Tottenham wartete 17 Jahre auf einen Titel. Den Europa-League-Final gewinnt der Verein aus London ausgerechnet gegen Manchester United – den Klub, der die «Spurs» einst nicht ernst nahm.
Die Häme hat ein Ende: Der Tottenham Hotspur Football Club hat nach 17 Jahren endlich wieder einen Titel errungen. Am Mittwochabend bezwangen die «Spurs» den englischen Rivalen Manchester United im Final der Europa League 1:0. Der einzige Treffer resultierte aus einem kuriosen Eigentor durch Luke Shaw mit dem Oberarm. Die missglückte Aktion des ManU-Abwehrspielers in der 42. Minute fasste den Match pointiert zusammen.
Seit dem Triumph im League Cup 2008 war Tottenham immer wieder kurz vor dem Ziel gescheitert, bald war die Rede von einem Titelfluch der «Spurs». Und dieser lastete gewissermassen auf dem lange ungekrönten Weltklassestürmer Harry Kane, der von 2009 bis 2023 (abgesehen von einigen Jahren als Leihspieler) für seinem Kindheitsverein Tottenham kickte. Dass es für Tottenham nun ausgerechnet in dieser Saison klappte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Kane feierte mit seinem neuen Klub, dem FC Bayern, die deutsche Meisterschaft.
«Congratulations» – nach dem Abpfiff überbrachte Kane seinem Herzensklub in den sozialen Netzwerken Glückwünsche. Der 31-Jährige verfolgte den Final zwar nicht live vor Ort im Stadion San Mamés in Bilbao, sondern in den Ferien vor dem TV, wie er angekündigt hatte.
Ohne Harry Kane zum Titelgewinn
Seine Botschaft aber war ein Zeichen alter Verbundenheit und grosser Mitfreude gegenüber seinen früheren Kollegen. Die «Spurs» feierten derart ausgelassen, dass die Mannschaft fast anderthalb Stunden nach Abpfiff noch immer auf dem Spielfeld stand. Und die in London gebliebenen Fans taten es ihnen beim Public Viewing im heimischen Stadion gleich: Sie stürmten den Platz und zelebrierten den langersehnten Triumph nach der langen Titelmisere.
Vor Jahrzehnten soll die ManU-Trainerlegende Alex Ferguson seinen Spielern statt einer Gegneranalyse lediglich eines zugeraunt haben: «Lads, it’s Tottenham!», «Männer, es ist nur Tottenham!» Damit demonstrierte Ferguson seine Zuversicht, dass ManU die «Spurs» schon irgendwie bezwingen würde. Und auch deren Fans stellten bei ihrem Klub mit der Zeit eine gewisse Ungeschicklichkeit und Zerbrechlichkeit fest, was sich im Ausdruck «spursy» manifestierte. Die Konnotation brannte sich ein und konterkarierte das aus dem Lateinischen abgeleitete Klubmotto «to dare is to do» (zu wagen ist zu tun).
Um wieder einen bedeutenden Titel zu gewinnen – im Europacup reüssierte Tottenham letztmals 1984 –, liessen die Klubverantwortlichen unter dem seit 2001 wirkenden Vorsitzenden Daniel Levy in den vergangenen Jahren nichts unversucht: Sie installierten eine Reihe unterschiedlicher Trainerfiguren, die vom Entwicklungshelfer Mauricio Pochettino bis zu den Siegertypen José Mourinho und Antonio Conte reichte.
Doch einen Titel zu gewinnen – das schaffte der Klub nun erst mit Ange Postecoglou, einem Trainer, der zuvor international weitgehend unbekannt geblieben war. Der 59-Jährige wurde wie Tottenham in seiner Laufbahn häufig unterschätzt, wenngleich aus einem anderen Grund – wegen seiner Herkunft. Er hat zwar griechische Ahnen, stammt aber aus Australien, einer Nation, in der Fussball eine unbedeutende Rolle einnimmt.
Bei seiner Verpflichtung im Sommer 2023 konnte Postecoglou immerhin darauf verweisen, bei seinen vorherigen Stationen in Australien, Japan und bei Celtic Glasgow innerhalb der ersten zwei Spielzeiten jeweils einen Titel gewonnen zu haben. Darauf wies er auch zu Beginn dieser Saison hin. Er tat das auch, um die Fans zu beruhigen, nachdem das Team nach einem furiosen Start unter Postecoglou in der vergangenen Spielzeit stark nachgelassen hatte. Es wirkte, als sei die Equipe von den Gegnern zunehmend entschlüsselt worden; Postecoglou liess einen bedingungslosen Offensivfussball spielen.
Plötzlich lässt Postecoglou destruktiven Konterfussball spielen
Wegen des Festhaltens am gewagten Spielstil, einer Verletzungsmisere und dem Absturz in der Premier League (zurzeit Platz 17) geriet Postecoglou immer stärker in die Kritik. Er verteidigte sich wortgewaltig und konfrontativ, legte sich immer wieder mit einzelnen Fans und Reportern an. In dieser Hinsicht wies er Ähnlichkeiten mit Mourinho auf. Und auch im Hinblick auf das Vorgehen in der Europa League: Als der Wettbewerb zur Mitte der Saison die einzige Chance für Tottenham war, die vermaledeite Saison schönzufärben, vollzog der als stur geltende Postecoglou einen für ihn erstaunlichen Sinneswandel: Er liess sein Team im Europacup fortan einen destruktiven Konterfussball spielen. Der zerfahrene Final und die Art des Siegtreffers passten perfekt zur neuen Ausrichtung der «Spurs».
In mancher Hinsicht führte Postecoglou den Klub allerdings auf das höchste Siegerpodest, wie es Mourinho einst geplant hatte. Doch der Portugiese war unmittelbar vor dem dann verlorenen League-Cup-Final 2021 entlassen worden. Die Medien schrieben, der Vereinsboss Levy habe sich mit dem Portugiesen schwer überworfen und prophylaktisch verhindern wollen, dass dieser mit einem Pokal abtrete.
Der Europa-League-Titel heilt nun die tiefen Wunden von Tottenham, auch jene aus dieser Saison. Denn dank dem Gewinn des Wettbewerbs sicherte sich der Klub einen Startplatz in der nächsten Champions League. Den Erfolg wolle er mit einer Flasche Scotch auskosten, kündigte Postecoglou an. Seine Chancen, trotz den Entlassungsgerüchten über diese Saison hinaus Trainer der «Spurs» zu bleiben, sind deutlich gestiegen. Denn Postecoglou hat das lange Titelleiden von Tottenham Hotspur beendet – und zwar ausgerechnet gegen Manchester United. Nun richtet sich die Häme gegen ManU. In England macht bereits ein neuer Spruch die Runde: «Lads, it’s Manchester United!»