Der Regisseur fügt Erinnerungen an die Schreckenszeit Kambodschas aus Bruchstücken zusammen. Eine Begegnung in Locarno.
Vor fünfzig Jahren endet die Kindheit des Rithy Panh jäh. Am 17. April 1975 fallen die «Khmer Rouge» in Phnom Penh ein. Die Schergen des Tyrannen Pol Pot leeren Kambodschas Hauptstadt innert weniger Stunden, sie deportieren die zwei Millionen Einwohner, um sie als «Klassenfeinde» auf Reisfeldern und in den Wäldern schuften zu lassen. Den elfjährigen Lehrerssohn Rithy erwartet ein sogenanntes Umerziehungslager, seine Eltern das Arbeitslager. Dort werden diese und weitere nahe Verwandte sterben, an Hunger und Erschöpfung.
Die Wunden und die Spuren des Genozids sind auch ein halbes Jahrhundert später noch nicht verschwunden, weder in Rithy Panh noch im Land. Über ein Fünftel der acht Millionen Menschen verloren ihr Leben unter dem kommunistischen Terrorregime, das in ideologischer Verblendung alle gleichmachen wollte. Es verbot religiöse Praktiken, Privatbesitz, schloss die Kinos. Alle Mittel waren ihm recht. Und die Welt schaute weg.
Der Traum von der Reise zum Mond
Der mittlerweile 61-jährige Regisseur Panh zieht in einem noblen Hotelgarten in Locarno an seiner Zigarre, sein Blick ist sanft, heiter und nachdenklich zugleich. Die Umgebung bildet einen surrealen Gegensatz zu Bildern seiner Kindheit, die er schildert: Neben dem akkurat gestutzten Rasen wird Beachvolleyball gespielt, das Gespräch findet unter einer Pergola an Steintischen im Grotto-Stil statt. Mücken tanzen. Am Ende wird sich der Journalist fünf Stiche reiben. Sein Gegenüber verschonen sie ganz.
«Ich wuchs mit Neil Armstrong auf, mit der ersten Reise auf den Mond», erzählt Panh. Von solchen Dingen träumte er, als das Grauen hereinbrach. Als die Herrschaft der Roten Khmer 1979 mit dem Einmarsch vietnamesischer Truppen endete, schlug er sich als Teenager allein durch verminte Landstriche zunächst einmal bis zur Grenze. «Eigentlich wollte ich nach Australien. Das sei unendlich gross, hatte ich gehört, ich wollte einfach in einer Wüste verschwinden, nichts mehr mit der Welt zu tun haben.» Er landete in Thailand, dann in Frankreich, liess sich in Paris nieder, wo er 1985 an der Filmhochschule aufgenommen wurde. Nach deren Abschluss kehrte er erstmals nach Kambodscha zurück, ohne seinen Pariser Wohnsitz aufzugeben.
Dazwischen hatte sich Panh über zehn Jahre hinweg geweigert, auch nur ein Wort in seiner Muttersprache zu reden: «Es war die Sprache, in der ich so viel abstruse Ideologie, so viele Grausamkeiten gehört hatte», sagt er. Auch die Bilder versuchte er lange zu verscheuchen, als er dem Terror entronnen war: «Diese Erinnerungen waren immer da, aber darüber reden konnte ich nicht.» Den Bann brach er, indem er sich der Vergangenheit filmisch annäherte. 1989 porträtierte er das thailändische Flüchtlingslager, in dem er an der Grenze zu Kambodscha selbst einige Monate verbracht hatte. Und 1994 feierte «Rice People» in Cannes Premiere, sein erster Spielfilm, gewidmet dem Elend von Reisbauern nach der Zeit der Roten Khmer. Man fühlte sich an den Neorealismo seines Vorbilds Roberto Rossellini erinnert.
Rithy Panhs Begeisterung für bewegte Bilder war in früher Kindheit erwacht, bei regelmässigen Besuchen im Filmstudio eines Nachbarn. Als er als junger Mann beschloss, selbst Filmemacher zu werden, sah er dies auch als Weg, mit der Vergangenheit Frieden zu schliessen. Aber kann man sich mit Erinnerungen versöhnen, die geprägt sind von Hungersnot und Greueltaten? «Manchmal gelingt es mir besser, manchmal weniger», räumt er ein. «Einerseits kann das Vergessen dabei helfen, überhaupt weiterzuleben – ich glaube an seine Kraft. Andererseits kann man sich mit der Leere nicht versöhnen.»
