Verspielte Welten
Sessel mit Charakter, Stühle wie Bouquets und Rattan-Spiegel-Objekte: Die Designs des amerikanischen Künstlers Chris Wolston nehmen uns auf eine Phantasiereise mit.
Es braucht mehr als bloss ein Auge fürs Schöne, um ein guter Designer zu sein. Plattformen wie Instagram haben dafür gesorgt, dass sich die Ästhetik weltweit angepasst hat. «Es wurde ein Algorithmus geschaffen, der zur globalen Zerstörung des Einzigartigen geführt hat», sagt der amerikanische Designer Chris Wolston. Seit 10 Jahren lebt er in Kolumbien. Auch hier habe er diese Anpassung beobachtet; diesen konformen Einrichtungsstil – viel Beige in Cafés und Hotels und immergleiche Möbelklassiker, die in den Wohnungen stehen.
In den Hintergrund gerückt seien regionale Stile und Traditionen. Chris Wolston will dagegenhalten. Seinen Designansatz erklärt er so: den Zeitgeist wahrnehmen, aber mit neuen Elementen umprogrammieren. Entwürfe können geprägt sein davon, wo man auf der Welt lebt, was einen umgibt oder von Techniken, die auf bestimmte Traditionen zurückgehen. Und am Ende muss es eben auch funktionieren, nicht einfach nur gut aussehen.
Oft fällt die erste Reaktion auf Chris Wolstons Möbelstücke gleich aus: «Kann das bequem sein?» Seine Antwort: «Nehmen Sie doch bitte Platz!» Der 36-Jährige grinst, so, wie er es im Zoom-Call oft macht, wenn er über seine Arbeit spricht. Es wäre für ihn absurd, etwas herzustellen, was sich nicht gut anfühle, sagt er: «Was nützt mir ein Stuhl, auf dem ich nicht sitzen will? Weshalb sollte jemand so etwas in seinem Haus haben wollen?»
Aufgewachsen ist Chris Wolston in Providence, Rhode Island, seine Kindheit war geprägt von Ausflügen in die Natur. Regelmässig sei seine Familie zum Wandern in die Berge gereist. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder, der heute als Feuerwehrmann Waldbrände löscht, war er bei den Pfadfindern. Beide suchten sie das Abenteuer, jedoch auf unterschiedliche Weise: Chris Wolston entschied sich für eine Ausbildung in Glasguss und Formenbau.
Im Rahmen seines Bachelorstudium an der Rhode Island School of Design reiste er 2008 nach Ghana ans Kokrobitey Institute, um an der Handwerksschule ausserhalb von Accra traditionelle ghanaische Handwerkspraktiken zu erlernen. «Wir fertigten Objekte nach den Methoden des traditionellen Goldgusses, der seit Jahrhunderten in der Region verankert ist», erzählt er. Doch statt Gold verwendeten sie alte Messingschrauben, -hähne oder -muttern vom Recyclinghof, und die Formen stellten sie aus Schlamm und gemahlenen Termitenhügeln her, gemischt mit Gras und Bienenwachs.
Das Ergebnis war ähnlich, was Wolston dazu animierte, mehr mit rezyklierten Materialien zu arbeiten: Abfälle aus der Pelzindustrie, Stoffreste oder Altmetall. «Mich fasziniert die Kombination von Hightech-Methoden und einfachsten Materialien.» 2013 zog er nach Medellín, um mit einem Fulbright-Stipendium präkolumbianische Keramik zu studieren.
Zwischen New York und Medellín
Seither pendelt Wolston zwischen Amerika und Kolumbien und geniesst das Beste aus zwei Welten. Einerseits New York, wo «diese unvergleichliche Energie herrscht», das Streben nach Neuem. Dort hat er sein Netzwerk, die Galerie The Future Perfect, in der er seine Möbelstücke ausstellt – «und Leute, die sich für meine Arbeit interessieren». Und andererseits Medellín, wo er die Nähe zur Natur schätze. Man spüre im Aburrá Valley die Präsenz der Erde auf eine Weise, wie es in der amerikanischen Metropole nicht möglich sei.
Auch hat er in Kolumbien seine Inspirationsquelle direkt vor dem Haus: den Garten. Für seine jüngste Show «Flower Power» schnitt er Blumen, Blüten und Blätter und stellte daraus Abdrücke her, die er in Bronze goss. Das Resultat: verschiedene Werke aus Bronze und Ton, etwa ein glänzender Blüten-Lampenschirm, der auf einem handgefertigten Fuss steht.
Wolston ist auch ein Forscher, der das Erlernen neuer Verfahren, den Entwicklungsprozess an sich, ins Zentrum seiner Arbeit stellt: «Mich interessiert, zu verstehen, wie bestimmte Dinge überall auf der Welt unterschiedlich gefertigt werden.» Er studiert alte Materialien, erlernt neue Techniken – und experimentiert. «Pushing the boundaries», sagt er, Grenzen auszuloten, auch darum geht es ihm.
Neuinterpretation mittels alter Techniken
Wenn er über seine eigene Arbeit spricht, dann verwendet er den Begriff der «postmodernen Ästhetik» und meint nichts anderes als die Neuinterpretation mittels alter Techniken. «Ein Stuhl ist ein Stuhl», sagt er – aber er abstrahiert die Sitzfläche, lässt ein Bein weg oder integriert einen Pflanzentopf in die Rückenlehne. «So kreiere ich eine absichtliche Verwirrung zwischen dem Symbolischen und dem Spezifischen.»
Oder anders ausgedrückt: «Man nimmt ikonografische Formen und spezifiziert sie durch Materialität.» Seine künstlerische Signatur geht dabei nie verloren. Er vergleicht es mit dem Erlernen einer Sprache: Die Grundlage bleibt dieselbe, aber mit jedem Entwurf kommen neue Ausdrucksweisen hinzu.
So bleibt seine Handschrift auch dann noch erkennbar, wenn er mit Luxusmarken kollaboriert. Für das italienische Modehaus Fendi applizierte er auf die ikonische Peekaboo-Tasche Blüten und Blätter, im Rahmen einer Initiative von Dolce & Gabbana kreierte er einen Kronleuchter, und für 3.1 Phillip Lim fertigte er einen seiner Keramikbeistelltische aus Terrakotta.
Was hat es mit den Händen und Füssen auf sich?
Immer wieder tauchen Hände und Füsse an seinen Möbelstücken auf. Anthropomorphe Formen, wie sie seit Jahrhunderten in der Kunst dargestellt werden. Bei Wolston aber fehlt ihnen eine klar festgelegte Definition: Die «Nalgona»-Stühle, die er aus kolumbianischer Weide fertigt, haben Arme, Füsse, Hinterteile. Ist die Figur männlich oder weiblich? «Nonbinär», sagt Wolston auf die Frage, die ihm oft gestellt werde. Klar, er habe konkrete Vorstellungen, «aber wer mit den Möbeln lebt, soll seine eigenen Ideen generieren können», sagt er.
Es schaffe eine Verbindung, wenn Betrachtende Entwürfe nicht nur wahrnehmen, sondern sich mit ihnen auseinandersetzen. Vielleicht bringt es sie auch zum Lachen: «Humor ist etwas Universelles», sagt der Designer, der immer wieder auf das Überraschungsmoment setzt. Es wäre zu einfach, zweimal das Gleiche zu tun – und ausserdem wünscht sich Chris Wolston, dass die Menschen wegen seiner Möbel nicht aufhören, sich immer wieder neue Fragen zu stellen.