Die deutschen Fussballer treffen auf Frankreich und die Niederlande. Es sind keine gewöhnlichen Freundschaftsspiele. Vom Auftreten des Teams hängt vor der EM im eigenen Land viel ab.
Nicht einmal drei Monate sind es noch, bis die deutsche Fussballnationalmannschaft ihr erstes Spiel an der Europameisterschaft 2024 in München bestreiten wird. Wenn dann, am 14. Juni, Schottland der Gegner sein wird, dürfte sich vielleicht mancher daran erinnern, wie die Stimmung 2006 war, vor jenem Turnier, das als «Sommermärchen» in die Annalen des deutschen Fussballs eingegangen ist. Das Wetter war prächtig, die Stimmung ebenso, die Mannschaft liess sich von der guten Atmosphäre beflügeln und spielte ansehnlichen Fussball.
Damals waren die Erwartungen vor dem Turnier tief, nicht viel hätte gefehlt, und der Bundestrainer Jürgen Klinsmann wäre vor der WM noch ausgetauscht worden, nachdem sein Team in Italien 1:4 unterlegen war. Diese trüben Erwartungen sind eine Gemeinsamkeit mit der Gegenwart. Der erst vergangenen November eingesetzte Trainer Julian Nagelsmann steht vor einer schwierigen Reise: Seine Mannschaft tritt am Samstagabend in Frankreich an, beim WM-Zweiten, und am kommenden Dienstag in Frankfurt gegen die Niederlande.
Nagelsmanns Bilanz: vier Spiele, zwei Niederlagen
Es sind Gegner von Format, gegen die allerhand schiefgehen kann, und dass auch unter Nagelsmann die Dinge aus dem Ruder laufen können, hat der neue Mann bereits bewiesen: Seitdem er das Team übernommen hat, wurde ein Spiel gegen die USA gewonnen, eines gegen Mexiko endete unentschieden, gegen die Türkei und Österreich verlor Deutschland.
Nach jenen Niederlagen geriet Nagelsmann in die Kritik, weil er etwas sonderbare Aufstellungen gewählt hatte: Die Formationen waren bestenfalls originell, mindestens aber risikoreich. Dass Nagelsmann seinerzeit nicht die richtigen Worte fand, um seine Experimente zu erklären, trieb nicht wenigen Fussballfreunden die Sorgenfalten auf die Stirn. Nagelsmann agierte wie ein Vereinstrainer in der Saisonvorbereitung, wo es um wenig geht ausser um Erkenntnisse. Das ist im Falle des Nationalteams anders. Anders als bei einem Klubteam findet jedes sogenannte Freundschaftsspiel grosse Beachtung. Jede Niederlage, jeder schwache Auftritt drückt auf die Stimmung.
Nagelsmann ist trotz seinen gerade 36 Jahren an gleich drei Bundesliga-Orten Trainer gewesen: in Hoffenheim, in Leipzig und in München. Ob es ihm gelingt, sich von der Perspektive des Klubtrainers zu emanzipieren und den pragmatischen Teil seiner Aufgabe zu entdecken, wird auch darüber entscheiden, ob die Europameisterschaft für die deutsche Mannschaft zum Erfolg oder Misserfolg wird.
Die Deutschen zählen nicht zu den Favoriten
Zu den Favoriten zählen die Deutschen gewiss nicht, und schon dies stellt eine neue Erkenntnis dar im Land des viermaligen Welt- und dreimaligen Europameisters, wo man häufig glaubte, Halbfinal-Einzüge an Turnieren resultierten aus einer Art Gewohnheitsrecht. Nachdem Hansi Flick als Nationaltrainer gescheitert war, dachte man, mit Nagelsmann die richtige Wahl getroffen zu haben. Inzwischen kommen Zweifel – und das ist nicht allein auf Nagelsmanns Experimentierfreude in taktischen Fragen zurückzuführen.
