Beteiligungen in Deutschland bescheren der Genossenschaft Migros Zürich seit Jahren Millionenverluste. Der neue Leiter Patrik Pörtig gibt den Tegut-Supermärkten nun eine Gnadenfrist. In der Verkaufsregion Zürich hingegen plant er 40 neue Läden.
Die Migros Zürich, die auf den Gründer Gottlieb Duttweiler zurückgeht, hatte als Ur-Genossenschaft schon immer eine besondere Bedeutung unter den Migros-Regionen. Doch in den letzten Jahren hat das Unternehmen vor allem mit seinen kostspieligen Auslandabenteuern für Schlagzeilen gesorgt. Nach einem teuren Flop mit Fitnesscentern bereitet derzeit die Supermarktkette Tegut Sorgen. Doch das ist nur eine der Baustellen für Patrik Pörtig, der vor fünf Monaten die Leitung der Regionalgenossenschaft übernommen hat.
Herr Pörtig, wir sitzen hier im historischen Hochhaus der Migros Zürich, einst Symbol für Aufbruch und Moderne – und heute ist Ihre Regionalgenossenschaft ein Sanierungsfall.
Achtung, da muss man unterscheiden. Die Genossenschaft Migros Zürich hat ein starkes finanzielles Fundament und ist definitiv kein Sanierungsfall. Anders sieht es bei der deutschen Supermarkt-Tochter Tegut aus, dort trifft die Bezeichnung zu. Und im Aufbruch sind wir übrigens definitiv – die Migros bewegt sich!
Aber letztlich wirkt sich das doch auf die gesamte Gruppe aus. Die Migros Zürich schrieb in den letzten Jahren stets rote Zahlen – vor allem wegen Tegut.
Natürlich hat so eine grosse Tochter wie Tegut einen starken finanziellen Impact auf die Genossenschaft-Migros-Zürich-Gruppe. Dies in guten wie in schlechten Zeiten. Und momentan sind diese zweifellos sehr turbulent. Ein Problem bei Tegut in den letzten drei Jahren war, dass die Zuwächse in der Corona-Zeit falsche Erwartungen für die Zeit danach geweckt haben. Nun sind wir in einer neuen Realität, und die ist bei Tegut besonders hart. Zum ohnehin intensiven Preiskampf in Deutschland kam noch die Verteuerung der Lebensmittel aufgrund der Inflation dazu. Das macht es für Tegut mit seiner relativ hohen Positionierung und einem Sortiment mit knapp 30 Prozent Bio-Anteil noch anspruchsvoller.
Tegut ist ein enormes Klumpenrisiko. Die Firma steht mit rund 500 Millionen Franken in den Büchern. Das wäre also der Betrag, den die Migros Zürich abschreiben müsste, falls Tegut für einen Euro verkauft würde. Korrekt?
Das wäre zumindest der theoretische maximale Bewertungsverlust, wenn das Unternehmen mit allen Unternehmenswerten verschenkt würde. Genau deswegen haben wir nun unser Sanierungsprogramm definiert und werden es mit aller Konsequenz umsetzen, um die Werthaltigkeit unserer Beteiligung sicherzustellen.
Kommt das nicht viel zu spät?
Mein Vorgänger Jörg Blunschi hat bei Tegut bereits ein Turnaround-Programm angestossen. Er war der Ansicht, dass es Tegut aus eigener Kraft schaffen kann. Nach eingehenden Analysen und der weiteren Verschärfung des Marktes bin ich jedoch zum Schluss gelangt, dass wir stärker eingreifen müssen. Man darf nicht vergessen, dass Tegut erst vor einem Jahr noch eine Kette mit 19 Bio-Supermärkten übernommen hat sowie ein neues Logistikzentrum gebaut hat und wir dieses in diesem Jahr in Betrieb nahmen. All dies ist eine Herkulesübung.
Wie geht es jetzt weiter?
Es gibt einen Stellenabbau von rund 20 Prozent der Belegschaft am Tegut-Hauptsitz, und wir überprüfen das Filialnetz. Stand jetzt suchen wir für 35 Läden neue Betreiber. Zudem habe ich ein Geschäftsleitungsmitglied der Migros Zürich delegiert, das in Deutschland die Sanierung verantwortet und darauf schaut, dass die Interessen der Migros Zürich als Eigentümerin wahrgenommen werden.
Wurde denn früher einfach expandiert, ohne auf die Kosten für die Migros zu schauen?
Nein, das kann man so nicht sagen. Man hat eine konsequente Wachstumsstrategie gefahren, das kostet nun mal Geld und birgt unternehmerische Risiken.
Die Migros als Ganzes trennt sich gerade radikal von allen Aktivitäten, die nichts mit dem Supermarkt-Kerngeschäft zu tun haben oder auslandorientiert sind. Stand eine Trennung von Tegut nicht zur Debatte?
Im Gegensatz zu den Bereichen, die die Migros nun abstossen will, gehört Tegut als Lebensmittelsupermarkt zum strategischen Geschäftsfeld Food Retail. Aber ja, Aktivitäten im Ausland haben heute im Migros-Kosmos einen anderen Stellenwert. Und selbstverständlich haben wir alle Möglichkeiten durchgespielt, darunter auch eine Trennung. Für uns ist es jedoch der richtige Weg, Tegut zu sanieren und wieder rentabel aufzustellen, um danach wiederum sämtliche Optionen zu haben.
