Als New Yorker kennt Jonathan Lethem den amerikanischen Präsidenten bereits seit den achtziger Jahren. Im Gespräch mit Paul Jandl sagt er, dass Trump damals einfach ein Emblem der Unaufrichtigkeit gewesen sei. Man habe diesen Menschen wohl unterschätzt.
Der Name des Hotels, in dem der amerikanische Schriftsteller Jonathan Lethem in Berlin abgestiegen ist, führt etwas in die Irre. Im «Honigmond» nächtigen vorzugsweise ältere Paare. Plaudernd ziehen sie durch die Lobby, wo Lethem seine Veranstaltungstour bespricht und Zeit hat für ein Interview über Trumps Amerika und seinen neuen Roman «Der Fall Brooklyn». Den New Yorker Stadtteil hat der Autor mit seinem Werk berühmt gemacht. So wie auch der Kollege Paul Auster oder der Filmemacher Spike Lee. Als seine eigene Kindheitsgegend lässt Lethem Brooklyn funkeln, wie es Berlin an diesem Vormittag wieder einmal nicht kann. Der öffentliche Verkehr streikt. Das Gespräch wird bei einer Autofahrt an den Wannsee fortgesetzt, wo es noch einen Auftritt gibt.
Herr Lethem, bevor Donald Trump 2016 seine erste Präsidentenwahl gewann, hatten Sie ein Buch schon in Arbeit, das dann «Der wilde Detektiv» heissen sollte. Im Schock des Wahlergebnisses haben Sie es noch umgeschrieben. Trump kommt darin ziemlich schlecht weg.
Für jemanden, der aus New York ist, war es damals ganz unvorstellbar, dass Hillary Clinton die Wahl verlieren könnte. Und noch dazu gegen Trump. Wir hatten ja mit dieser Figur seit den achtziger Jahren gelebt. Er war als fast mitleiderregender Narr der Stadt berühmt. Wir hätten uns nie vorstellen können, dass er eine gefährlich napoleonische Gestalt der Geschichte werden könnte. Für uns war er einfach ein Emblem der Unaufrichtigkeit. Man hat diesen Menschen wohl unterschätzt. Sein heute wirksames Charisma ist schwer zu erklären. Im New York der achtziger und neunziger Jahre hätte Trump niemanden in Trance versetzen können.
Hat Trumps politische Laufbahn nicht gerade mit diesen Dingen zu tun? Mit Demütigungen, die er in seiner Heimatstadt New York erlebt hat? Übt Trump im Augenblick auch Vergeltung an den linken Eliten?
Das stimmt auf alle Fälle. Vielleicht ist es sogar der Kern seiner ganzen Geschichte. Es ist eine sehr einfache und zugleich eine sehr amerikanische Geschichte. Wenn man meine drei Romane des letzten Jahrzehnts nimmt, «Der wilde Detektiv», «Der Stillstand» und «Der Fall Brooklyn», dann sind alle ganz verschieden, aber eines haben sie gemeinsam. Sie handeln davon, dass man inneren und äusseren Rachegeschichten nicht entkommt. Beim Schreiben musste ich mich bemühen, nicht selbst zum Rächer zu werden. Aber man entkommt dem nicht. Man kann nur kapitulieren. Die grosse amerikanische Erzählung ist die der Vergeltung.
Warum gibt es diesen Zustand der Selbstfesselung in einem Land, das so viel von Befreiung und von Freiheit redet?
Das sind grosse Mysterien, weil man schon fragen muss, ob das nur ein Problem Amerikas ist. Aber die Freiheits- und Erfolgsgeschichte, die Amerika der Welt verkaufen will, hat auch viel mehr dunkle Zonen, als man bisher glauben mochte. Man hat sich selbst belogen und die Dinge schöngeredet und dann so getan, als wäre mit der ersten Wahl Trumps plötzlich alles entgleist. Das ist einfach nicht wahr. Was Trump heute repräsentiert, ist eine Wiederkehr des Verdrängten. Man hat die Dunkelzonen verdrängt.
Wer hat in Amerika dazu beigetragen, dass Dinge verdrängt wurden? Waren es die wohlhabenden Linken, die sich die Welt so gestalten konnten, wie sie wollten?
