Künstlich generierte Menschen halten auf Bühnen, in Gerichtssälen und in journalistischen Formaten Einzug. Jim Acosta geht noch einen Schritt weiter und spricht mit einem Verstorbenen.
Jim Acosta ist eigentlich als bissiger Journalist bekannt. Als CNN-Korrespondent berichtete er mehrere Jahre aus dem Weissen Haus, lieferte sich heftige Schlagabtausche mit den Regierungsbeamten, mit Präsident Donald Trump. Seit diesem Jahr ist Acosta selbständig: Im Januar hatte er nach fast zwanzig Jahren bei CNN gekündigt, weil seine Morgen-Show in die späten Abendstunden verschoben werden sollte.
Seither hat Acosta eine neue Sendung auf Substack und Youtube mit Hunderttausenden Followern. Häufig drehen sich die Beiträge nach wie vor um Innenpolitik, um Trump, um Epstein. In einer seiner neusten Episoden zeigt sich Acosta jedoch ungewöhnlich sanftmütig: Er interviewt ein 17-jähriges Opfer von Waffengewalt, Joaquin Oliver. Die beiden unterhalten sich über Star Wars, über den Basketball-Spieler LeBron James. Inhaltlich ist das Gespräch mau. Doch Jim Acosta zeigt sich danach sprachlos, fasziniert. Und die Zuschauer sind irritiert.
Wenn ein Toter plötzlich die Fragen stellt
Jim Acosta hatte sich nicht mit Oliver selbst, sondern mit dessen KI-Abbild unterhalten. Denn Joaquin Oliver ist seit sieben Jahren tot. Er war 2018 eines der 17 Opfer des Parkland-Attentats in Florida.
Das Gespräch beginnt Jim Acosta mit der Frage, was denn passiert sei, und Oliver entgegnet: «Danke für dein Interesse», um dann eine floskelhaft kurze Schilderung seines Todes zu geben: Er sei viel zu früh und mit Waffengewalt aus dem Leben gerissen worden. Viel mehr will er dazu nicht sagen. Lieber stellt KI-Oliver selbst Fragen: Was denn Acostas Lieblingsfilm sei, was für ihn einen Helden ausmache. Acosta wird vom Interviewer zum Interviewten, und Oliver stimmt ihm bei allen Aussagen fröhlich zu.
Einige der Zuschauer empfanden das Gespräch als unheimlich, gespenstisch, wie sie in den Kommentaren etwa auf Youtube festhielten. Olivers Augen bleiben leer, seine Stimme ist etwas zu mechanisch und monoton und schwankt von tief zu piepsig hoch.
Acosta jedoch war begeistert. Er habe wirklich das Gefühl gehabt, mit «Guac» zu sprechen, wie er Oliver nennt. Er habe mehr über ihn erfahren können, über ihn als Kind, «das Basketball und Filme liebte». Die spärlichen Informationen über Olivers Vorlieben hätten ihm wohl auch jeder Freund oder Angehörige Olivers geben können. Und Olivers Meinung zur Regulierung des Waffenbesitzes kam nur kurz zur Sprache. Dabei sollte genau die im Zentrum stehen. So hatte es sich die Familie des Toten gewünscht.
Trauernde holen sich mit KI ihre Liebsten zurück
Es war der Vater, der Acosta die Idee für das Interview gab und ihm auch den KI-Avatar zur Verfügung stellte. Manuel Oliver und seine Frau kämpfen seit dem Tod ihres Sohnes für schärfere Waffengesetze, mit klassischen Protesten, aber auch mithilfe der künstlichen Intelligenz.
Vergangenes Jahr machten sie ein Projekt zugänglich, mit dem man Sprachnachrichten mit Stimmen von Waffengewalt-Opfern generieren und an Abgeordnete verschicken kann. Auch der KI-Avatar von Joaquin Oliver soll für verschärfte Waffengesetze kämpfen. Er werde demnächst auf Bühnen und in Debatten auftreten, sagt der Vater.
Die künstliche Intelligenz ist daran, das Gedenken an verstorbene Menschen zu revolutionieren. KI-Firmen bieten Trauernden an, ein letztes Gespräch mit den Verstorbenen zu führen. In Hiroshima sollen die Erzählungen von Zeitzeugen der Katastrophe vor 80 Jahren mithilfe von künstlicher Intelligenz konserviert werden. Und in den USA konnte ein Mann, der 2021 bei einer Auseinandersetzung erschossen worden war, im Mai selbst vor Gericht aussagen. Seine Angehörigen hatten ihn als KI-Avatar nachgebildet. Die oberste Richterin zeigte sich begeistert. Der Täter erhielt die Maximalstrafe.
KI-generiertes Interview mit Michael Schumacher
Auch in den klassischen Medien wird mit KI-generierten Menschen experimentiert, mit unterschiedlichem Ausgang. Auf «Welt TV» moderiert ein KI-Avatar seit neuem einmal in der Woche eine eigene Sendung. Das löste mehr Irritationen als Begeisterung aus.
Empört reagierten die Leser von «20 Minuten» im vergangenen Jahr, als die Gratiszeitung in der Jubiläums-Ausgabe zum 25-Jahr-Jubiläum Testimonials von zwei Kunden präsentierte, die es gar nicht gab, ohne dies zu deklarieren. Sowohl die Zitate als auch die Bilder waren KI-generiert. Die Chefredaktion und die Redaktionsleitung wollten nichts davon gewusst haben. Die Testimonials wurden nachträglich gelöscht.
Noch grösser war der Aufschrei über ein gefälschtes Interview mit Michael Schumacher, das im Jahr 2023 erschien. Vom mehrfachen Formel-1-Weltmeister war seit seinem schweren Skiunfall im Jahr 2013 kein Wort mehr zu hören – bis «Die Aktuelle» vor zwei Jahren ein angebliches Interview mit Schumacher publizierte. Erst am Ende des Textes wurde offengelegt, dass das Interview mit KI generiert worden war. Die Familie hatte die Einwilligung dazu nicht gegeben. Die Funke-Mediengruppe musste der Familie Schadenersatz zahlen, der Chefredaktorin wurde gekündigt.
Eine Kündigung droht Jim Acosta nicht, da er selbständig ist. Das Interview mit Oliver scheint ein Freundschaftsdienst zu sein: Acosta macht transparent, dass er mit der Familie des Toten befreundet ist. Mit dem KI-Experiment bezeuge die Familie ihre Liebe zum Verstorbenen. Es gehe darum, die Erinnerung an Oliver wachzuhalten. Als Acosta im Januar bei CNN kündigte, verabschiedete er sich mit den Worten: «Haltet an der Wahrheit fest – und an der Hoffnung.» Beim Interview mit dem toten Joaquin Oliver obsiegt Letzteres über Ersteres.