Am Samstag empfängt der Bundesliga-Leader Bayer Leverkusen im Spitzenkampf Bayern München. Calmund wünscht dem Klub jenen Titel, der ihm in seiner Amtszeit in teilweise hochdramatischen Entscheidungen versagt blieb.
Herr Calmund, wo erreichen wir Sie?
Ich bin gerade in Thailand in den Ferien und feiere den 85. Geburtstag eines alten Freundes. Auch mein alter Weggefährte Christoph Daum aus der gemeinsamen Leverkusener Zeit ist dabei.
Was haben Sie am kommenden Samstag vor?
Ich schaue mir natürlich das Spiel Leverkusen gegen die Bayern mit Christoph Daum an – mit sechs Stunden Zeitverzögerung. Und zittere! Und hoffe, dass ich danach erlöst ein bisschen feiern und dann ins Bett gehen kann.
Leverkusen ist Tabellenführer, noch ungeschlagen und geht nicht als Aussenseiter in dieses Spiel. Was macht die Mannschaft so stark?
Sie ist hervorragend besetzt, nicht nur im Angriff, sondern auch im Mittelfeld und in der Abwehr. Sie ist taktisch sehr gut eingestellt, kann dominant spielen, aber auch kontern. Und sie hat eine ganz hervorragende Mentalität. Und das hat natürlich mit dem Trainer Xabi Alonso zu tun.
Der Trainer, der gegenwärtig bei einigen Grossklubs im Gespräch ist. Wo sehen Sie seine Qualitäten?
Xabi Alonso ist Baske, und wissen Sie was: Hinter Tokio, Kyoto, Paris, Osaka und New York hat die Heimatregion von Alonso, San Sebastián und Bilbao, weltweit die meisten Sterne-Restaurants. Ich bin ja selber ein kleines Leckermäulchen, daher weiss ich das. Und Xabi Alonso ist wie ein Sterne-Menu.
Wie bitte?
Schauen Sie sich doch mal seine Vita an: Er war Weltmeister und zweimal Europameister mit Spanien. Mit Liverpool und Real Madrid gewann er die Champions League, und zum Abschluss wurde er noch dreimal deutscher Meister mit Bayern München. Xabi Alonso hat mit Trainern wie Rafael Benítez, Pep Guardiola, Carlo Ancelotti und Jupp Heynckes zusammengearbeitet. Mehr geht nicht. Das war schon ein sehr guter Griff von Bayer 04.
Hat er das Zeug, Leverkusen zur ersten Meisterschaft der Klubgeschichte zu führen?
Schauen Sie ihn sich an. Die Art und Weise, wie er auftritt, ist doch beeindruckend. Der lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Mannschaft ist stabil und wird nicht nervös. Nun waren einige Spieler beim Afrikacup, da konnte Xabi Alonso gar nicht mit allen Profis arbeiten. Aber da kommen keine Klagen, da sucht keiner nach Alibis, auch nicht nach der Verletzung des Stürmers Victor Boniface. Sie haben ihn die gesamte Saison nicht lamentieren gehört. Und das macht auch die anderen Spieler stärker. Wenn einer ausfällt, dann geht es eben weiter. Und wenn es am Wochenende gegen die Bayern nicht klappen sollte, dann ist das nicht das Ende der Meisterschaftsträume. Es ist kein entscheidendes, höchstens ein vorentscheidendes Spiel. Aber es ist ja längst nicht nur Xabi Alonso allein.
Sondern?
Bayer 04 wird hervorragend geführt, und zwar auf allen Ebenen. Simon Rolfes, der Manager, gehört auch international zur Crème de la Crème. Der Fussballboss Fernando Carro ist ein totaler Fussballbekloppter. Die Mutter von Fernando war beim FC Barcelona die Übersetzerin von Hans Krankl, dem Stürmer aus Österreich, und später auch für den deutschen Cheftrainer Udo Lattek. Da hat er sich mit dem Fussballvirus infiziert. Als Manager war er im Konzernvorstand von Bertelsmann für Milliardenumsätze verantwortlich. Das ist einer, der extrem unternehmerisch denkt, aber dabei total fussballbekloppt ist. Was mich aber besonders freut, ist, dass auch die zweite Reihe, sowohl in kurzen wie in langen Hosen, perfekt funktioniert. Ein Beispiel: Marcel, der Sohn von Christoph Daum, macht dort als Assistenztrainer und Video-Analyst einen hervorragenden Job.