Wer Nagelsmanns Handeln als mäandernd bezeichnet, der verhält sich gegenüber dem Trainer vergleichsweise wohlwollend. Denn Nagelsmann kündigt Dinge an, tut aber das Gegenteil davon. Als er antrat, sagte er, es gehe für die Mannschaft um Stabilität. Einige wenige Systeme, mit denen sich das Team gut zurechtfinden könne, wolle er einüben lassen. Im Prinzip hat der Coach recht, wenn er annimmt, dass seine Spieler dies zu leisten imstande sind. Nun ist die Frage, ob dies auch gelingt, wenn sich die Spieler plötzlich auf völlig ungewohnten Positionen wiederfinden: Die Offensivkraft Kai Havertz liess Nagelsmann als Linksverteidiger auflaufen, der Effekt der Massnahme war von überschaubarem Erfolg.
Der Trainer Nagelsmann kommuniziert offensiv und transparent. So erläuterte er anlässlich der Kadervorstellung, warum er diesen und jenen Spieler nicht berufen habe. Solch eine branchenunübliche Auskunftsfreude wird zwar von Medienschaffenden geschätzt, birgt für den Trainer aber Probleme, wenn er sich anders verhält, als er es in Aussicht stellt. So hatte er nach dem ordentlichen Debüt von Pascal Gross auf der USA-Reise im November dem Spieler bescheinigt, die Sache gut gemacht zu haben: Gross werde dies sicher nicht zum letzten Mal getan haben. Bei den folgenden Länderspielen wurde er nicht berufen, obwohl die Mannschaft einen Spieler wie ihn, der im Mittelfeld für Absicherung sorgt, gut hätte gebrauchen können.
Inzwischen ist er wieder dabei, doch der Schaden, der durch das öffentliche Lob und die gegenteilige Handlung entstanden ist, bleibt: Worauf können sich Spieler verlassen, wenn der Trainer ihnen Zusagen macht?
Nagelsmann brauchte lange für offensichtliche Entscheidungen
Auch wirkte es zu Beginn von Nagelsmanns Ära so, als seien die Bayern-Spieler Joshua Kimmich und Leon Goretzka bei ihm gesetzt. Inzwischen hat die Stimmung des Trainers gedreht. Kimmich soll nun den Rechtsverteidiger geben, und Goretzka wurde gar nicht mehr ins Kader berufen. Eine solche Entscheidung ist durchaus zu vertreten, Goretzkas beste Zeiten liegen sowohl im Klub als auch im Nationalteam hinter ihm. Bloss fragt sich, warum Nagelsmann so lange braucht, um zu dieser relativ offensichtlichen Erkenntnis zu gelangen.
Indem er das Zentrum gewissermassen zur Bayern-freien Zone erklärte, hat Nagelsmann zweifellos viel angestossen. Struktur will er durch einen Rückkehrer in die Mannschaft bringen, durch Toni Kroos, der sich nach dem Scheitern an der EM 2021 gewissermassen durchs Hintertürchen verabschiedete. Der erfolgreichste deutsche Auslandprofi der Geschichte brilliert bei Real Madrid mit Ruhe, Übersicht und Ideenreichtum. Er bringt grosse Klasse mit – aber er ist nicht jener Typ Spieler, der eine Mannschaft vorantreibt und der in schwierigen Situationen für Orientierung sorgt.
Hinzu kommt der Schlingerkurs in der Torhüterfrage. Als Bayern-Trainer versuchte Nagelsmann die Position von Manuel Neuer zu schwächen, als dieser verletzt war. Nagelsmann sorgte dafür, dass Neuers Vertrauter, der Goalietrainer Toni Tapalovic, abgelöst wurde. Nur kam Neuer nach bald einem Jahr Pause stärker als erwartet zurück. Prompt verlor Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona seinen Status als neue Nummer eins.
Nun hat sich Neuer während des Trainings erneut verletzt. Die Frage lautet nun, ob ter Stegen seine Ansprüche offensiv formuliert. Schon anhand dieser Details ist zu erkennen: Diese Equipe ist auf eine Weise explosiv, dass sich der Trainer vor ihr fürchten muss. Der DFB hat unterdessen Vertrauen in die Fähigkeiten Nagelsmanns. Der Verband will, wie der «Kicker» berichtet, mit dem Trainer verlängern, sofern dieser nicht in der EM-Vorrunde ausscheidet.