Um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen, hat die EU einen riesigen Hilfsfonds geschaffen. Soeben hat der die Hälfte seiner Laufzeit erreicht. Die Zwischenbilanz fällt gemischt aus.
Italien hat gerade ein Problem, das niemand mit dem Land in Verbindung brächte: zu viel Geld zum Ausgeben. Es allein erhält rund 200 Milliarden Euro aus dem EU-Aufbaufonds, in dem über 730 Milliarden liegen. «Die Zeit ist zu kurz bemessen, um dieses Geld sinnvoll zu verwenden», sagt der Ökonom Tito Boeri von der Mailänder Bocconi-Universität. Der Verwaltung fehlten die Fachleute, um Projekte zu initiieren und professionell zu begleiten.
Die EU hat den Aufbaufonds 2021 als Massnahme gegen die Verwerfungen der Covid-19-Pandemie gegründet. Bis 2026 wird er Auszahlungen vornehmen. Es ist also Halbzeit, und für Brüssel ist der Moment gekommen, um Bilanz zu ziehen zum vielleicht teuersten Vorhaben in der Geschichte des Staatenbundes.
Die EU stand in den vergangenen 16 Jahren mehrmals vor fundamentalen Krisen. Im Jahr 2008 wurde sie schwer von der Finanzkrise getroffen, und ab 2010 führten die Liquiditätsprobleme Griechenlands immer wieder zu heftigen Konflikten in der EU und zu Spannungen am Finanzmarkt.
Diese Krisen haben Europa geprägt. Als im Frühjahr 2020 die Pandemie ausbrach, wollte die EU verhindern, von den Ereignissen erneut überrollt zu werden. In Brüssel ging die Furcht um, dass sich vor allem die südeuropäischen Länder am Finanzmarkt nicht mehr zu günstigen Konditionen finanzieren könnten. Es bestand die Gefahr einer neuerlichen Zerreissprobe zwischen den wohlhabenden und den ärmeren Mitgliedsstaaten.
Dieses Risiko wollte die EU-Kommission mit dem Aufbaufonds abwenden. Gleichzeitig soll er dazu beitragen, die grüne und digitale Transformation des Kontinents voranzutreiben – ein Vorhaben, das ohnehin verfolgt wird.
Staatsanwaltschaft geht gegen Betrüger vor
Der deutsche EU-Parlamentarier Niclas Herbst von der Europäischen Volkspartei (EVP/CDU) hält den Fonds für eine gute Idee und erachtet ihn als nötiges Projekt. «Die technische Umsetzung durch die Kommission funktioniert», sagt der Politiker und stellvertretende Leiter des Haushaltsausschusses.
Die Kommission begutachtet die Projekte genau. Sie will unbedingt den Eindruck vermeiden, dass sie mit dem vielen Geld nachlässig umgehe. Die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO) hat ein scharfes Auge für deren Verwendung. Denn das milliardenschwere Programm zieht Betrüger an. Die EPPO hat 2023 über 230 Ermittlungen eingeleitet. Anfang April nahm die Polizei in Italien, Österreich, Rumänien und in der Slowakei mehr als 20 Verdächtige fest. Über Scheinfirmen sollen sie über 600 Millionen Euro aus dem Fonds erschlichen haben.
Wirtschaftlich hat Europa nach der Pandemie rasch aus der Krise gefunden, eine Finanzkrise konnte vermieden werden. Ob das mehr dem Fonds geschuldet war oder eher der wiedererwachten Konsumfreude der Europäer nach der lähmenden Zeit der Lockdowns, wird man nie nachweisen können.
Derselbe Einwand gilt, wenn die EU leicht triumphierend darauf hinweist, dass dank dem Fonds 5,5 Millionen Haushalte schnelle Internetverbindungen erhalten hätten. Möglicherweise wären diese Investitionen auch sonst getätigt worden, bloss hätte sie in diesem Fall der Mitgliedsstaat finanziert und nicht die EU. Es könnte sich also um reine Mitnahmeeffekte handeln.
Grundsätzliche Vorbehalte gegen den Fonds gibt es allerdings auch, und diese werden in Brüssel auch künftig zu heftigen Diskussionen führen. Manche Politiker sehen in dem Vehikel nämlich eine Art Mustervorlage für weitere Finanzierungsfonds der EU, etwa im Bereich der Verteidigung. Doch diese Absichten sind sehr umstritten.
