Die SBB testeten 2025 einen umgebauten Fernverkehrs-Doppelstockzug, sagt Vincent Ducrot. Er kündigt eine neue grosse Beschaffung an, die wieder auf herkömmliche Wagen setzt.
Herr Ducrot, Sie haben Ihren Posten zu einem schwierigen Zeitpunkt während Corona übernommen. War das Jahr 2024 für die SBB besser?
Die Pünktlichkeit war voraussichtlich so gut wie noch nie. Und wir haben erneut mehr Passagiere befördert. Die Zahl der Pendler nähert sich langsam dem Niveau von 2019, während wir im Freizeitverkehr bereits deutlich darüberliegen. Das finanzielle Ergebnis wird ähnlich wie im vergangenen Jahr ausfallen, liegt aber mittelfristig zu tief. Zudem hatten wir weniger Berufsunfälle. Das ist für uns wichtig. Grosse Herausforderungen hatten wir im Güterverkehr, weil der Gotthard-Basistunnel teilweise gesperrt war. Auch im internationalen Personenverkehr war das Jahr mässig. Während der Fussball-EM sind wesentlich weniger Reisende als üblich nach Deutschland gereist und während der Olympischen Spiele auch weniger nach Paris.
Meistens sind die TGV nach Paris voll. Warum bieten Sie nicht mehr Züge zwischen Genf, Lyon und Südfrankreich an?
Im internationalen Verkehr kooperieren wir eng mit Partnerbahnen. Ich bin überzeugt, dass wir für die Strecke Genf–Lyon eine Lösung finden. Ich habe vor kurzem mit dem Chef der französischen SNCF darüber gesprochen. Die Verbindung ist sehr relevant. Lyon ist zu einem Hub für den Hochgeschwindigkeitsverkehr geworden. Genf–Lyon ist neben München–Zürich aber die internationale Strecke, wo wir bei der Infrastruktur die grössten Einschränkungen haben, etwa weil es an Strom und somit Zugkraft fehlt. Ein Modell wäre, dass die Schweiz den Ausbau der Linie mitfinanziert, wie sie dies anderswo gemacht hat. Aber Frankreich müsste bereit sein, darüber zu diskutieren.
Als damaliger Fernverkehrschef waren Sie für die Beschaffung des Doppelstockzugs FV-Dosto mitverantwortlich. Warum schüttelt ein Teil dieser Züge nach wie vor?
Das ist von der Wankkompensation abhängig. Wir nutzen sie zwar nicht für schnellere Kurvenfahrten, aber um Stösse abzufedern. Wenn das System nicht gut funktioniert, schüttelt es leider. 2025 wollen wir den Prototyp eines umgebauten FV-Dosto testen, bei dem wir die Drehgestelle um- und die Wankkompensation ausbauen. Simulationen haben gezeigt, dass wir so eine grössere Laufruhe erreichen. Jetzt wollen wir das im Betrieb überprüfen.
Kommt der umgebaute Zug mit Passagieren zum Einsatz?
In der Pilotphase wird er ohne Passagiere fahren. Wenn sich die höhere Laufruhe im Betrieb bestätigt und wir uns entscheiden, den Zug umzubauen, wird er mit Passagieren verkehren. Der FV-Dosto sollte so ruhig fahren wie die Stadler-Doppelstockzüge.
Es ist ein Eingeständnis eines Scheiterns, dass Sie wenige Jahre alte Züge bereits wieder umbauen wollen.
Im Nachhinein war es ein Fehler, dass wir mit dem FV-Dosto zu viel wollten. Dazu stehe ich. Der Zug, den wir bekommen haben, ist nicht der Zug, den wir bestellt haben. Es gab nachträglich über tausend Anpassungen. Das ist für uns eine Lehre. Wenn wir heute neues Rollmaterial bestellen, ändern wir möglichst wenig.
Was kostet der Umbau?
Das wissen wir noch nicht genau. Die von anderen Medien genannte Zahl von 250 Millionen Franken für den Umbau der 62 Züge ist aber falsch. Es dürfte ein hoher zweistelliger Millionenbeitrag sein. Wir müssen die Drehgestelle im Rahmen des Unterhalts sowieso zerlegen und revidieren. Die FV-Dosto haben schon über eine Million Kilometer zurückgelegt. Falls das Drehgestell vereinfacht werden kann, wird der Unterhalt nach dem Umbau sogar günstiger werden.
