Die Heimspiele des Ostschweizer Volksklubs sind eine Wohltat für die Super League. Doch es braucht wenig, um Zweifel aufkommen zu lassen. Dafür sorgen der abrupte Wechsel des Sportchefs, der leidende Captain und der Trainer.
Wieder kommen über 18 000 Personen ins St. Galler Stadion, das Kampfspiel gegen den FC Winterthur endet 2:2. Immerhin. Der St. Galler Trainer Peter Zeidler, der während des Matchs an der Seitenlinie wie ein unermüdlicher Vulkan gewirkt hat, sagt, dass es nach vier Niederlagen einzig darum gegangen sei, «die Dynamik zu brechen».
Sein Team hat es derzeit nicht einfach. Tragende Säulen wie Betim Fazliji, Lukas Görtler und Jordi Quintilla sind verletzt. Und als der rekonvaleszente Julian von Moos gegen Winterthur ein- und als Vorsichtsmassnahme wieder ausgewechselt wird, wirkt das als Beleg dafür, wie schwer sich der FC St. Gallen tut, sein Gesicht zu finden. Anders sein, besser werden. Dazu steigende Zuschauerzahlen, mehr verkaufte Saisonkarten denn je, immer mehr Einnahmen auf allen Ebenen und im ersten Halbjahr als Muntermacher lauter Heimsiege in einer Arena, die emotional bisweilen überzulaufen droht.
Doch es braucht erstaunlich wenig, damit Zweifel mitten in den Optimismus getröpfelt werden. Das Fussballjahr 2024 begann, und bald reihten sich vier Niederlagen aneinander. Dazu verflüchtigte sich der Nimbus der Heimstärke. Auch Winterthur kann nicht niedergerungen werden – und wird danach starkgeredet.
Man denkt prompt wieder an sechs magere Monate
Bereits setzen sich Gedanken fest, ob sich der Klub treu bleibt, ob auf sechs ertragreiche Monate wieder sechs magere folgen, wie schon so oft, seit 2018 das Projekt mit dem umtriebigen Klubpräsidenten und früheren Fernsehmoderator Matthias Hüppi angestossen worden ist.
Das Projekt «Volksklub» hat Fahrt aufgenommen, sehnt sich aber nach mehr als Durchschnitt. Auch deshalb verstummen Stimmen im Innern der Organisation nicht, wonach die Mannschaft nicht merklich vorankomme.
Die Ursachenforschung schliesst vier Themenfelder ein: die in St. Gallen schwer zu kontrollierenden Emotionen, das Seuchenjahr des Leaders Lukas Görtler, der Wechsel des Sportchefs von Alain Sutter zu Roger Stilz und das Wirken des Langzeittrainers Peter Zeidler. Wobei naturgemäss alles miteinander verknüpft ist.
Dass ein Spieler wie Görtler im ersten Heimspiel des Jahres 2024 nach wenigen Minuten ungerechtfertigterweise vom Videoschiedsrichter des Feldes verwiesen wird, kommt auch anderswo vor. Doch die Ostschweizer haben die Tendenz, sich zu lange in der erlittenen Ungerechtigkeit zu suhlen – und den Fokus zu verlieren.
Görtler ist im Klub zum Monument geworden
Überhaupt, Görtler. Der Deutsche wird im Sommer 30 Jahre alt und ist im FC St. Gallen zum Monument geworden. Einmal St. Gallen, immer St. Gallen. Vertrag bis 2026. Aushängeschild, Motor. Doch Görtler seucht sich durch ein schreckliches Jahr, wie er es selbst nennt. Er kümmerte sich Anfang der Saison um das Klima im Team und thematisierte Dinge, die zu Eruptionen mit dem Trainer Zeidler führten, der viel Macht auf sich vereint und kaum gesteuert werden kann. Die Folgen: eine von Hüppi angeführte Wanderung im Alpstein, sich zusammenraufen, Energie auf die (Heim-)Spiele lenken.