Um die Leerstellen zu füllen, brauche es Bilder, also Filme, sagt er. Zum Glück würden sich in Kambodscha mehr und mehr junge Leute für dieses Handwerk begeistern, anders als in seinen eigenen Anfangszeiten. Vor sieben Jahren gründete Panh in Phnom Penh das um eine Filmschule ergänzte Bophana Center. Dessen Herzstück ist ein Archiv historischer Bild-, Film- und Tondokumente über und aus Kambodscha. «Es braucht diesen Ort der Erinnerung, denn Erinnerung ist Arbeit», sagt er.
Sein eigenes Werk ist von Erinnerungsarbeit geprägt, der eigenen und der von anderen, in kleinen, behutsamen Schritten. Fast archäologisch versucht er, in Spuren und Bruchstücken zu lesen. Er vergleicht es mit der japanischen Tradition, zerbrochene Vasen aus Scherben wieder zusammenzufügen. Ein «Genozid-Filmemacher» jedoch habe er nie werden wollen, kein Überlebender, der einfach anprangere: «Radikalisierung hilft niemandem, wie sich in der heutigen Weltlage zeigt.»
Bei seinen Stoffen habe er, so sehr er sich auch stets an den Fakten orientiert habe, stets künstlerische Zugänge mit Einbezug fiktiver Elemente gesucht. So wie Roman Polanski in «The Pianist» seine Zeit im Krakauer Ghetto aufgearbeitet habe. Die Nationalsozialisten begingen ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit dreissig Jahre vor den Roten Khmer, die Tötungsmaschinerien der beiden Regimes waren sich erschreckend ähnlich. Für seine aufwühlende Dokumentation «S 21» (2003) – das einstige Foltergefängnis ist heute ein Gedenkmuseum, dessen Besuch man nicht mehr vergisst – liess Panh ehemalige Schergen ihre Greueltaten an diesem Ort erinnern. Von 17 000 dort Inhaftierten hatten 7 überlebt.
Die einkreisenden Gedanken
Nach Locarno gereist ist Rithy Panh, um die Wettbewerbsjury des Filmfestivals zu präsidieren. Von einer friedensstiftenden Kraft des Kinos, wie sie in Reden dieser Ausgabe beschworen wurde, will er nicht sprechen. Doch es könne Denkweisen ändern, über die Vielfalt an Blickwinkeln und Erzählformen das Verständnis für andere Kulturen fördern. Damit ein Werk etwas auslöse, müsse es aber zuerst berühren, auch durch Anmut, die man in Filmen wie in Menschen finden könne. Er selbst habe, wenngleich das Böse oft übermächtig sei, seinen Blick für das Gute geschärft – und für die Benachteiligten der Gesellschaft.
Dieser Mann scheint in sich selbst zu ruhen, mitunter sprüht er geradezu vor Humor. In seiner Heimat würden sich die Gedanken einem Gegenstand kreisförmig annähern, wie Elektronen sich um einen Atomkern drehen, hat Panh einmal gesagt. So führt dieses Gespräch weg von seiner Lebensgeschichte, um dann wieder mäandrierend zu ihr zurückzufinden. Als Filmemacher drang er erst mit «L’Image manquante» zu ihr vor, im Alter von fünfzig Jahren. «In der Mitte des Lebens kehrt die Kindheit zurück», sagt er zu Beginn dieses Werks, das seine eigene nachzeichnet und 2014 für den Ausland-Oscar nominiert wurde. Und das sei süss und bitter zugleich. Die Leerstellen beim verwendeten Archivmaterial füllt er, indem er mit Tonfiguren arbeitet. So findet er zu Szenen seiner Kindheit, den glücklichen Tagen bis zu ihrem Schrecken.
Hatte diese Form des Reenactments auch therapeutische Wirkung für ihn? «Jede Form des künstlerischen Ausdrucks ist eine Therapie», entgegnet er. «Diese kleinen Figürchen haben eine Seele, und sie sind bewusst nicht animiert. Denn ich kann den Völkermord nicht inszenieren, auch nicht als Fiktion. Ich musste andere Wege finden.»
Erinnerungen an seine zerstörte Heimat steigen auf, wenn Rithy Panh Bilder heutiger Kriegsgebiete sieht. Bei der Feier zur Preisverleihung in Locarno wird er beweisen, dass sein Blick dabei nicht verengt ist: Statt nur Gaza zu erwähnen wie andere Referenten am Festival, wird er für Empathie und Solidarität mit betroffenen Menschen im Sudan, in Kongo, der Ukraine werben – und für das Bewusstsein um die eigene Unzulänglichkeit: «Wir wissen, und wir wissen nicht, wir sehen, und wir sehen nicht. Ich hoffe nur, eines Tages wird der Wert des Friedens erkannt», wird er sagen. Dann verschlägt es ihm die Sprache.