Gemäss der «Sonntags-Zeitung» hat ein Experte früh einen Abbruch der Beschaffung empfohlen. Warum haben die SBB dies ignoriert und den Verwaltungsrat nicht informiert?
Der Verwaltungsrat hat an praktisch jeder Sitzung über dieses Thema diskutiert. Er muss es aus einer Gesamtsicht beurteilen. Wir haben rechtlich einen Abbruch geprüft, aber das wäre viel zu teuer geworden. Mir ist nur ein solcher Fall bekannt: Die Niederländischen Eisenbahnen konnten die Beschaffung eines Zuges von Ansaldo-Breda stoppen. Die Kosten waren enorm. Heute sind wir um die FV-Dosto froh. Ohne diese hätten wir keine Chance, so viele Reisende zu transportieren wie nötig.
Offenbar erwägen Sie nun, für den Fernverkehr wieder herkömmliche Wagen und Lokomotiven zu beschaffen.
Wir prüfen, neue Züge zu beschaffen, bei denen der Antrieb nicht mehr über die ganze Zuglänge verteilt ist, sondern sich in den Lokomotiven oder Triebköpfen befindet – analog dem österreichischen Railjet. Solche Züge hätten den Vorteil, dass sie sich einfacher mit Wagen verlängern oder verkürzen lassen. So würden wir gerade im Freizeitverkehr flexibler. Vom Frühling bis im Herbst könnten wir einen Velowagen einreihen, den wir im Winter nicht brauchen. Mit den heutigen Triebzügen ist das nicht möglich. Beim FV-Dosto haben wir im IC-Verkehr acht oder sechzehn Wagen, aber wenig dazwischen. Auch der neue TGV der SNCF wird modular.
Wozu dienen die neuen Züge?
Wir werden damit die Pendelzüge mit den Wagen des Typs EW IV ersetzen, die an ihr Lebensende kommen, und später auch die IC 2000. Wir werden die Beschaffung der neuen doppelstöckigen Züge Ende des nächsten Jahres ausschreiben.
Vor kurzem haben Sie und der Bund die Politik schockiert. Wie kann es beim Bahnausbau zu Mehrkosten von 14 Milliarden Franken kommen?
Der Ausbauschritt 2035 basiert auf unseren Parametern von 2014. Heute haben wir bessere Mess- und Simulationsmethoden. Sie zeigen, dass bei der erhöhten Zugsdichte kein robuster und stabiler Betrieb möglich ist. Wir mussten deshalb die Planungsgrundlagen anpassen. Zudem wurden die Bahnprojekte ohne finanzielle Reserven geplant. Kostensteigernde Veränderungen verursachen Mehrkosten, die nicht finanziert sind. Auch veränderte Vorgaben bei den Personenflüssen führen dazu, dass wir bis 2050 Bahnhöfe wie Neuenburg oder Bülach umbauen müssen. Weil die Frequenzen steigen, müssen wir Perrons für längere Züge ausbauen. Weiter führt die Umsetzung beim Zugsicherungssystem ETCS zu angepassten Bremskurven. Das kostet uns wichtige Sekunden Fahrzeit bei der Einfahrt in die Bahnhöfe. Und für die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes – ein gutes Gesetz – braucht es in Bahnhöfen mit Kurvenlage Anpassungen, was die Züge bei der Durchfahrt weitere Sekunden kostet.
Was heisst das für den Fahrplan?
Allein zwischen St. Gallen und Genf verlieren wir wegen der angepassten Planungsgrundlagen und der neuen Normen bis zu drei Minuten. Deshalb müssen wir den Fahrplan anpassen, wie Simulationen gezeigt haben. Um das System stabil zu halten, sind gut achtzig kleine und grosse Projekte nötig. Sonst würde die Pünktlichkeit von heute 93 Prozent auf rund 80 Prozent sinken.
Aber müssen es gleich 14 Milliarden Franken sein?
Der Betrag muss sinken, daran arbeiten wir. Unter Federführung des BAV überprüfen wir nun alle Parameter. Zudem gilt es zu beachten, dass die Projekte über einen Zeitraum bis 2045 realisiert werden.
