Strafverfolger und Gerichte kommen nicht mehr nach mit der Arbeit. Ihre Pendenzen steigen dramatisch. Ein Grund ist die überbordende Bürokratie.
Im November 2020 fuhr ein Transporter eine spezielle Fracht von der Zürcher Staatsanwaltschaft zum Bezirksgericht: insgesamt 526 Bundesordner plus 49 Kisten mit beschlagnahmten Dokumenten. Darin befanden sich sämtliche Verfahrensakten für den Prozess im Fall Vincenz, der ein gutes Jahr später startete.
Damit die sieben Angeklagten diese Unterlagen einsehen konnten, mussten sie einen Termin beantragen. Darauf erhielten sie Zutritt zum Raum im Untergeschoss des Gerichtsgebäudes, wo die Ordner in hohen Gestellen lagerten. In mühseliger Arbeit mussten sie die Seiten aus den Bundesordnern fotokopieren. Wobei sie für jede Kopie eine entsprechende Gebühr zu entrichten hatten.
Zwar existierten diese Dokumente auch in elektronischer Form. Doch der Zugriff war den Angeklagten verwehrt. «Das Gericht wird den Parteien keine USB-Sticks zustellen», lautete der Befund. Im Juni 2021 aber änderte der zuständige Richter plötzlich seine Meinung und händigte den Beschuldigten die begehrten Datenträger doch noch aus.
Die bizarre Episode verdeutlicht: Der Fall Vincenz bringt die Justiz an ihre Grenzen. Das vorläufig letzte Kapitel in dieser Saga schrieb vergangene Woche das Zürcher Obergericht: Überraschend hob es die erstinstanzliche Verurteilung von Pierin Vincenz sowie den Mitangeklagten wieder auf.
Als Grund nannte das Gericht «schwerwiegende Verfahrensfehler» und eine «Verletzung des Fairnessgebots». Kritisiert wird namentlich die zu «ausschweifende» Anklageschrift. Somit stehen die Strafverfolger sechs Jahre nach der Verhaftung des früheren Raiffeisen-Chefs vor einem Scherbenhaufen. Bis zum nächsten Prozess dürften zwei weitere Jahre verstreichen, und bis zu einem letztinstanzlichen Urteil könnten gar sechs Jahre ins Land gehen.
Die Fälle stauen sich immer mehr
Der Fall Vincenz ist indes nur die Spitze des Eisbergs. Allein beim Zürcher Obergericht sind derzeit 1800 Verfahren als unerledigt gemeldet – 50 Prozent mehr als vor sieben Jahren. Andere Kantone melden einen ähnlichen Anstieg der Pendenzen. Auch das Bundesgericht schleppt 30 Prozent mehr hängige Geschäfte vor sich her als im Jahr 2019. Die Lage sei kritisch, heisst es im Jahresbericht.
Der renommierte Strafverteidiger Thomas Fingerhuth hat kürzlich Alarm geschlagen und einen runden Tisch mit führenden Juristen ins Leben gerufen. «Dass sich die Verfahren immer länger hinziehen, ist ein Riesenproblem», sagt Fingerhuth. «Der Zustand wird sowohl für die Ankläger, die Beschuldigten wie auch für die Gerichte zunehmend unhaltbar. Insbesondere in Haftfällen darf es nicht sein, dass wir zum Teil monatelang auf einen Gerichtstermin warten müssen.»
Ansetzen will der Anwalt primär bei der überbordenden Bürokratie. «Das System krankt an einer grassierenden Aktenschieberei», kritisiert Fingerhuth. «Ein Beispiel von vielen: Im Kanton Bern darf man das Plädoyer nicht abgeben. Darum muss der Text, den ich eins zu eins vom Blatt ablese, erneut protokolliert werden.» Mit seiner Initiative will er deshalb Best-Practice-Methoden etablieren, damit die Kantone voneinander lernen können.
Überlastung wegen Bagatellen
Der Solothurner Anwalt und Lehrbeauftragte Konrad Jeker schlägt in die gleiche Kerbe: «Die Überlastung ist auch selbstgemacht, denn die Kriminalität hat in den letzten Jahren kaum zugenommen.» Wertvolle Ressourcen würden für Bagatellfälle ohne Geschädigte verbraucht. Zudem basierten unzählige Verfahren auf vagen Verdachtsmeldungen von Behörden wie zum Beispiel der Meldestelle für Geldwäscherei. «Viele dieser Meldungen lösen komplexe und aufwendige Untersuchungen aus, die am Ende ergebnislos eingestellt werden müssen.»
