Der komplexe Fall zeigt, wie Seerecht missbraucht wird.
In der Ostsee spielen sich seit der mutmasslichen Sabotage von zwei Datenkabeln brisante Szenen ab. Unmittelbar nachdem die Schäden entdeckt worden waren, nahm die dänische Marine die Verfolgung des chinesischen Massengutfrachters «Yi Peng 3» auf. Seit elf Tagen liegt das Schiff nun im Kattegat zwischen Schweden und Dänemark und wird abwechselnd von Patrouillenbooten der deutschen, der dänischen und der schwedischen Marine bewacht.
Es scheint klar, dass die «Yi Peng 3» im Fokus der Ermittler steht. Die Regierungen der Küstenstaaten informieren aber nur spärlich über die Ereignisse auf See. Aus gutem Grund: Die Situation ist völkerrechtlich heikel. Das Seerecht setzt enge Grenzen beim Vorgehen gegen Schiffe von anderen Flaggenstaaten.
Im vorliegenden Fall heisst das: Auch wenn ein klarer Verdacht gegen die «Yi Peng 3» vorliegen sollte, ist unklar, ob die Küstenstaaten Massnahmen gegen das Schiff und dessen Besatzung ergreifen können. Wenn sie es ohne Rechtsgrundlage tun, laufen sie Gefahr, selbst gegen das Völkerrecht zu verstossen.
Um zu verstehen, was die Situation so kompliziert macht, muss man sich das Seerechtsübereinkommen der Uno genauer anschauen. Drei Fragen sind dabei entscheidend:
1. Wo befindet sich die «Yi Peng 3» im Moment?
Das Meer unterteilt sich in verschiedene Zonen: das Küstenmeer, die ausschliessliche Wirtschaftszone und die hohe See. Je weiter weg von der Küste sich ein Schiff befindet, desto geringer sind die Rechte der Küstenstaaten und desto grösser umgekehrt die Befugnisse des Flaggenstaates, in diesem Fall jene Chinas.
Im Küstenmeer, auch Territorialgewässer oder Hoheitsgewässer genannt, hat jedes Schiff das Recht auf friedliche Durchfahrt – mit Betonung auf friedlich. Anna Petrig ist Professorin für Völkerrecht und öffentliches Recht an der Universität Basel und spezialisiert auf Seerecht. Sie sagt: «Bei Verdacht auf Sabotage dürfte der Küstenstaat das Schiff in dieser Zone stoppen, durchsuchen, die Besatzung befragen und sogar festnehmen.»
Nur: Die «Yi Peng 3» befindet sich derzeit nicht im Küstenmeer, sondern in der ausschliesslichen Wirtschaftszone Dänemarks. Die Hoheitsmacht des Küstenstaates beschränkt sich dort, grob gesagt, auf die wirtschaftliche Nutzung und den Schutz der Meeresumwelt. «In dieser Zone hat der Küstenstaat nur ausnahmsweise das Recht, Massnahmen gegen fremde Schiffe zu ergreifen», sagt Petrig.
Als solche Ausnahmen nennt das Seerechtsübereinkommen Massnahmen zur Verhinderung von Umweltschäden und Piraterie. Die Zerstörung von Datenkabeln dürfte in keine der beiden Kategorien fallen. Anders als bei der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines, bei der grosse Mengen Gas ins Meer strömten, ist beim Durchschneiden der Leitungen kein Umweltschaden entstanden. Piraterie wiederum meint den Angriff eines Schiffs auf ein anderes Schiff – nicht auf kritische Infrastruktur.
Sabotage wird im Seerecht nicht als explizite Ausnahme genannt. Petrig sagt: «Der Küstenstaat hat in diesem Fall wohl keine Jurisdiktion.»
2. Was macht China?
In der ausschliesslichen Wirtschaftszone und auf hoher See liegt die Hoheitsmacht in der Regel beim Flaggenstaat. Damit soll die Freiheit der Schifffahrt geschützt und verhindert werden, dass Küstenstaaten den Verkehr von fremden Schiffen behindern. Im Falle der mutmasslichen Sabotage in der Ostsee bedeutet das laut Petrig, dass China die Untersuchung der «Yi Peng 3» genehmigen muss.
Dabei gibt es jedoch ein entscheidendes Problem: Wenn Peking hinter der Sabotage steckt, wird der Täter zum Fahnder. Die Möglichkeit, dass der Flaggenstaat selbst Verbrechen begeht, wurde nicht im Gesetz mitberücksichtigt. Das Gesetz aus dem Jahr 1982 ist ein Produkt seiner Zeit: Damals war das Internet noch kaum verbreitet, der hybride Krieg noch kein Begriff. Henrik Ringbom ist Professor für Seerecht an der Universität Abo Akademi im finnischen Turku. Er sagt: «Es besteht die Gefahr, dass die Freiheit der Schifffahrt hier gezielt missbraucht wird.»
