Viele Menschen haben romantische Vorstellungen vom Fach Archäologie. Jens Notroff hat nun ein Buch darüber geschrieben, wie der Forschungsalltag wirklich ist. Ein Gespräch über Laserstrahlen, alte DNA, Wikinger-Ski und Fundstellen, von denen Archäologen bewusst die Finger lassen.
Die Archäologie erforscht die Überreste der Vergangenheit – das fasziniert viele Menschen. Welche Frage bekommen Sie als Archäologe am häufigsten gestellt?
«Na, schon Gold gefunden?» Die meisten denken bei meinem Beruf an eine Schatzsuche. Oder ich werde gefragt, ob ich schon einmal einen Dinosaurier ausgegraben habe. Der fällt allerdings nicht in unseren Fachbereich: Wir Archäologen sind etwa 65 Millionen Jahre später angesiedelt.
In welchem Bereich sind Sie tätig?
Ich arbeite seit zwanzig Jahren am Deutschen Archäologischen Institut in Berlin und habe an verschiedenen Ausgrabungsprojekten der Orient-Abteilung mitgearbeitet, vor allem in Göbekli Tepe in der Südosttürkei. Das ist ein Versammlungsort aus der Steinzeit, fast 12 000 Jahre alt und damit eines der ältesten von Menschen errichteten Monumenten. Seit 2020 mache ich weniger Feldforschung, sondern bin als Referent für Wissenschaftskommunikation in der Vermittlung der Ergebnisse nach aussen tätig.
Auch wenn Sie derzeit nicht graben: Wie muss man sich Ihren Beruf vorstellen? Haben Sie immer eine Schaufel in der Hand?
Ja, die gehört zum Tagesgeschäft. Wir beschäftigen uns schliesslich mit den materiellen Hinterlassenschaften von Menschen, dafür müssen wir graben. Unterschieden wird zwischen Forschungsgrabungen, also über einen längeren Zeitraum geplanten und auch finanzierten Projekten, und Rettungsgrabungen, da stellt man auf Baustellen Zufallsfunde im Boden sicher. Tatsächlich macht all das aber nur einen kleinen Teil unseres Alltags aus: Jeder Monat, den ein Archäologe im Feld verbringt, entspricht ungefähr drei Monaten, die er danach am Schreibtisch sitzt, um alles auszuwerten.
Findet man denn noch «genug», oder ist das meiste längst ausgegraben?
Den Homo sapiens allein gibt es seit 300 000 Jahren. Wenn man dazu noch alle Menschenvorfahren zählt, kommen wir auf bis zu 3,5 Millionen Jahre. Da gibt es noch eine Menge zum Ausgraben. Allerdings ist es gar nicht unser Ziel, alles vollständig zu heben. Denn wir können alles nur einmal ausgraben, danach sind die Erdschichten abgetragen, und viele Gegenstände zersetzen sich, sobald sie an die Luft kommen. Unsere Devise lautet also: Nur so viel ausgraben wie nötig und so viel erhalten wie möglich.
Es finden also weniger Grabungen statt als früher?
Wir kommen heute auch ohne Spatenstich aus, weil uns andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Mithilfe der Satellitenbildauswertung kann man Strukturen aus der Luft erkennen, und mit geophysikalischen Methoden wie etwa elektrischen Messungen gucken wir in den Untergrund, um etwa Anomalien im Erdreich zu entdecken, die von Gruben oder Feuerstellen herrühren. Gegraben werden muss nur, wenn wir wissen wollen, was genau da zu sehen ist und – vor allem – wie alt etwas ist.
Die moderne Technik hat Ihren Beruf also massiv verändert?
Absolut, da sind wir trotz unserem berufsbedingt rückwärtsgewandten Blick Nutzniesser von Methoden, die gar nicht gezielt für die Archäologie entwickelt worden sind. Mit der Lidar-Technologie kann man mit Laserstrahlen von einem Flugzeug oder einer Drohne aus den Boden vermessen. Kollegen haben das im kolumbianischen Dschungel gemacht, die haben das dichte Blätterdach einfach weggerechnet und eine ganze Siedlung ausgemacht, ohne drei Monate lang mit der Machete durch den Wald laufen zu müssen.
Welche technischen Möglichkeiten gibt es noch?
Beispielsweise den Boden- oder Georadar. Da werden elektromagnetische Impulse in den Boden gesandt, die sich dort als Wellen ausbreiten und je nach Sedimentschicht unterschiedlich stark reflektieren. Durch dieses Radargramm entsteht das Abbild eines senkrechten Schnitts durch den Boden. Man kann also sehen, an welcher Stelle ein Fund liegt und – vor allem – in welcher Tiefe. Das hilft vor Bauarbeiten oder wenn man herausfinden möchte, wo die zu einem grossen Gräberfeld dazugehörige Siedlung liegt, ohne alles aufreissen zu müssen.
Was ist mit der Auswertung von aDNA, also alter DNA?
Die Paläogenetik, also die Möglichkeit, historisches Erbgut aus Knochen oder mumifiziertem Gewebe zu analysieren, ist eine sehr junge Entwicklung. Allerdings sind wir noch in einer Phase der Orientierung, wie wir damit umgehen sollen, denn im Grunde hat uns das auf Diskussionen zurückgeworfen, die wir in den 1930er Jahren geführt haben. Ethnische Deutungen sind gerade in Deutschland politisch sehr vereinnahmt worden, weil etwa ein Verzierungsmuster oder die Form eines Topfes mit Ethnien gleichgesetzt worden sind. Auf der anderen Seite können wir mit dieser Technologie Fragen beantworten, die bislang gar nicht aufgekommen sind.
