachrüstung von Mittelstreckenraketen. Es bedurfte des politischen Reformwillens und menschlichen Charmes von Michail Gorbatschow, um Amerika für die Sowjetunion wieder zu öffnen. Der amerikanische Mythos, auch bekannt als der russische Traum, rückte näher, und bald sollte man ihn mit den Händen anfassen können.
In gewisser Weise kam der «Kommunismus» Amerika gleich, aber ohne die Kapitalisten. Ein Konsumparadies mit Wolkenkratzern, Kaugummi, Jeans und Coca-Cola (anstelle von Coca-Cola kam in der UdSSR Pepsi-Cola auf, was ebenfalls ein Durchbruch war). Für das kultiviertere Publikum gab es Jazz, die Zeitschrift «America» (die in russischer Sprache als sowjetische Ausgabe von «Life» erschien, die kaum zu bekommen war), den Sender Voice of America und amerikanische Literatur. In jedem russischen Intelligenzia-Haushalt hingen Fotoporträts von Hemingway im Pullover.
Das Bild der Sowjetmenschen von Amerika war magisch: In Propaganda-Karikaturen wurden die USA als böse und gierig dargestellt, als Uncle Sam mit einer Atombombe in der Hand, aber gleichzeitig war es ein unglaublich attraktives und zugleich mythologisches Land. Mythologisch, weil es unerreichbar war: Nur wenige Menschen in der UdSSR konnten in den diplomatischen Dienst eintreten oder als Mitglied einer Universitätsakademie auf einen Besuch der Neuen Welt hoffen. Einer dieser Glücklichen war der Vater meines engsten Freundes, der mir Ende der siebziger Jahre nach einem Aufenthalt in Amerika meine erste Lee-Cooper-Jeans schenkte. Seitdem ist diese Marke für mich persönlich ein Zeichen für den amerikanischen Mythos geblieben.
In der Zeit der Perestroika und des Zusammenbruchs der UdSSR sangen die einen das populäre Lied von Nautilus Pompilius «Goodbye, America, where I will never be», die anderen hingegen das beliebte Auswandererlied von Willi Tokarew: «Wolkenkratzer, Wolkenkratzer, und ich bin ein kleiner Kerl. Mal bin ich ängstlich, mal traurig, mal gänzlich ohne Frieden. Und ich gehe einsam dem grossen Broadway entlang. Jemand fährt einen Rolls-Royce, ich springe in eine U-Bahn.»
Viele berühmte Dichter und Schriftsteller wanderten zu Sowjetzeiten in die USA aus, unter ihnen so populäre Schriftsteller wie Alexander Solschenizyn, Joseph Brodsky und Sergei Dowlatow. Ballettkünstler wie Alexander Godunow und Michail Baryschnikow kehrten von ihren Gastauftritten nicht zurück. Dann strömten sowjetische Eishockeyspieler in die NHL. Später kamen russische Studenten und Gelehrte. Ironischerweise war eine der ersten von ihnen Nina Chruschtschowa, die Urenkelin von Nikita Chruschtschow.
Wiederentdeckung Amerikas
Selbst in der postsowjetischen Ära führten die übermässige Aufmerksamkeit für das amerikanische Modell sowie die Mantras vom Verschwinden der unipolaren Welt zu einem Gefühl der unausweichlichen Abhängigkeit von «ihnen». So hiess es mitunter, die russische Verfassung von 1993 sei in den Vereinigten Staaten geschrieben worden. Während der Jelzin-Ära war Russland dermassen abhängig von den USA, dass es nach 2000 einer von Putin initiierten Änderung des Grundgesetzes bedurfte, um das Land wirklich souverän zu machen. Gleichzeitig aber blieb man überzeugt davon, dass Amerika ein wirtschaftlich starkes Land sei, von dem man viel lernen könne, mit dem sich eine Zusammenarbeit lohne und das ein Wohlstandsniveau aufweise, das man selber anstreben müsse.
Der innere Kreis um Putin hat Amerika immer wieder dämonisiert und sogar als Reich des Satans bezeichnet. Einer von Putins Mitarbeitern, der ehemalige FSB-Direktor, Vorsitzende des Sicherheitsrates und derzeitige Assistent des Präsidenten, Nikolai Patruschew, entwickelte mancherlei Verschwörungstheorien. Darunter diese: Die Amerikaner brauchten unbedingt russischen Siedlungsraum, weil sie nach dem bevorstehenden katastrophalen Ausbruch des Yellowstone-Supervulkans nirgendwo sonst mehr wohnen könnten. Vor Trumps Wahlsieg war es üblich, Putins «Sondereinsatz» in der Ukraine als Stellvertreterkrieg gegen die Vereinigten Staaten zu betrachten.
Die russische Elite unterstützte auf ihre Weise den amerikanischen und im weiteren Sinne westlichen Mythos, indem sie ihre Familien aus Russland in die USA und nach Europa schickte, um dort zu leben und ausgebildet zu werden. Dies wurde jedoch nicht zum Hemmschuh für Putins messianische Aggressivität gegen die Ukraine, die nicht nur die Lebenspläne der Elite, sondern wahrscheinlich auch seine eigenen durchkreuzte.
Der Grad der negativen beziehungsweise positiven Einstellung gegenüber den USA, der EU und dem Westen im Allgemeinen hängt ganz banal von der Politik des Kremls ab. Fällt etwas vor, was die Beziehungen zum Westen verschlechtert, verliert dieser sofort an Ansehen. Oder er gewinnt umgekehrt bei positiven Vorkommnissen.
Seit Donald Trump zum zweiten Mal im Amt ist und den Friedensvermittler gibt, erlebt Russland eine Neuentdeckung Amerikas und verlagert die Lösung seiner Probleme erneut auf die USA, wodurch der Mythos von der absoluten Macht der amerikanischen Supermacht wieder auflebt. Die Verkörperung des Bösen in der Welt und die Quelle des Wohlstands in der Welt engagiert sich in den Augen der Russen einmal mehr für den Weltfrieden.
Andrei Kolesnikow ist Journalist und Buchautor. Er lebt in Moskau, ist Kolumnist von «The New Times» und schreibt für die Online-Zeitung «Nowaja Gaseta». – Aus dem Englischen von A. Bn.