Jedes Jahr erhalten vierzigtausend Ausländer den Schweizer Pass. Die Unterschiede zwischen den Nationalitäten sind beträchtlich.
Der «Schweizermacher» von Rüschlikon fragt: «Was bedeutet es für Sie, Schweizerin zu werden?»
Helen Müller (Name geändert) sitzt in einem Büro der Gemeinde am Zürichsee. Es ist ein schmuckloser Raum mit Spannteppich, ein paar Gemälden, einer Papierschneidemaschine und fünf Wasserflaschen auf dem Tisch. Müller ist nervös, denn die 35-jährige Deutsche will einen guten Eindruck machen. Sie will Schweizerin werden.
Ihr gegenüber haben die beiden Mitarbeiter der Gemeinde, Benno Albisser und Rinor Shehi, Platz genommen. Die Einbürgerung ist kein feierlicher Rütlischwur, sondern ein nüchterner Verwaltungsakt von 15 Minuten Dauer.
Helen Müller antwortet: «Die Schweiz ist unser Zuhause, unsere Heimat geworden. Mir gefällt zudem das direkte Wahlrecht sehr gut. Manchmal stehen Fragen zur Abstimmung, die auch unser Leben betreffen oder unsere Kinder. Deshalb fände ich es schön, mitbestimmen zu können.»
«Sie fühlen sich integriert?» – «Ja», antwortet Müller. «Wir hatten hier nie Ablehnung erfahren. Zürich ist eine offene Gegend, sehr international aufgestellt.»
Albisser sagt: «Wichtig ist uns die Sprache und die Integration, wenn man in einem fremden Land den Pass haben will.» – «Schweizerdeutsch verstehe ich mittlerweile. Ich kann es auch ein bisschen sprechen und singen.»
Müller ist eine von bis zu zehntausend Ausländerinnen und Ausländern, die im Kanton Zürich jedes Jahr eingebürgert werden.
Denn Zürich ist nicht nur eine Region, in der die ausländische Wohnbevölkerung Jahr für Jahr stark zunimmt, von 370 000 auf fast 470 000 Menschen innert zehn Jahren. Zürich ist im Vergleich mit dem Rest des Landes auch ein Einbürgerungsmotor: Etwa ein Viertel aller 40 000 neu eingebürgerten Schweizerinnen und Schweizer erhalten das Bürgerrecht hier. Jahr für Jahr. Allein in der Stadt Zürich haben im letzten Jahr 3631 Personen aus über hundert Ländern das Bürgerrecht erhalten.
Seit 2023 das kantonale Bürgerrechtsgesetz überholt worden ist, gelten in allen Gemeinden die gleichen Regeln für den Erhalt des roten Passes. Doch die Unterschiede bleiben augenfällig: Während sich in Rüschlikon Jahr für Jahr jeder 27. Ausländer einbürgern lässt, tut dies eine kurze Zugfahrt weiter, in Schlieren, nur einer von 66. Anders gesagt: Die Quote ist hier zweieinhalbmal so hoch wie dort.
Benno Albisser: der Schweizermacher
Wenige wissen so genau, wie man Schweizer wird, wie Benno Albisser.
Seit 25 Jahren begleitet der Gemeindeschreiber von Rüschlikon Einbürgerungen. Bei ihm am Tisch sassen schon CEO von Grosskonzernen, Banker, Büroangestellte oder Pflegerinnen. «Sie alle haben ihre eigene, interessante Geschichte», sagt Albisser.
Der 58-Jährige hat die Zeiten miterlebt, in denen die Bürgergemeindeversammlung darüber befand, ob jemand den roten Pass erhält. Er hat gesehen, wie die Gesuchsteller vom gesamten Gemeinderat angehört und wie sie bei der Gemeindeversammlung erscheinen mussten, wenn sie Schweizer werden wollten. Und er führt heute die Gespräche mit den Einbürgerungswilligen – und vertritt die Gesuche schliesslich vor dem Gemeinderat, der sie beschliessen muss.