Ebenso unnötig sei, dass die Strafverfolger für die Aufklärung von Bagatelldelikten oftmals riesige Datenbestände von Smartphones und PCs sicherstellten, die sie dann nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen durchsuchen müssten. Gleichzeitig arbeite die Justiz mit veralteten, ineffizienten Methoden, ohne die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, kritisiert Jeker. «Kürzlich nahm ich an einer Vernehmung teil, welche drei Stunden beanspruchte. Andernorts dauert eine vergleichbare Befragung nur eine halbe Stunde, weil sie audiovisuell aufgezeichnet und die Verschriftlichung durch ein KI-Programm vorbereitet wird.»
Auch im Fall Vincenz erschwerte die gigantische Menge an Informationen die Arbeit. Mehr als sieben Millionen Dateien haben die Ermittler beschlagnahmt. Das entspricht einem Aktenberg von über 30 000 Bundesordnern. Wie die Strafverfolger in einem Bericht festhielten, mussten sie die relevanten Daten in «monatelanger Handarbeit» herausfiltern. Dass es deutlich effizienter geht, demonstrierte ausgerechnet die Gegenseite: Die Verteidiger benutzten eine Software des Zürcher Startups herlock.ai.
Das Programm arbeite mit künstlicher Intelligenz und sei mit dem Sprachmodell Chat-GPT verknüpft, erklärt Simon Hefti von der Firma D ONE, dem Lead-Investor bei herlock.ai. Nebst einem enormen Zeitgewinn ermögliche die Software viel durchdachtere Auswertungen: «Zum Beispiel kann der Benutzer eine Chronologie erstellen, Texte eigenständig zusammenfassen oder eine juristische Hypothese testen.»
Die Behörden wollen jetzt ebenfalls vorwärtsmachen mit der Digitalisierung und haben das Projekt «Justizia 4.0» lanciert. Während heute noch 98 Prozent der Eingaben analog erfolgen, soll dieser Anteil bis 2027 auf die Hälfte sinken, sagt der Projektleiter Jacques Bühler. «Die Umstellung auf elektronische Akten hat den Vorteil, dass mehrere Parteien parallel einen Fall einsehen können. Somit wird die Akte auch innerhalb der gleichen Justizbehörde für alle Mitarbeitenden permanent zugänglich. Heute dagegen geht viel Zeit verloren, weil diese Dokumente jeweils per Post von einer Person zur nächsten geschickt werden müssen.» Die Digitalisierung habe zudem den Vorteil der besseren Übersichtlichkeit, weil man eine gewünschte Stelle rascher auffinde.
Eine Flut an Beschwerden
Ist das Projekt «Justizia 4.0» der ersehnte Befreiungsschlag? Patrick Guidon, Präsident des St. Galler Kantonsgerichts und Honorarprofessor, warnt vor überhöhten Erwartungen. Auch an seinem Gericht ist der Pendenzenberg in zehn Jahren um 60 Prozent gewachsen. Akut ist die Überlastung in der Strafkammer, wo allein das Abarbeiten der hängigen Geschäfte 18 Monate benötigt.
Er sei sehr dafür, möglichst papierlos zu arbeiten. Doch das Problem der wachsenden Arbeitslast lasse sich damit nicht lösen. «Zum einen führt die 2011 in Kraft getretene Strafprozessordnung zu grossem Mehraufwand», erklärt Guidon. «Dadurch sind viele zusätzliche Beschwerdemöglichkeiten entstanden, welche die Justiz Zeit und Energie kosten.» Zum anderen schöpften die Beschuldigten vor allem bei drohenden Landesverweisen sämtliche Rechtsmittel bis zur letzten Instanz aus.
Überdies habe die bundesgerichtliche Rechtsprechung die Anforderungen an die Urteilsbegründung erhöht: «Gerade bei der Strafzumessung muss jeder einzelne Schritt detailliert erklärt werden.» Dies und letztlich die ganze juristische Fallarbeit seien herausfordernd, sagt der Gerichtspräsident. «Diese Denkarbeit kann mir auch die Digitalisierung nicht abnehmen.»
Pikanterweise plädiert selbst der Chefankläger im Fall Vincenz für eine effizientere Justiz. Vor Monatsfrist – also kurz bevor sein Vorzeigeobjekt Schiffbruch erlitt – schrieb Marc Jean-Richard-dit-Bressel in einem Fachbeitrag: «Die übermässige Dauer der komplexeren Verfahren gefährdet die Wirkungsziele des Strafrechts.» Dies kratze an der Glaubwürdigkeit der Justiz.
Als hätte er die Rückweisung der Anklage durch das Obergericht vorausgeahnt, hielt der Staatsanwalt weiter fest: «Die Justiz darf nicht gleich die Waffen strecken, sobald sie bei der Wahrheitsfindung auf Widerstand stösst. Auch darf nicht bei der Fairness gespart werden.» Effizient, hartnäckig und gleichzeitig fair soll die Justiz also sein: Besonders im Fall Vincenz ist sie nun gefordert.
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