Gehupe und röhrende Motoren: Die Schweiz feiert das Nationalteam auf den Strassen, wie es früher die Zugewanderten taten. Einzelne Kantone sorgen sich um die Sicherheit und sperren die Innenstädte.
Die Erfinder des Autokorsos sind auf der rechten Spur überholt worden. Am vergangenen Samstag färbten sich die Strassen der Schweizer Städte rot-weiss und nicht azurblau. Gehupt und gekreischt haben nach dem Sieg im EM-Achtelfinal gegen Italien die Schweizerinnen und Schweizer. Die tiefergelegten Alfas blieben in der Garage.
Der Autokorso ist wie der Aceto balsamico ein italienischer Import: Überliefert ist er in der Schweiz seit 1982 und dem Torrausch des Azzurri-Stürmers Paolo Rossi. Die Italiener wurden Weltmeister und mit ihnen auch die halbe Million Einwanderer in der Schweiz. In Zürich strömten sie auf die Strassen, mit Fahnen und Fiats.
Noch nicht so lange her war damals die Schwarzenbach-Initiative. Sie wollte den Anteil der Ausländer in der Schweiz beschränken, gemeint waren aber vor allem die Italiener. Ihr Gefühl, mehr geduldet als akzeptiert zu sein, war 1982 noch teilweise da. Der WM-Titel war ein Moment der Revanche und Überlegenheit. Der Fussball, das war ihr Revier. Und sie markierten es auf dem Asphalt.
«Hundsgemeine Provokation»
Autokorsos sind eben auch das: die Guerilla-artige Einnahme des öffentlichen Raums, spontan und unkontrolliert. Für ein paar Stunden deutet das gewöhnliche Volk die Strassenregeln um. Beifahrer hängen unangeschnallt aus den Fenstern, grundloses Hornen wird legitim. Der deutsche Publizist Martin Krauss bezeichnete den Autokorso einst als «Verstoss gegen die herrschende Ordnung, er ist gelebte Anarchie und für Menschen, die klare Verhältnisse lieben, eine hundsgemeine Provokation. Schlimmer noch als Graffiti oder öffentliches ‹Scheisse›-Sagen.»
Nicht zufällig war der Korso lange eine Domäne der Zugewanderten. Nach den Italienern frönten die Türken, Spanier, Portugiesen und Kroaten dieser Machtdemonstration, wohlwissend um die Lärmempfindlichkeit einiger Meiers und Müllers. Denn während die Schweiz schon in der Qualifikation gegen Aserbaidschan stolperte oder höchstens eine Gruppenphase überstand, kamen die grösseren Fussballnationen Runde um Runde weiter. Und ihre Fans drehten Runde um Runde durch die Schweizer Innenstädte.
Ein alternativer 1. August
Vielleicht sind die mit PS angetriebenen Paraden der Schweizer Fans auch so zu verstehen: Was sich seit einem Jahrzehnt angedeutet hat, wird real. Endlich kann das eigene Team mit den Schwergewichten mithalten, der Petits-Suisses-Komplex schwindet. In einem Land, das gern seine Emotionen dimmt, wird der Fussball zu einem alternativen 1. August. Jetzt ist es erlaubt, den Gefühlen mit etwas Knalleffekt freien Lauf zu lassen.
Nicht allen gefallen allerdings diese mediterranen Anwandlungen. Die Stadt Olten erhielt schon während der Gruppenphase Reklamationen wegen lang andauernder Lärmbelästigung, wie die Kantonspolizei Solothurn auf Anfrage mitteilt. Zu den Fans gesellten sich auch Autoposer. Sie liessen ihre Motoren aufheulen und spulten unnötig Kilometer ab.
Ruhe, aber vor allem Sicherheit
Am vergangenen Samstag sperrte die Oltner Polizei nach dem Italien-Schweiz-Spiel präventiv einen Teil der Innenstadt ab. Ob azzurro oder rot-weiss: Die Strassen wären, egal bei welchem Sieger, in Beschlag genommen worden. Gleich taten es ihnen die Aargauer Städte Aarau, Baden und Wettingen.
Das nervte einige Fans. Auf Social Media wetterten sie über die «Partykiller-Stadt Olten» oder fragten sich: «Darf man nicht mehr feiern oder was? Bünzli.»
Dabei will die Polizei nicht als Spielverderberin auftreten. Hupen als Freudenausdruck sei zwar gemäss Strassenverkehrsgesetz grundsätzlich verboten, sagt Andreas Mock, Dienstchef der Kantonspolizei Solothurn. Aus Gründen der Verhältnismässigkeit werde es aber unmittelbar nach den Spielen bis zu einem gewissen Grad geduldet – wobei in der Nähe von Spitälern oder Altersheimen Nulltoleranz gelte.
Die Eingriffe der Polizei haben aber weniger mit dem Lärm als vielmehr mit der Sicherheit zu tun. Fluchtwege und Durchgänge für Rettungssanitäter müssen jederzeit gewährleistet sein. Und vermischt sich eine grosse Zahl feiernder Fussgänger mit adrenalinbeeinflussten Autolenkern, kann es gefährlich werden. In Berlin kam in der vergangenen Woche ein Fussgänger während eines Korsos ums Leben – er wurde von einem Wagen angefahren.
Die Stadt Zürich verzichtet im Gegensatz zu den Kantonen Aargau und Solothurn auf präventive Sperren. Hier entscheiden die Sicherheitskräfte von Fall zu Fall, wie Marc Surber von der Stadtpolizei Zürich sagt. Die Brennpunkte Langstrasse oder Friesstrasse würden aus Sicherheitsgründen gesperrt und der Verkehr umgeleitet, sobald sich zu viele feiernde Personen dort versammelten. Während dieser EM sei das in Zürich erst zweimal der Fall gewesen – als die Türkei sich für die Achtelfinals qualifizierte sowie nach dem Schweizer Sieg gegen Italien.
Sollte die Schweiz am Samstag gegen England in den Halbfinal einziehen, werden die Autokorso-Liebhaber bestimmt mit vollem Tank am Start stehen. Und die Fussgänger dürften sich über gesperrte Zonen freuen: Feiern macht auch zu Fuss Spass.