Für den Aufbaufonds nimmt die EU zum ersten Mal in grossem Umfang Geld am Kapitalmarkt auf. Die Obergrenze beträgt 750 Milliarden Euro. Dieses Geld verteilt sie teilweise als nicht rückzahlbare Beihilfen («Grants») an die Mitgliedsländer.
Niclas Herbst von der EVP kritisiert diesen Mechanismus. Eigentlich ist angedacht, dass die EU neue Einnahmequellen bekommt, etwa aus dem Emissionshandelssystem ETS. Schliesslich muss sie das aufgenommene Kapital bis 2058 zurückzahlen.
Aber die Mitgliedsstaaten haben es nicht eilig, die EU mit zusätzlichen Geldmitteln auszustatten, zumal viele von ihnen selbst Finanzprobleme haben. Gleichsam Gratisgeld in der Form von Beihilfen aus Brüssel zu erhalten, das bei ihnen nicht als Schuld auftaucht, damit können einige Mitgliedsländer offenbar gut leben.
Herbst dagegen will sich damit nicht abfinden. Er befürchtet, dass die EU zu wenig Mittel erhält, um die Schulden des Aufbaufonds zurückzubezahlen, und deshalb bei nichtgebundenen Ausgaben sparen muss, etwa bei der Forschung. «Die Mitgliedsländer sollen politische Prioritäten setzen, statt mehr Schulden zu machen», fordert er.
Das Parlament fühlt sich ausgeschlossen
Der Fonds ist für die EU ein völlig neues Instrument. Daher fehlen die Erfahrungen mit dessen Stärken und Schwächen. Ein Demokratiedefizit hatte die Schaffung des Fonds aber auf jeden Fall. Die Kommission und die Mitgliedsländer (der Rat) stützten sich dabei auf den Notstandsartikel 122 des EU-Vertrages. Das Parlament wurde zwar informiert und angehört, hatte aber nichts zu sagen. «Es gab kein legislatives Verfahren», sagt Herbst. Das dürfe sich nicht wiederholen.
Der Ökonom Laurent Maurin von der Europäischen Investitionsbank EIB vermisst am Aufbaufonds zudem die europäische Dimension. «Er hat die Integration der EU zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum nicht vorangetrieben», sagte er an einem Anlass des Brüsseler Think-Tanks Bruegel. Stattdessen sei er vollständig auf die Mitgliedsstaaten ausgerichtet.
Das ist auch auf die Entstehungsgeschichte des Aufbaufonds zurückzuführen. Nicht alle Mitgliedsländer wurden von der Pandemie im gleichen Mass getroffen: Einige waren widerstandsfähiger, weil sie über ein effizientes Gesundheitswesen und solide Staatsfinanzen verfügten, andere verletzlicher, weil es ihnen gerade daran mangelte.
In grösster Not befand sich Italien im März 2020. Als die Pandemie über Europa hereinbrach, stiegen die Zinsen für italienische Staatsanleihen stark. Die Europäische Zentralbank (EZB) musste intervenieren, um eine Finanzkrise zu verhindern. Gleichzeitig war die pandemische Lage zeitweise nirgends in Europa so dramatisch wie in Norditalien. Das ist der Hauptgrund, warum das Land den höchsten Betrag aller EU-Staaten erhält.
Die Angst vor hohen Folgekosten
Mit dem Ökonomen Boeri stammt aber auch ein besonders scharfzüngiger Kritiker des Fonds aus Italien. Er bemängelt nicht nur, dass sein Heimatland einen kaum zu bewältigenden «Superbonus» aus Brüssel bekommen habe, sondern hinterfragt auch die Art und Weise, wie die Projekte umgesetzt werden.
Gemeinden beispielsweise könnten zwar Geld erhalten, um Kindergärten und Krippen zu schaffen. Viele würden aber vor einer solchen Investition zurückschrecken, weil sie die Folgekosten der Projekte fürchteten. Für diese kommt nicht mehr Brüssel auf, vielmehr müssen sie dann von den oft finanzschwachen Gemeinden gedeckt werden.
Boeri räumt ein, dass sich wohl nie schlüssig beantworten lasse, ob ein Fonds in diesem Umfang angezeigt gewesen sei. Zumal ja auch die EZB zugunsten der Länder am Kapitalmarkt interveniert habe. Letztlich wüssten weder die Länder noch die EU genau, was mit dem vielen Geld tatsächlich bewirkt werde.