Ob der chinesische Staat hinter der mutmasslichen Sabotage steckt, ist unklar. Der Betreiber der «Yi Peng 3» ist die Reederei Ningbo Yipeng Shipping unter ihrem Chef und Mehrheitsaktionär Chen Jianjun. Das Unternehmen aus der Provinz Zhejiang im Osten Chinas hat zwölf Mitarbeiter und betreibt zwei Frachter, die «Yi Peng» und die «Yi Peng 3». Wirtschaftlich erfolgreich ist die Reederei nicht. Bei einem Umsatz von 10,7 Millionen Dollar im vergangenen Jahr fuhr Ningbo Yipeng Shipping einen Nettoverlust von 1,37 Millionen Dollar ein.
Zwar beschworen Russlands Präsident Wladimir Putin und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping im Februar 2022 ihre «Freundschaft ohne Grenzen». Doch dass die chinesische Regierung – sollte es sich bei der Zerstörung der beiden Unterseekabel tatsächlich um einen Sabotageakt handeln – in Absprache mit Russland die Reederei beauftragte, ist unwahrscheinlich.
Möglich ist, dass der Kapitän der «Yi Peng 3» eigenmächtig oder im Auftrag russischer Behörden oder Geheimdienste handelte.
Eine Sprecherin des chinesischen Aussenministeriums betonte in den vergangenen Tagen mehrfach, man sei mit den Behörden in Schweden und Dänemark in Kontakt. Am Mittwoch erklärte die Sprecherin, China leiste «im Rahmen der Zusammenarbeit mit allen Ländern konsequente Unterstützung, um die Sicherheit von internationalen Unterseekabeln und anderer Infrastruktur zu gewährleisten».
Auch Ningbo Yipeng Shipping hat versprochen, bei den laufenden Ermittlungen zu kooperieren. Mehrere Anrufe der NZZ bei der Reederei blieben unbeantwortet.
3. Welche Möglichkeiten bleiben den Küstenstaaten?
Was die Küstenstaaten tun können, wenn China trotz den Versprechungen nicht kooperiert, darin sind sich die Juristen nicht einig. Ringbom sagt: «Da das Seerechtsübereinkommen diesen Fall nicht klar regelt, muss das Gesetz breiter ausgelegt werden – im Hinblick auf die Interessen, die für die verschiedenen Parteien auf dem Spiel stehen.» So stehe den Küstenstaaten etwa klar das Recht zu, ihre eigenen Interessen zu wahren. Und das Recht auf freie Schifffahrt sei kein Recht auf Sabotage von Kabeln. «Es gibt einen rechtlichen Handlungsspielraum, den die Küstenstaaten bereits genutzt haben, als das Schiff verfolgt und gestoppt wurde.»
Die Auslegung des Seerechts habe sich bereits an eine sich wandelnde Realität angepasst, sagt Ringbom. Vor einem Jahr wurde im Finnischen Meerbusen die Gaspipeline Balticconnector von einem anderen chinesischen Frachter, der «Newnew Polar Bear», zerstört. Damals handelte Finnland zu spät und zu zögerlich, das Schiff konnte aus der Ostsee und den europäischen Gewässern fliehen. Ringbom sagt: «Im gegenwärtigen Fall können wir bereits eine schnellere, stärkere und besser koordinierte Reaktion beobachten. Dies ist eine positive Entwicklung.»
Petrig ist zurückhaltender. Sie sagt: «Wenn die Staaten ohne Rechtsgrundlage Zwangsmassnahmen gegen ein Schiff ergreifen, brechen sie das Völkerrecht.» Was alles als Verletzung der Freiheit der Schifffahrt erachtet werden könne, sei unklar. Womöglich könne bereits die Verhinderung der Weiterfahrt als Rechtsbruch ausgelegt werden. Für Petrig ist klar: «Man braucht neue Rechtsgrundlagen, die den Küstenstaaten entsprechende Befugnisse erteilen.» Es sei jedoch derzeit schwer vorstellbar, dass sich die Staaten darauf einigen könnten.
Laut Ringbom könnte ein Gerichtsfall sogar Positives bewirken: «Das Urteil würde die unklare Rechtslage klären.» In jeden Fall sei es ratsam, dass die Ostseeanrainer sich auf ein gemeinsames Vorgehen bei künftigen Attacken einigten, denn ihr Verhalten werde sich auf die Auslegung des Rechts auswirken.
Derweil liegt die «Yi Peng 3» weiterhin im Kattegat. Ewig kann sie dort nicht bleiben, denn irgendwann wird der Besatzung der Proviant ausgehen. Dann wird das Schiff durch die dänischen oder die schwedischen Territorialgewässer fahren. Doch ob die Küstenstaaten es dort durchsuchen können, ist unklar. Denn in Meerengen gelten andere Bestimmungen.