Das neue, vereinheitlichte Bürgerrechtsgesetz verlangt von den Gesuchstellern Deutschkenntnisse und Grundkenntnisse über die neue Heimat. Diese dürfen nicht mehr Teil des Gesprächs sein, sondern müssen mit einem standardisierten Test abgefragt werden. Das heisst: Detaillierte Fragen zur Schweizer Folklore sind genauso ausgeschlossen wie gemeindespezifische Fragen. Vorbei die Zeiten, als Kandidaten die Zahl der Dorfbeizen aufzählen mussten oder über die Herkunft von Raclettekäse ausgefragt wurden.
Albisser kennt sie, die Geschichten über Einbürgerungen, die mit seltsamen Begründungen abgelehnt worden sind. Etwa jene von einem pensionierten ETH-Professor aus Kalifornien, dem nach vierzig Jahren in seiner Wohngemeinde Einsiedeln der rote Pass verwehrt wurde – weil er beim Test über die lokalen Kenntnisse durchgefallen war.
Es sind Geschichten, die er nicht nachvollziehen kann. Albisser sagt, es sei kein Zeichen für fehlende Integration, wenn jemand nicht in einem lokalen Verein aktiv sei oder die Dorfbeiz nicht kenne. «Ausländische Staatsangehörige, die in der Schweiz leben, hier integriert sind und die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, sollen die Chance erhalten, den Schweizer Pass zu bekommen.»
Wichtig seien ihm aber die Integration und die Sprache. «Ich hätte Mühe, wenn jemand nur Englisch spricht. Ich fände es falsch, wenn ein Schweizer Pass so einfach zu haben wäre wie ein Artikel in der Migros.»
In Rüschlikon sei es aber nie so gewesen. «Ich bin stolz, dass es hier immer professionell ablief.» Einmal jedoch habe man eine Empfehlung zurückgezogen. Bei einer Dame, die nicht zur Gemeindeversammlung erschienen war, bei der sie eingebürgert werden sollte. «Da fehlte es am Interesse an einer Einbürgerung.» Aber das sei eine Ausnahme. «Die meisten bereiten sich gewissenhaft darauf vor, Schweizer zu werden.»
Pedro Alves: «Warum auch?»
Albissers Kollegen in Schlieren und anderen Gemeinden mit tiefer Einbürgerungsquote rätseln, warum bei ihnen so viel weniger Schweizer Pässe vergeben werden. Die Suche nach Antworten führt ins oberste Stockwerk eines Gewerbegebäudes am äussersten Rand von Schlieren. Es ist das Reich von Pedro Miguel Carvalho Alves.
Die Abendsonne fällt durch hohe Fenster, an denen Fussballschals aufgehängt sind, auf das mit viel Gel gezähmte, krause Haar von Alves. Er hat sich seine Kochjacke übergezogen, er rührt in einem grossen Topf mit schwerem Essen und gibt seinem Team Instruktionen auf Portugiesisch. Alves arbeitet als Küchenchef im Restaurant der Casa do Benfica de Zurique, einem Treffpunkt für Portugiesen, die in der Schweiz arbeiten, leben – aber nie hier ihre Heimat gefunden haben.
Die Geschichte des 42-Jährigen ist jene von vielen Portugiesen in der Schweiz. Eine, die womöglich erklärt, weshalb in Schlieren weit weniger Menschen den roten Pass beantragen als anderswo im Kanton Zürich. Denn in der Stadt im Limmattal leben überdurchschnittlich viele Portugiesinnen und Portugiesen, weil es hier zahlreiche Firmen aus der Baubranche gibt, die sie als Arbeitskräfte schätzen.