Dazu verletzte sich Görtler am Fuss, wurde operiert, kämpfte sich zurück, erduldete eine Grippe, wurde des Feldes verwiesen und schlitterte alsbald in muskuläre Probleme, die ihn derzeit vom Rasen fernhalten. Görtler ist kein Spieler, der sich schont und versteckt. Er könnte am sogenannten «Inler-Syndrom» leiden, das auf den früheren Nationalspieler Gökhan Inler zurückgeht. Es besagt: Ein Spieler lädt sich vor lauter Verantwortungsbewusstsein zu viel auf, neben und auf dem Spielfeld. Görtler ist wie ein Pferd im Stall, das stampft und auf das Öffnen des Tores wartet.
Ungeduld. Das Gefühl des Nichtweiterkommens.
Der FC St. Gallen schritt Anfang Januar zur Zäsur, aber nicht bei der Position des Trainers, also nicht dort, wo eine Baustelle vermutet wird. Nach sechs Jahren trennte sich der Klub vom Sportchef Alain Sutter und riss ein Führungstrio auseinander, das in der Ostschweiz als Dreifaltigkeit bezeichnet worden ist. Hüppi, Sutter, Zeidler, seit 2018 unzertrennlich. Da wurde noch jeder Sturm überstanden, jede ungenügende (Halbjahres-)Bilanz.
Anders sein. Nicht irgendwelchen Impulsen nachgeben, schon gar nicht der Vox Populi oder Forderungen in den Medien. «Ich will hier keine Klagemauern. Im Fussball wird viel gejammert. Die Spieler wissen, wer ihr erster Ansprechpartner ist: der Trainer», sagte Sutter im letzten November.
Alain Sutter wollte keine Macht abgeben
Wenn sich der eigenwillige Alain Sutter etwas in den Kopf gesetzt hat, stösst er dies nicht am nächsten Tag wieder um. Das Ansinnen der Klubführung war, Sutter Hilfe zur Seite zu stellen. Ihn in Anbetracht der wachsenden Organisation zu entlasten: 1. Mannschaft, Transfers, Trainer, Frauenteam, Nachwuchs. Doch Sutter pochte auf Abmachungen bei der Vertragsverlängerung, wollte die ganze Macht behalten.
ℹ️ | Der FC St.Gallen 1879 hat zukunftsweisende Entscheidungen für die sportliche Weiterentwicklung getroffen und Veränderungen in der Führung vorgenommen. Im Zuge dieser Neuorientierung hat der FCSG Alain Sutter von seiner Verantwortung entbunden. Roger Stilz wird als Nachfolger… pic.twitter.com/yycKTqtFj6
— FC St.Gallen 1879 GRÜEWISS IM HERZ (@FCSG_1879) January 3, 2024
St. Gallen hat den Weg des sportlichen YB-Gewissens Christoph Spycher im Kopf, der unlängst Mitbesitzer des Berner Klubs geworden ist, aber längst Arbeit delegiert hat – zum Beispiel an den Sportchef Steve von Bergen. Dieser übernimmt teilweise mühselige Gespräche mit unzufriedenen Spielern und pflegt die Nähe zum Team. Spycher hat immer noch die Macht. Wenn der Klub mit dem Topskorer Jean-Pierre Nsame bricht, geht das nicht ohne den Supervisor Spycher vonstatten.
St. Gallen wollte die unterschiedlichen Profile Alain Sutters und des Ostschweizers Roger Stilz kombinieren. Die Aura Sutters, seine Erfahrung, sein Gespür, seine Eigenwilligkeit – und den Rucksack von Stilz, seine Uefa-Pro-Lizenz, seine Erfahrung als Nachwuchsleiter von St. Pauli. Doch Sutter rückte in mehreren Gesprächen offenbar keinen Zentimeter von seiner Haltung ab. So wirkt seit Januar Stilz.
Stilz ist nicht zu beneiden, weil er schnell bemerkt haben dürfte, dass er Energie brauchen wird in der Moderation zwischen Team, Staff und Trainer, dessen Machtbasis mit dem Abgang Sutters nicht kleiner geworden ist. Zeidler höre zu wenig auf andere, binde Spieler zu wenig ein, passe sich kaum an, offenbare menschliche Defizite. Solche Stimmen halten sich in St. Gallen hartnäckig.
Andrerseits ist Zeidler ein begnadeter Kommunikator gegen aussen, und unter seiner Leitung werden immer wieder beträchtliche Energiemengen frei. Das bestärkt die Klubführung in der Meinung, den richtigen Trainer für den aufputschenden St. Galler Tempo- und Lauf-Fussball zu haben.