Vielleicht muss man sich wirklich auf fast psychoanalytische Weise den Phänomenen nähern. In der Phantasie der Amerikaner gibt es eine Grundidee, ein Grundversprechen: Jeder wird irgendwann einmal reich. Im amerikanischen Ideal der Gesellschaft, im ewigen Versprechen von Selbstermächtigung und Autonomie, glaubt jeder insgeheim an die Möglichkeit, einmal ein «cowboy billionaire» zu werden. Cowboy und Milliardär zugleich. Dass so etwas auf Kosten anderer gehen muss, wurde aber unterschlagen. Die ökonomischen Unterschiede bleiben. Diese Wahrheit hat Amerika jetzt voll eingeholt. Es ist ein Pyramidenspiel. Unser Land lebt mit und von einem gigantischen Betrug. Herman Melville hat das Mitte des 19. Jahrhunderts schon in «Maskeraden» beschrieben. Alles ist ein Trick. Das war immer schon so.
Wie sehen die Durchschnittsamerikaner es, wenn sich Donald Trump bei seiner Inauguration mit Milliardären umgibt?
Die gegenwärtige Phantasie läuft symbolisch über das Schema der Kryptowährungen. Das ist ein neuer Traum davon, einmal selbst vom System zu profitieren. Und dann könnte man in der Pyramide aufsteigen. Die Milliardäre symbolisieren die Aufstiegsmöglichkeiten. Deshalb werden sie auch von den Abermillionen Amerikanern verteidigt, die es nie so weit bringen können. Wie gesagt: Hier geht es um Träume, aber sie stecken tief drinnen in der Bevölkerung.
Wie schätzen Sie Elon Musk ein?
Er ist ein Kind. Und er wird wahrscheinlich bis zu seinem Tod ein Kind bleiben. Was Elon Musk und Donald Trump verbindet, sind monströse Väter. Auch Trump ist nie wirklich erwachsen geworden.
Sie sind in der Ära Richard Nixons aufgewachsen, des republikanischen Präsidenten, der glaubte, sich über die Gesetze stellen zu können, und 1974 nach dem Watergate-Skandal schliesslich zurücktreten musste. Ihre Eltern gehörten einem linken Bohème-Milieu an und waren heftige Nixon-Gegner. Gibt es Ähnlichkeiten zwischen der politischen Stimmung damals und heute?
Es hatte natürlich auch mit den Ansichten meiner Eltern zu tun, dass ich in Richard Nixon eine Art Vampir gesehen habe. Vieles von dem, was Trump heute macht, hätte man sich damals noch gar nicht vorstellen können. Sehr ähnlich ist diese Art der Demaskierung, der Wunsch, sich an gewissen Eliten zu rächen. Nixon trug sehr viele Verletzungen mit sich herum. Wenn man sich die White-House-Tapes anhört, die Aufnahmen, die bei den Besprechungen Nixons mit seinem Team im Oval Office gemacht wurden, dann ist das wie die Reise durch ein Unterbewusstsein, das jenem Trumps ähnelt. Auch hier geht es darum, Vergeltung zu üben. Einen Romanschriftsteller wie mich interessiert das natürlich, aber die Psyche Trumps ist ein Einzelphänomen. Viel interessanter sind die psychologischen Motive der vielen Menschen, die Trump gewählt haben.
Was sind die Motive der Amerikaner?
Sehr viele Menschen identifizieren sich gerade mit dem, was Trump tut. Ein Hauptmotiv ist die Angst, zu den Verlierern zu zählen. Sie wollen bei den Siegern mit dabei sein. Was man aber nicht vergessen darf: Das Menschengemisch der Vereinigten Staaten ist viel weniger einheitlich, als man aus der Ferne vielleicht glaubt. Geschichtlich gesehen haben sich autoritäre Verhältnisse bisher eher dort ausgebildet, wo es relative Homogenität gibt und einen kulturell eher geschlossenen Raum. Da ist Amerika anders. Das Land ist Chaos, und genau das hat hier sein Gutes. Die vielen Unterschiede, das in Wahrheit Unkontrollierbare der amerikanischen Wirklichkeit – das ist viel zu gross, um hier wirklich etwas anstellen zu können. Es ist paradox. Vor allem das Chaos lässt uns hoffen.
Was haben die politischen Kontrahenten Trumps falsch gemacht, dass es so kommen konnte?