Und die Portugiesen bilden nicht nur die drittgrösste Ausländergruppe im Kanton Zürich, sie sind unter den zehn zahlenstärksten auch jene mit der tiefsten Einbürgerungsquote. Nur gerade sieben von tausend erlangen jedes Jahr den roten Pass. Einzig bei den Ukrainern ist der Wert noch tiefer, was aber damit zu tun haben dürfte, dass sie grossmehrheitlich die Anforderungen noch nicht erfüllen, weil man dazu in der Regel zehn Jahre in der Schweiz gelebt haben muss.
Das bedeutet: Wo viele Portugiesen leben, resultieren in der Tendenz weniger Einbürgerungen. Das Umgekehrte gilt für Gemeinden, in denen relativ viele Deutsche leben, wie in Rüschlikon. Unter den nördlichen Nachbarn war die Quote nicht nur im letzten Jahr rund fünfmal so hoch wie unter den Portugiesen. Überdurchschnittlich hohe Werte gibt es auch unter Briten, Franzosen und Kosovaren. Am häufigsten lassen sich zurzeit Russen einbürgern – wohl ein Effekt des Krieges in der Ukraine.
Andere Erklärungen für die Unterschiede zwischen den Gemeinden scheiden aus: Aktiv Werbung für die Einbürgerung machen nur wenige. Und die Gebühren unterscheiden sich zwar um mehrere hundert Franken, aber ohne zählbaren Effekt.
Pedro Miguel Carvalho Alves stammt aus der Gegend der portugiesischen Küstenstadt Porto. Im Alter von 17 Jahren fällt er einen Entscheid, der sein Leben für lange Zeit verändern wird: Er reist in die Schweiz, um zu arbeiten. Wie so viele seiner Landsleute auf der Suche nach einem besseren Leben. Alves sagt: «In Portugal finden selbst Leute mit guter Ausbildung häufig keinen Job.»
Er selbst kommt nach Brienz, wo bereits eine Bekannte seiner Mutter ihr Geld verdient. Im Hotel Brienzerburli macht er eine Ausbildung. Er ist der einzige Portugiese im Betrieb, so lernt er die deutsche Sprache.
Er sagt: «Der Plan war ursprünglich nur, zwei oder drei Jahre zu bleiben. Aber in der Schweiz ist der Lohn super, und die Zeit geht schnell vorbei.» Inzwischen lebt Alves seit 25 Jahren in dem Land. Aus Brienz ist er nach Schlieren gezogen. Und weil er hier rund siebenmal so viel verdient wie ein Koch in Portugal, kann er jeden Monat 2000 Franken auf die Seite legen, um sich sein Haus zu finanzieren.
In Portugal, nah am Meer.
An eine Einbürgerung in der Schweiz hat Pedro Alves nie auch nur einen Gedanken verschwendet. «Warum auch?», fragt er. Sein Plan ist es, wieder zurück in seine Heimat zu gehen. In drei Jahren, mit Mitte vierzig, will er so weit sein. Erspartes, Pensionskassengelder, das reiche für ein gutes Leben.
Alves sagt, viele kämen wie er nur mit dem Ziel in die Schweiz, genug Geld zu verdienen für ein Haus und ein gutes Leben in ihrer Heimat. «In Portugal wäre das Leben entspannter, dort würde ich jeden Tag Kaffee trinken gehen, mit meinen Kollegen plaudern und Karten spielen. Hier arbeite ich von morgens bis abends, dafür habe ich einen guten Lohn.»
Der Deal sei für beide Seiten gut, für die Portugiesen und die Schweizer. «Wir machen hier Jobs, die andere nicht machen. Auf der Baustelle, in der Küche.» Dafür erhalte er finanzielle Sicherheit.
Fernbeziehung, Arbeitsort, Heimat
Helen Müller ist mit einem ähnlichen Plan in die Schweiz gekommen wie der Küchenchef Pedro Miguel Carvalho Alves. 2014 verlässt sie Deutschland, um bei einer Wirtschaftsprüfungsfirma in Zürich anzuheuern. Müllers Partner arbeitet da bereits seit einigen Jahren in der Stadt. Müller sagt: «Wir führten zuerst eine Fernbeziehung. Aber auf Dauer war das nicht ideal.»