Wer über Leverkusen spricht, der redet von spektakulärem Fussball – aber eben nicht von Titeln.
Ja, das war das Leverkusener Schicksal. Vier Mal Vizemeister waren wir. 1996 hatte ich Christoph Daum als Trainer verpflichtet, wir hatten in der Saison zuvor gegen den Abstieg gespielt. Mit Christoph wurden wir auf Anhieb Zweiter. Ich war happy, aber Christoph hatte schon eine andere Denkweise. Er zog auf der Saisonabschlussfeier ein langes Gesicht. Ich sagte: «Wenn du nicht freundlich guckst, trete ich dir in den Hintern, du Blödmann.» Er hatte höchste Ansprüche. Dann spielten wir Champions League, das war die Zeit des Umbruchs.
Dieser Umbruch kam schnell voran.
So war’s. 2000 wurden wir punktgleich mit Bayern München, aber aufgrund des schlechteren Torverhältnisses Vizemeister. Es fühlte sich trotzdem wie eine grosse Niederlage an, weil uns im letzten Spiel in Unterhaching ein Unentschieden gereicht hätte. Unglaublich, dass unsere beiden Top-Stars der Saison, Emerson und Michael Ballack, nicht in der gewohnten Form im Mittelfeld auftrumpften. Ballack, der torgefährlichste Mittelfeldspieler, fabrizierte sogar ein Eigentor. Wir liegen plötzlich hinten und verlieren 0:2. Da kannst du dir nur den Mund abputzen. Eine Erklärung dafür gibt es nicht.
Wie haben Sie das Spiel mit dem Eigentor von Michael Ballack damals erlebt?
In den Tagen zuvor war ich immer nervös. Aber als ich dann in Unterhaching auf der Tribüne sass, sagte ich zu Rudi Völler: «Ich glaube, ich schlafe gleich ein. Ich bin vollkommen ruhig. Was, wenn’s den Spielern geht wie mir?» Und dann verlieren wir das Spiel. Nach dem Spiel rief mich Uli Hoeness, der Bayern-Manager, auf dem Weg zum Flughafen an. Er sagte, er freue sich natürlich riesig über die Meisterschaft der Bayern, aber es tue ihm leid für mich.
2002 entglitt Leverkusen wieder eine Meisterschaft. Dazu verlor die Mannschaft den Final der Champions League gegen Real Madrid und das Endspiel im DFB-Cup. Wann war die Enttäuschung grösser?
Mensch, gegen solche Fragen ist ja ein Zahnarztbesuch harmlos! Vergleichen kann man es nicht, die Saison 2002 war eine ganz andere. Christoph Daum war mittlerweile ja nicht mehr Trainer, er sollte die deutsche Nationalmannschaft übernehmen, und was dann passiert ist, wissen Sie ja (Anm.: Daum wurde wegen einer Kokain-Affäre nicht Nationaltrainer). Dann kam Berti Vogts, ein hervorragender Fachmann, der viel für den deutschen Fussball getan hat. Aber es hat leider nicht funktioniert. Und dann haben wir geschaut und Klaus Toppmöller verpflichtet.
Der aus der 2. Bundesliga vom 1. FC Saarbrücken kam und den nicht jeder auf der Rechnung hatte.
Nein, er war ein vollkommen anderer Typ als Christoph Daum und noch mehr als Berti Vogts. Er hatte eine sehr lockere Art. Der flachste und rauchte mit dem Materialwart und mit dem Masseur eine Zigarette. In dieser Saison hat es wunderbar funktioniert, wir haben klasse Fussball gespielt.
Bis kurz vor Saisonende gelang fast alles.
Ja, diese Saison war auf der einen Seite besonders schön und zugleich aber auch besonders bitter. Wenn ich an die Umstände von damals denke, dann waren die ähnlich unglücklich wie 2000. Da standen wir im Champions-League-Finale gegen Real Madrid. Denken Sie mal an den Weg dorthin. Wir haben Barcelona in der Vorrunde besiegt, in der Zwischenrunde hat uns keiner eine Chance gegeben in einer Gruppe mit Juventus und Arsenal London, die zur gleichen Zeit italienischer und englischer Meister wurden. Und am Ende gewinnen wir die Gruppe. Im Viertelfinal schlagen wir Liverpool. Im Halbfinal werfen wir Manchester United raus, die waren doch über das ganze Jahrzehnt eine der grössten Mannschaften mit dem Trainer Alex Ferguson.
