Gianfranco Calligarich berichtet in seinem Roman «Wie ein wilder Gott» vom Scheitern des italienischen Kolonialismus und über ein Afrika, das zwischen Grossmächten aufgeteilt wird. Leider fehlt es seiner Erzählerfigur an Phantasie für diesen grossen Stoff.
Mit zwei grossen Expeditionen erlangte der italienische Afrika-Forscher Vittorio Bottego Ende des 19. Jahrhunderts lokalen Ruhm. Dass er es bis heute nicht zur Leuchtkraft eines Henry Morton Stanley oder David Livingstone brachte, kann allein schon Grund sein, aus diesem Abenteurer und Phantasten eine Romanfigur zu machen. Und mit ihm eine Geschichte über das Scheitern des italienischen Kolonialismus, über ein Afrika, das zwischen europäischen Grossmächten aufgeteilt wird. Ein grosser Stoff, dessen sich der Italiener Gianfranco Calligarich jetzt in seinem Roman «Wie ein wilder Gott» annimmt.
Calligarich schreibt an den originalen Tagebüchern Vittorio Bottegos entlang und stützt sich auf zeitgenössische Quellen. Ins unerforschte «dunkle Herz» eines Kontinents dringt der Offizier der italienischen Armee bei zwei grossen Expeditionen vor. 1892 bricht er in die Gebiete des heutigen Somalia auf, um den Flusslauf des Juba zu erkunden. Drei Jahre später ist es der ebenfalls auf somalischem Gebiet liegende Omo. Das Verhängnis des Vittorio Bottego: Er hat mit politischen Widrigkeiten auf allen Seiten zu kämpfen.
König Umberto beobachtet das Treiben des Forschers mit missgelaunter Verachtung. Ausserdem bekriegen sich in Italien Kolonialisten und Antikolonialisten. Die Expeditionsgebiete sind beherrscht vom Kampf zwischen Äthiopiens Kaiser Menelik und den italienischen Eindringlingen. In der Schlacht von Adua im Jahr 1896 wird Umbertos Heer vernichtend geschlagen, doch davon erfährt der mit seinen Karawanen durch die afrikanischen Urwälder marschierende Forscher zu spät. Aufgerieben zwischen allen Linien, wird er 1897 im südlichen Äthiopien hinterrücks ermordet. Seine Leiche wurde nie gefunden.
Grenzen der Phantasie
Gianfranco Calligarich hat zu seiner Geschichte eine gewisse biografische Nähe. Er stammt aus einer Triestiner Familie und wurde 1947 in Eritrea geboren. Sechs Jahre nachdem Italien diese letzte seiner Kolonien an die Briten hatte übergeben müssen. Leider entsteht aus diesen Hintergründen kein literarisches Feuer. Das Wildeste am Roman «Wie ein wilder Gott» ist noch der Titel.
Aus unerfindlichen Gründen hat Calligarich einen Erzähler erfunden, der schon aufgrund seiner lebensweltlichen Disposition nicht zu überschiessenden Emotionen neigt. Es ist ein Ex-Präsident der Italienischen Geografischen Gesellschaft, der in seiner römischen Villa den Staub von den Folianten bläst. In den Rissen der Gartenmauer will er immerhin einer Art Landkarte Afrikas erkennen, aber damit sind die Grenzen seiner Phantasie schon erreicht.
«Wie ein wilder Gott» beginnt gleich mit dem Tod Vittorio Bottegos. Der wird, ganz nach dem Willen des äthiopischen Kaisers, «entkleidet, zerstückelt und den Tieren im Wald zum Frass vorgeworfen». Des Forschers Schicksal: «Für immer verschlungen von seinem geliebten Afrika.» Formelhaft spröde und sich genaustens an die historischen Fakten haltend, berichtet Calligarichs Erzähler auf den restlichen Seiten des Buches von Bottegos Expeditionen.
Vom Meer her, vom eritreischen Massaua, dringt die zum Grossteil aus angeworbenen Einheimischen bestehende Truppe ins Landesinnere vor. «Endlosen Buschwald und sonnenversengte Wüsten» stellt sich der Ex-Präsident der Geografischen Gesellschaft vor, wenn er ein Bild von den strapaziösen Reisen zu den Quellen des Juba und des Omo liefern will. Das unterwegs erbeutete Elfenbein lastet schwer auf den Schultern der Elefanten. Stets ist zu befürchten, dass die hungernden afrikanischen Träger desertieren oder dass es hinterhältige Angriffe der Dorfbewohner gibt.
Ein ungestümer Träumer
Aufs Äusserste geschwächt, aber stolz erreicht Vittorio Bottego im Dschungel seine Ziele. Er versteht sich als Wissenschafter im Sinne der Aufklärung. Er möchte die weissen Flecken auf den Landkarten tilgen. Von dieser Schöngeisterei will Italiens Führung allerdings nichts hören. Das Land liegt wirtschaftlich darnieder. Es braucht Bodenschätze und Möglichkeiten der Besiedelung. Der ungestüme Träumer Bottego passt nicht ins Konzept. Genauso wenig, wie er selbst in seine Heimat passt. Ihm wird unterstellt, die Expeditionserfolge nur erfunden zu haben.
Sowohl Kolonialisten als auch Antikolonialisten treten gegen diesen erfahrungshungrigen Don Quijote an. Doch alles, was hier Erzählstoff und aus postkolonialer Sicht auch politischer Sprengstoff sein könnte, lässt Gianfranco Calligarich links liegen. In den Wüsten Afrikas, von denen hier erzählt wird, verdorrt leider auch die Abenteuerlust des Lesers. Berühmt wurde Calligarich durch seinen römischen Dolce-Vita-Roman «Der letzte Sommer in der Stadt». Sein inneres Afrika ist nicht halb so interessant wie das ganz aus Oberflächlichkeit bestehende Rom.
Gianfranco Calligarich: Wie ein wilder Gott. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2024. 208 S., Fr. 35.90.