Wie lange geben Sie Tegut Zeit?
Tegut hat jetzt noch eine letzte Chance. Es muss 2025 eine signifikante Verbesserung geben, und bis Ende 2026 muss die Firma schwarze Zahlen liefern. Wenn wir das erreichen, hat das Unternehmen in der Migros eine Zukunft – sonst nicht. Das sind klare Vorgaben, und das wissen auch die Mitarbeitenden.
In der Migros-Zentrale gibt es Stimmen, die Tegut schon lange loswerden wollen. Wie haben Sie sich da mit dem Hauptsitz abgestimmt?
In der Migros gibt es grundsätzlich viele Meinungen . . . Im Ernst: (Migros-Chef, Red.) Mario Irminger und ich tauschen uns regelmässig über relevante Themen der Migros aus, auch über Tegut. Aber am Schluss bin ich derjenige, der für Tegut, eine 100-prozentige Tochter der Genossenschaft Migros Zürich, die Verantwortung trägt und deshalb auch den Entscheid zusammen mit meiner Verwaltung trifft.
Ist denn nur Tegut das Problem bei der Migros Zürich?
Nein, es geht uns da ähnlich wie der Migros auf nationaler Ebene. In den vergangenen Jahren hat man versucht, auf neuen Feldern zu wachsen. Dadurch ist das Supermarktgeschäft etwas aus dem Fokus geraten. Investiert wurde vermehrt in neue Geschäftsfelder. Dadurch haben wir im Kern unseren Job nicht mehr so gut gemacht. Wir sind zwar im Wirtschaftsgebiet der Migros Zürich beim Supermarktgeschäft immer noch die Nummer eins, aber wir haben Marktanteile verloren und Rentabilität eingebüsst. Um das zu ändern, braucht es klare Ziele und Härte im Handeln. Wir müssen am Markt wieder aggressiver werden.
Was heisst das konkret?
Wir wollen signifikant wachsen. Ich sehe Potenzial für rund 40 neue Läden auf unserem Gebiet.
Das wäre fast ein Drittel aller 140 neuen Läden, welche die Migros in den nächsten Jahren in der ganzen Schweiz neu eröffnen will.
Der Grossraum Zürich wächst auch! Natürlich ist die Realisierung der Geschäfte eine anspruchsvolle Aufgabe, denn wir sind ja nicht die Einzigen, die wachsen wollen! Trotzdem mag ich hohe Ambitionen. Aber es ist klar, dass wir uns anstrengen müssen. Dazu gehört auch, dass wir anderswo zurückstecken.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie das Projekt «Bridge» beim Hauptbahnhof Zürich. Die Idee eines grossen Food-Komplexes mit Gastronomie und einem Supermarkt war gut. Da haben wir viel investiert, doch letztlich hat der Mix zu wenig funktioniert. Darum werden wir das Format in neue Hände geben, die das bereits heute gut laufende Gastronomiegeschäft weiterentwickeln werden. Wenn neue Geschäftsmodelle die Erwartungen nicht erreichen, muss man auch bereit sein, diese zu beenden.
Ein Non-Food-Fachmann für die Migros Zürich
dba./mkf. Patrik Pörtig (45) hat den grössten Teil seiner Laufbahn im Non-Food-Handel gearbeitet. Nach Stationen beim Heimwerkermarkt Jumbo und Carrefour war der Betriebswirtschafter in der Sport- und Schuhhandelsgruppe Dosenbach-Ochsner tätig. 2020 übernahm er die Leitung der Migros Fachmarkt AG (SportX, Melectronics, Do it + Garden, Micasa). Seit Juli 2024 ist er Geschäftsleiter der Genossenschaft-Migros-Zürich-Gruppe mit über 4 Milliarden Franken Umsatz (davon rund 1,2 Milliarden Franken bei Tegut)
Die Migros Zürich war immer die Regionalgenossenschaft, die am meisten gewagt hat: In Deutschland kaufte sie Tegut und Fitnesscenter. Vieles wird jetzt aufgegeben. Wird die Migros Zürich nun zu einer ganz normalen Genossenschaft?
Jetzt ist es wichtig, dass alle Genossenschaften die neue Strategie mittragen und konsequent umsetzen. Auch unser Fokus liegt zu 100 Prozent auf dem Supermarktgeschäft. Das finde ich absolut richtig. Erst wenn das Kerngeschäft einwandfrei funktioniert, bleibt Raum für Innovation. Sonst macht man Fehler.
Mit anderen Worten: Ja, Sie werden eine ganz normale Genossenschaft.
In der aktuellen Situation werden wir sicher keine neuen Geschäftsfelder eröffnen. Wir müssen jetzt unser Portfolio durchleuchten, straffen und – wie in Deutschland – punktuell sehr hart eingreifen. Die Migros Zürich wird immer deutlich breiter aufgestellt sein als kleinere Genossenschaften. Klar ist aber auch: Wir müssen in jedem Geschäft, das wir ausserhalb der Supermärkte betreiben, Geld verdienen.