Die Gegenwart, in der wir uns befinden, ist eben auch eine Fortschreibung der Vergangenheit. Und die Demokratische Partei war immer Teil eines ganzen politischen Systems. Da ging es um Macht und Geld. Die grossen Konzerne im Silicon Valley waren auf der Seite der Demokraten, bis sie zu Trump umgeschwenkt sind. Auch die Demokraten hatten ihr Pyramidenspiel. Sie waren die Privilegierten, und es gab auch damals viele Verlierer. Heute kann man aus den Demokraten nicht plötzlich eine Arbeiterpartei machen, wenn sie seit Jahrzehnten keine war. Dieses politische Lager hatte ein fast bösartiges Verständnis der amerikanischen Klassenstruktur. Man hat die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsschichten geleugnet und sich nicht darum gekümmert. Den Leuten, die keine Gesundheitsversorgung haben und die auf der Strasse leben, kann man nicht sagen: Die Börsenkurse schauen gut aus, alles ok.
Ihr jetzt auf Deutsch erschienener Roman «Der Fall Brooklyn» schildert autobiografisch das Leben junger Leute in einem New Yorker Stadtviertel. Es geht ziemlich hart zu. Jeder muss tricksen, um durchzukommen. Das war auch schon der Stoff in Ihren Romanen «Motherless Brooklyn» und «Die Festung der Einsamkeit». Spiegelt sich unsere Gegenwart im neuen Roman noch einmal anders?
Das ist eine gute Frage. Ich habe das Buch nicht nur während Trumps erster Amtszeit geschrieben, sondern auch während des Lockdowns. Es war also eine doppelt seltsame Zeit. Man hatte das Gefühl, dass das Leben eine Art Erfindung ist, aber man kann es wohl auch neu erfinden. Das ist wohl auch der Grund, warum ich meinen 2003 erschienenen Brooklyn-Roman «Die Festung der Einsamkeit» noch einmal auseinandernehmen konnte. Die Zeit, in der ich geschrieben habe, war tragisch wegen all der Corona-Toten und -Kranken, aber es gab auch ein hybrides Gefühl, wo sich jeder denken konnte: Warum sich selbst nicht neu erfinden, wenn das Leben ohnehin und ganz offensichtlich an einem seidenen Faden hängt? Ich habe auf all die alten Puzzleteile geschaut und mich gefragt, ob sie nicht ein neues Muster ergeben.
Sie waren einer der Dean-Street-Boys, um die es im Roman geht. Was sagen die anderen Boys zu Ihrem Werk?
Sie haben ihre eigenen Geschichten und würden alles wohl ganz anders erzählen. Mein Schriftstellerkollege Martin Amis hat einmal gesagt: «Jeder trägt einen Roman in sich, aber es braucht einen Schriftsteller, um diesen Roman auch wirklich zu schreiben.» Meine «support group», wie ich sie nennen würde, und ich sind noch immer dabei, uns zu erholen. Wie bei den Anonymen Alkoholikern. Wir sitzen beisammen und legen Bekenntnisse ab. Wir stärken einander. Diese Leute stehen für mein Werk zumindest in dem Mass ein, dass sie die «support group» nicht verlassen. Es gibt ja das, was man Autofiktion nennt, aber in diesem Fall ist es eine kollektive Autofiktion. Es ist auch die Autofiktion anderer Menschen, nicht nur von mir.
Welche Rolle spielt das Absurde in Ihrem Werk? Man hat ja das Gefühl, dass Ihre Romane dort am realistischsten sind, wo es ganz absurd zugeht.
Die Wahrheit meiner Existenz ist, dass ich in einer Nichtrealität aufgewachsen bin. Das mythische Amerika der Gründerväter habe ich in meinem Leben als New Yorker Junge auf der Strasse nicht kennengelernt, aber trotzdem daran geglaubt. Es war ein Emigrantentraum, den es in meiner Familie gab. Die Grosseltern mütterlicherseits kamen aus Europa. Mein Grossvater war aus Lübeck. Er war ein säkularer Jude, der 1936 in die Vereinigten Staaten fliehen musste. Er hatte zur deutschen Elite gehört und war in Lübeck ein Nachbar Thomas Manns. Meine Urgrossmutter war eine Opernsängerin. Amerika war für diesen Teil der Familie das gelobte Land der Freiheit, in dem man alles werden kann. Mein Vater kam aus dem Mittleren Westen. Er war Protestant und versuchte in New York als Maler zu überleben.
Chaos genug, dass Sie selbst Schriftsteller wurden?
Ohne Zweifel, Chaos genug.