Sie waren damals permanent Aussenseiter gegen die europäischen Top-Teams.
Danach stehen wir Real Madrid im Champions-League-Final gegenüber, die mit Zinédine Zidane, Luís Figo, Raul und Roberto Carlos, Morientes absolute Weltklasse an Bord hatten. Und wissen Sie, warum wir verloren haben? Weil sich der Stammtorhüter César verletzt hat. Dann kommt ein junger Torwart rein, der heisst Iker Casillas, den kennt heute die ganze Welt. Wir waren doch hoch überlegen in der zweiten Halbzeit, wir hatten so viele Möglichkeiten, ein Tor zu machen. Aber der Bursche hielt wirklich alles. Er fliegt nach links, der Ball geht nach rechts, und er wehrt ihn mit dem Fuss ab.
Was hat Leverkusen in diesen Jahren gefehlt ausser Glück?
Nur Glück. Ausschliesslich Glück. Nichts anderes. Aber ich haderte nicht. Auch wenn wir nicht Meister geworden sind, habe ich im Leben sehr viel Glück gehabt. Im Beruf, mit der Familie, mit der Gesundheit. Da kann man nur sagen: Hip, hip, Hurra! Aber wenn der Fussballgott, an den ich gern glauben möchte, ein gerechter Gott ist, dann ist in diesem Jahr Leverkusen dran. Das kann gar nicht anders sein.
Der ausgleichenden Gerechtigkeit wegen – oder weil Leverkusen so seriös gearbeitet hat?
Beides natürlich! Wenn ich die vielen unglücklichen Vizetitel von Bayer 04 analysiere, dann hätten sie jetzt endlich mal die Meisterschale verdient!
In diesen Jahren entstand der Name «Vizekusen». Hat Sie dies geschmerzt?
«Vizekusen» fand ich immer daneben. Nicht weil es um uns ging, sondern weil es hinter dem Zweiten ja auch immer noch einen Dritten und Vierten gibt. Dadurch werden Spitzenleistungen kleingeredet. Ich bin wirklich der Allerletzte, der die Leistung der Bayern nicht respektiert. Ich kann Ihnen mal schnell meine Bayern-«Hall of Fame» nennen, dann sieht man, was für ein Kaliber dieser Verein von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart ist.
Nur zu!
Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Meier, Paul Breitner, Lothar Matthäus, Oliver Kahn, Manuel Neuer, Thomas Müller, Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm. Und natürlich gehören auch Uli Hoeness und Karl-Heinz Rummenigge dazu, die nicht nur auf dem Platz, sondern auch danach in der Klubführung absolute Weltklasse waren. Sie haben die Bayern dorthin gebracht, wo sie heute sind. Und sie haben eben andere Möglichkeiten als die Konkurrenz. Sie können Spieler aus dem teuersten Regal verpflichten, siehe Harry Kane.
Dennoch sind elf Bayern-Meisterschaften in Serie eine Ewigkeit. Was macht die Konkurrenz falsch?
Schauen Sie sich doch einfach mal an, in welcher Dimension die Bayern finanziell spielen. Die Transferwerte der Spieler bestätigen das eindeutig. Die Bayern sind bei einer knappen Milliarde, 978 Millionen Euro. Auf Rang zwei ist Leverkusen mit 566 Millionen Euro, dahinter Leipzig mit 483 Millionen und Dortmund mit 467 Millionen Euro. Das sind Mickey-Mouse-Dimensionen im Vergleich zu den Bayern. Da musst du erst mal dagegen ankommen. Da ist ein zweiter Platz auch was wert.
Was tun Sie, wenn Leverkusen Meister wird?
Ich bin 75 Jahre alt geworden. Wenn Bayer den Titel gewinnt, dann streichele ich die Schale und freue mich, dass sie endlich mal nach Leverkusen gekommen ist.
Reiner Calmund: ein Manager mit legendärem Ruf
sos. Unter Reiner Calmund wurde Leverkusen zum Spitzenklub. Der heute 75-Jährige war von 1988 bis 2004 Manager, in dieser Zeit wurde die Mannschaft viermal Zweiter, was ihr den Beinamen «Vizekusen» einbrachte. 2002 unterlag das Team im Final der Champions League Real Madrid 1:2. In Calmunds Amtszeit fällt auch die Verpflichtung des Trainers Christoph Daum. Calmund war eine der populärsten Figuren des deutschen Fussballs. Wegen seiner damals enormen Körperfülle wurde er auch «der XXL-Manager» genannt.