Wovon sprechen Sie konkret?
Wir schauen alles an. Zum Beispiel die Gastronomie. Etwa die Formate Hitzberger oder Kaimug. Aber auch die Migros-Restaurants, unsere Gemeinschaftsgastronomie-Betriebe oder das Catering-Geschäft.
Ist die Gastronomie die nächste Baustelle? Manche Migros-Restaurants sind ziemlich in die Jahre gekommen.
Tatsächlich gibt es Betriebe, wo ein Neuanstrich ansteht. Die Restaurants müssen wir aber auch grundsätzlich, das heisst konzeptionell, überarbeiten. Es ist sehr teuer, Verpflegungsangebote in dieser Breite ganztägig zu offerieren. Die Positionierung unserer Kerngastronomie wird entsprechend überprüft: Was können wir dem Kunden künftig noch bieten? Und wo sind wir wichtig als Anbieter eines Treffpunkts für das Quartier und die Menschen?
In den Migros-Restaurants kann man den ganzen Tag sitzen bleiben und nur einen Kaffee trinken.
Das können Sie! Und wer bietet Ihnen das sonst, ausser der Migros? Wir sind immer am Abwägen, denn wir wissen auch um unsere soziale Verantwortung gegenüber der Bevölkerung. Grundsätzlich ist das Gastronomieangebot eine Stärke der Migros. Take-aways werden immer wichtiger, für das klassische Restaurantformat prüfen wir laufend neue Lösungen, so auch die Integration von Verpflegungsangeboten auf den Supermarktflächen. Zwischen diesen Formaten werden die Grenzen vermehrt verschwimmen.
Wie bringt sich die Zürcher Genossenschaft auf nationaler Ebene in der Migros ein?
Überall dort, wo wir spezifische Kompetenzen mitbringen. Nehmen wir die Kleinflächenformate. Es ist ein Manko der Migros, dass wir zu wenig kleine Innenstadtläden haben. Ohne Alkohol und Tabak ist das Geschäft nicht ganz einfach. Aber wir sind daran, diese Konzepte zu entwickeln. Die Migros Zürich verfügt aufgrund ihres grossmehrheitlich städtischen Wirtschaftsgebiets über relevante Erfahrungen und übernimmt hier entsprechend Verantwortung für die ganze Gruppe.
Bevor Sie im letzten Sommer Chef der Migros Zürich wurden, haben Sie die Migros-Fachmärkte geführt: Sport X, Melectronics usw. Diese werden nun allesamt abgestossen. Was ist schiefgelaufen?
Ich habe gewusst, worauf ich mich einlasse. Der Bereich hat Geld verloren, und die Situation war bereits kritisch, lange bevor ich 2020 die Leitung der Fachmarkt AG übernommen habe. Die Fachmärkte waren historisch eng mit den grossen Migros-Einkaufszentren rund um die Supermärkte verwoben. Aber der Non-Food-Handel hat sich verändert, und die Migros hat den Schritt verpasst, die Fachmärkte autark und unabhängig aufzustellen. Ein Baumarkt wie Do it + Garden funktioniert ganz anders als der Elektronikhandel von Melectronics. Diesem Umstand wurde zu wenig Rechnung getragen – der zunehmende Onlinehandel hat dann den Rest zur Geschichte beigetragen.
Dabei haben die Fachmärkte während Corona gut funktioniert.
Es war tatsächlich so, dass wir in dieser Zeit Geld verdient haben. Aber nach Corona ist das Pendel schnell in die andere Richtung geschwungen. Schon 2022 haben wir einen Marschhalt eingelegt und die Zukunftsperspektiven jedes einzelnen Fachmarktformats umfassend überprüft.
Aber dann gleich alles verkaufen?
Schauen Sie: Die Fachmärkte standen in Konkurrenz mit grossen internationalen Ketten, die 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche ihr Geschäftsmodell perfektionieren: Elektronik, Sportbekleidung, Möbel. Bei der Migros hingegen hat das breite Formate-Portfolio eine solch klare Fokussierung nicht zugelassen. Wir haben festgestellt, dass wir unter den gegebenen Voraussetzungen die notwendige Kraft für die Fachmärkte nicht mehr aufbringen können. Entsprechend froh sind wir, dass unsere Fachmärkte jetzt von Firmen übernommen werden, die in ihren Bereichen beste Zukunftsaussichten haben.
Trotzdem: Tut es Ihnen persönlich nicht weh?
Doch natürlich. Ich hatte den Auftrag, die Fachmärkte nach vorne zu bringen. Und ich war überzeugt, dass wir es schaffen werden. In der Nachbetrachtung war dies ein Ding der Unmöglichkeit, und wir hätten uns viel Aufwand und auch Kosten ersparen können. In der Gesamtbetrachtung der Migros und mit Blick auf den Supermarkt, wo nun alle Kraft hineingesetzt werden muss, ist die Entscheidung absolut richtig. Diesen Kampf haben wir verloren, den nächsten gewinnen wir.