Also folgt sie ihrem Partner nach Zürich.
Der Plan des Paares: Ein paar Jahre in der Schweiz arbeiten und leben, und dann nach Deutschland zurückkehren. Doch es kommt anders. «Es hat uns extrem gut gefallen hier. Wir haben rasch Freunde gefunden. Und da waren die Karrieremöglichkeiten. Es gab für uns nie einen Grund, wieder wegzuziehen.»
Nach ein paar Jahren in der Stadt schaut sich das Paar nach einer neuen Bleibe um. Sie werden in Rüschlikon fündig. Der Gemeinde, die 2017 zur attraktivsten Gemeinde der Schweiz erklärt worden ist. Für Helen Müller ist es eine ideale Lösung, weil sie beruflich auch oft in Zug tätig ist.
Und dann kommt die Geburt des ersten Kindes. «Seither hat sich unser Leben stark verändert, es dreht sich gerade alles um Kinder.» Vor allem, seit das dritte Kind auf der Welt ist. «Die Kinder sprechen Schweizerdeutsch, sie bringen die schweizerische Kultur mit Kinderliedern und Räbeliechtli auch in unsere Familie.»
Schweizerin zu werden, bietet eine zusätzliche Sicherheit für die Familie. Müllers Partner hat schon einige Jahre zuvor das Bürgerrecht erhalten. Und 2024, als sie zehn Jahre in der Schweiz lebt, wagt sie den Schritt: Sie meldet sich an, macht einen Einbürgerungstest, den sie mit der Maximalpunktzahl löst (keine «Riesen-Hürde») und sitzt schliesslich zum Gespräch im Gemeindehaus von Rüschlikon.
Gericht pfeift Gemeinde zurück
Die Zahl der Einbürgerungen ist in den letzten Jahren konstant geblieben – trotz gesetzlichen Änderungen. Und abgelehnt werden Gesuche nur selten. In Rüschlikon wurde seit Inkrafttreten der neuen Gesetzesgrundlage im Juli 2023 kein einziges Gesuch abgelehnt. In Schlieren ist es ähnlich. In den drei Jahren vor der Gesetzesänderung gab es vier Ablehnungen, seither keine mehr.
Und nicht immer ist eine Abweisung gerechtfertigt. Das zeigte sich im Fall eines Taxichauffeurs aus Jordanien, der seit 22 Jahren mit seiner sechsköpfigen Familie im Bezirk Uster wohnt. Die Wohngemeinde lehnte sein Einbürgerungsgesuch im November 2022 ab. Die Voraussetzungen für eine Einbürgerung seien nicht erfüllt. Der Grund: die finanzielle Situation der Familie.
Die Gemeinde ging davon aus, dass der Mann nicht in der Lage ist, den Grundbedarf seiner Familie zu decken. Dies, obwohl der Mann nie auf Unterstützung der öffentlichen Hand angewiesen war, seine Frau arbeitet und mehrere der Kinder bereits nicht mehr daheim wohnen.
Das Verwaltungsgericht pfiff die Gemeinde deshalb zurück: Der Jordanier sei kein Fürsorgefall. Es sei deshalb willkürlich, ihn nicht einzubürgern, zumal er alle anderen Voraussetzungen erfülle. Das Gericht wies die Gemeinde deshalb im April 2024 an, den Mann einzubürgern.
«Ich lege das Deutschsein ja nicht einfach ab»
Helen Müller muss noch einige Monate warten. Ihr Gesuch muss im Gemeinderat gutgeheissen werden. Erst dann wird sie offiziell Schweizerin sein.
Etwas will Müller auch danach behalten: den deutschen Pass. «Deutschland ist ja trotzdem noch das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Ich lege das Deutschsein ja nicht einfach ab. Auch wenn die Schweiz nun mein Zuhause ist.» Die 35-Jährige wird deshalb Schweizerin sein – und Deutsche bleiben.