Antisemitismusvorwürfe, noch bevor die Wiener Festwochen überhaupt begonnen haben. Dazu ein Eklat um die «Rede an Europa» des israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm. Ein Skandal, von dem alle profitieren.
Die vom Schweizer Milo Rau kuratierten Wiener Festwochen werden offiziell zwar erst am 17. Mai eröffnet, aber es geht jetzt schon rund. Dem renommierten Festival wird Antisemitismus vorgeworfen, weil sich auf der Liste der Teilnehmenden die französische Schriftstellerin Annie Ernaux findet, die mit der Israel-Boykottbewegung BDS sympathisiert.
Auch mit dabei: der griechische Ex-Aussenminister Yanis Varoufakis, der als Unterzeichner einer Petition Israel «Völkermord» vorwirft. Ein weiterer Stein des Anstosses ist der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm, dem manche Antisemitismus und Relativierung des Holocaust vorwerfen.
Falsche Rede am falschen Ort
Darf Boehm auf dem Wiener Judenplatz, direkt vor dem von Rachel Whiteread gestalteten Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah eine Festwochen-«Rede an Europa» halten? Nein, fand Ariel Muzicant, Ex-Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und gegenwärtiger Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses.
Es sei die falsche Rede am falschen Ort. Dazu noch eine Drohung: Wäre er, Muzicant, dreissig Jahre jünger, würde er Boehm mit Eiern bewerfen. Das Jüdische Museum Wien hat sich als Unterstützer der Veranstaltung ebenso zurückgezogen wie der Sponsor die Erste Stiftung.
Omri Boehm hat am Dienstag seine Rede auf dem Wiener Judenplatz allem zum Trotz gehalten. Umgeben von einer Schar deutlich nervöser Polizisten und hinter einem Wall von Demonstranten, auf deren Schildern stand: «Varoufakis, Ernaux & Co. stehen auf der Seite des Terrors. Shame on you, Wiener Festwochen.» Oder, auf den Kant-Spezialisten Omri Boehm gemünzt: «Israel = Kant, Hamas = Anti-Kant.» Das hier ist keine propalästinensische Demonstration, wie man sie weltweit erlebt. Ganz im Gegenteil.
In seiner «Rede an Europa», die es mit Unterbrechung durch die Corona-Zeit seit 2019 alljährlich auf dem Judenplatz gibt, spricht Boehm vom Gedanken des Universalismus und vom essenziellen Satz des Deutschen Grundgesetzes: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Er zitiert den Historiker Timothy Snyder, der 2019 am gleichen Ort gesagt hat, dass der aufgeklärte Geist des modernen Europa mehr als ein Mythos sein muss.
Keine Zweistaatenlösung
Boehms Idee vom kantianischen Universalismus, der in den Nahen Osten exportiert werden könne, um dort für Frieden zu sorgen, scheint nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober noch fragwürdiger, aber bisher ist Omri Boehm bei den Thesen geblieben, die er 2020 in seinem Buch «Israel – eine Utopie» entwickelt hat.
Für Palästina hat der Philosoph das Modell einer Konföderation namens Republik Haifa entwickelt, in der Juden und Araber friedlich zusammenleben und gemeinsam ihrer jeweiligen Traumata gedenken. Dass er in diesem Zusammenhang den Holocaust neben die Nakba, die gewaltsame Vertreibung der Palästinenser durch israelische Truppen im Jahr 1948, stellt, hat Boehm den Vorwurf der Geschichtsrelativierung eingetragen.
Eine Zweistaatenlösung hält er heute sogar für illusionärer als das Modell «Republik Haifa». «Alle, die die Zweistaatenlösung unterstützen, benehmen sich wie jemand, der die Klimaerwärmung leugnet», hat Omri Boehm dieser Tage im österreichischen Fernsehen gesagt. Es ist ein fast wörtliches Zitat aus seinem Buch.
«Ich höre euch. Hört ihr mich auch?»
In der Rede auf dem Judenplatz wird der Terror der Hamas nicht unterschlagen. Die notwendigen Transformationsprozesse, die heute ganz anders aussähen als noch 2020, kommen allerdings nicht zur Sprache. Boehm will als Philosoph sprechen und nicht als Politiker. Das entschärft zwar den Ton seiner Rede, aber nicht die Brisanz des Inhalts.
Aus dem Wiener Publikum kommen Zwischenrufe, auf die der Redner antwortet: «Ich höre euch. Hört ihr mich auch?» Damit ist das Dilemma des Abends ganz gut zusammengefasst. Am Ende geht man friedlich nach Hause, und die Wiener Festwochen hatten schon vor ihrer Eröffnung ein bisschen Skandal.