Haben Sie ein Beispiel?
Im Landesmuseum Halle gibt es den Fund einer Frau aus dem Mesolithikum, der Mittelsteinzeit, die aufgrund ihrer Grabausstattung eine Schamanin gewesen sein muss. Sie wurde in den 1930er Jahren auf einer Baustelle geborgen, damals wurden nicht alle Knochen gefunden. Neben ihr lag ein Säugling, erst durch aDNA-Untersuchungen stellte sich heraus, dass es nicht ihr Kind war. Zudem zeigten sich anatomische Auffälligkeiten: Eine Fehlstellung an der Wirbelsäule klemmte eine Arterie ein, was wohl zu unkontrollierten Augenzuckungen geführt hat. Das dürfte für die Glaubwürdigkeit einer Schamanin hilfreich gewesen sein.
Gibt es Bereiche, von denen Archäologen bewusst die Finger lassen?
Natürlich, etwa wenn heutige Kulturen in irgendeiner Form betroffen sind. Man gräbt zum Beispiel keine islamischen Friedhöfe aus, das ist ein kulturelles Tabu. Debattiert wird auch immer wieder, wie man mit Knochenfunden von Stammesterritorien indigener Kulturen in Nordamerika umgeht. Dort ist es unmöglich, Bilder von Knochen zu zeigen, also Tote abzubilden. Das wird respektiert, da sind die Grenzen definitiv erreicht.
Wie geht es eigentlich weiter nach einer Grabung?
Zunächst werden die Funde aufbereitet, also sortiert, gewaschen, eingeordnet und, in grosse Kisten verpackt, an die lokalen Partner übergeben. Die Funde bleiben in der Regel im Land, denn die Zeiten, in denen die archäologische Devise lautete: «Nehmen und vergessen», sind zum Glück lange vorbei.
Und was passiert mit all den Scherben und Steinen?
Ausgestellt wird das wenigste, auch weil nur das wenigste ästhetisch so ansprechend ist, dass man es gerne zeigen möchte. Die mit Abstand grösste Fundgruppe ist die Keramik, die zunächst kistenweise in Museumskellern eingelagert wird. Je nachdem, wie gross das Interesse daran ist, wird sie entweder weiter untersucht, oder sie verstaubt. Es kann auch passieren, dass all die Funde, die man nach der Auswertung nicht mehr braucht, wieder vor Ort vergraben werden. Die Gruben werden natürlich kenntlich gemacht, damit der nächste Kollege sie nicht Jahre später findet und denkt, was ist denn das für ein sensationelles Keramikdepot!
Wie klärt man, ob ein Schwert vor Tausenden von Jahren bei einem Kampf verlorengegangen ist oder ob es bewusst vergraben wurde?
Der Kontext erklärt den Fund: Wenn man sich als Archäologe Schritt für Schritt nach unten gräbt, liegt neben diesem Schwert vielleicht ein Skelett, dann findet man noch einen Tontopf und eine Speerspitze und erkennt möglicherweise sogar einen Grubenumriss. Also handelt es sich hier vermutlich um eine Bestattung. Liegen im Umfeld dieses Schwertes aber noch zehn weitere Schwerter, könnten sie von einem Kampf stammen. Aber auch von einem Schmied, der seine Ware erst einmal versteckt hat und aus irgendeinem Grund nicht dorthin zurückgekehrt ist. Um sich der Wahrheit etwas nähern zu können, ist es nötig, alles penibel zu dokumentieren.
Der Klimawandel beeinflusst viele Lebensbereiche. Ist die Archäologie davon ausgenommen?
Das Monitoring wird immer wichtiger, also zu beobachten, wie sich die Landschaft verändert. Wenn in Spanien Teile der Küste abbrechen und dadurch Grabstätten freigelegt werden, müssen schnell gezielt Projekte angestossen werden, um sie zu sichern. Ebenso in Sibirien, wenn der Permafrostboden taut und spektakuläre Funde auftauchen wie jüngst ein paar Wikinger-Ski. Allerdings gibt es so viele Funde, dass es fast unmöglich ist, da hinterherzukommen.
Ist die Archäologie in unserer durchdokumentierten Welt überhaupt zukunftsfähig?
Sie ist unendlich, weil alles, was der Mensch schafft, in irgendeiner Form archäologisch relevant ist. Es gibt inzwischen Kollegen, die kartieren die Landestellen auf dem Mond, ausserdem forschen Archäologen auf der Internationalen Raumstation (ISS) dazu, wie Menschen sich auf der Erde neue Lebensräume einrichten.
Verraten Sie uns noch Ihren bisher spannendsten Fund?
In Jordanien habe ich einen Tontopf ausgegraben, der in einer Nische versteckt war. Auf dem Deckel habe ich Fingerabdrücke gefunden von dem Menschen, der diesen Topf einst verschlossen hat. Nach 5000 Jahren konnte ich meinen Daumen auf seinen Daumenabdruck legen. Ich bin also einem lange vergangenen Leben begegnet und konnte mich fragen: Was war das für ein Mensch? Welche Sorgen hatte er, und worüber hat er sich gefreut? Das hat mich sehr berührt.
Jens Notroffs Buch «Staub, Steine, Scherben. Wie Archäologen in der Vergangenheit graben und die Gegenwart finden» erschien 2023 beim Hanser-Verlag.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»