Sollen einzelne Projekte angepasst oder verschoben werden?
Wir bewerten nun die neuen achtzig Projekte und prüfen, ob diese möglichst schnell zu realisieren sind oder verschoben werden können. Wenn geplante Angebotsverbesserungen vielleicht etwas später kommen, gibt das Spielraum. Für uns ist entscheidend, dass wir die Projekte vorantreiben, bei denen die Nachfrage am meisten steigen wird. Den Entscheid muss der Bund fällen.
Nehmen wir ein Beispiel: Was bringt der Vollausbau des Lötschberg-Basistunnels für den Fernverkehr, wenn die Zubringerstrecken nicht ebenfalls ausgebaut werden?
Der Vollausbau bringt dem Güterverkehr etwas. Im Gotthard-Basistunnel beginnen wir im Januar mit grösseren Unterhaltsarbeiten, die zu teilweisen Sperrungen führen. Dann sind wir froh, dass wir auf anderen Achsen mehr Kapazität haben. Der Gotthard-Basistunnel kommt in ein Alter, in dem vermehrt längere Unterhaltsintervalle nötig werden.
Warum wird der Brüttener Tunnel auf der Strecke Zürich–Winterthur so viel teurer?
Bauen unter Betrieb und im intensiv genutzten Siedlungsgebiet ist hochkomplex und verteuert das Projekt leider massiv. Alle Teilprojekte mussten während der langen Planung angepasst werden. Vier Bahnhöfe werden aufwendig umgebaut, Personenunterführungen für den Fuss- und Veloverkehr verbreitert, oder es werden Lärmschutzwände und Stützmauern begrünt – dies aufgrund veränderter Gesetze und Normen sowie mit Rücksicht auf Gemeinden und Anwohnende. Hinzu kommen höhere Materialkosten.
Die Luzerner Ständerätin Andrea Gmür wirft Ihnen Desinformation vor, weil Sie die Mehrkosten nie erwähnt hätten.
Die Rollen sind klar verteilt. Die Konsolidierung des Angebotskonzepts ab 2035 macht der Bund, wie auch die Simulationen zur Entwicklung des Bahnfonds. Denn wir haben nicht die nötige Gesamtsicht. Zu Mehrkosten kommt es auch bei anderen Infrastrukturbetreibern. Da haben wir keinen Einblick. Etwa drei Viertel der Projekte entfallen auf die SBB. Auch bei der BLS, der Südostbahn oder der Rhätischen Bahn gibt es viele Ausbauten.
Die Mittel für den Ausbau werden knapp, aber von Basel bis Genf gibt es viele Pläne für neue unterirdische Linien. Kann die Bahn jedes regionale Verkehrsproblem lösen?
Nein. Genf macht das Richtige. Der Kanton überlegt sich, in die Richtung einer U-Bahn zu gehen. Das ist zwar nicht wesentlich günstiger als die Eisenbahn, aber die Finanzierung ist anders geregelt. Das ist für Genf interessant. Der Kanton muss zwar selbst Mittel beisteuern. Der Bund beteiligt sich aber an U-Bahnen über den Fonds für den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehr, wo es künftig tendenziell mehr Mittel gibt als im Bahnfonds.
Sind U- und Stadtbahnen auch anderswo eine Alternative?
Ja. Die Politik muss sich überlegen, wie wir die Finanzierung der Verkehrssysteme in den Städten und Agglomerationen verbessern können. Man muss gut schauen, wie man die steigende Nachfrage sinnvoll und rasch mit dem öV bewältigen kann. Heute finanziert der Bund neue Bahnlinien zu 100 Prozent, bei den Agglomerationsprogrammen sind es aber maximal 50 Prozent. So ist der Anreiz, ein alternatives Modell zu wählen, gering.
Mehrkosten entstehen auch zwischen Neuenburg und La-Chaux-de-Fonds. Die geplante Neubaustrecke kommt in einer SBB-Analyse schlecht weg. Warum haben Sie den Alternativvorschlag einer unterirdischen Stadtbahn verworfen?
Die Steigung der unterirdischen Strecke wird mit 53 Promille sehr gross, die Züge fahren mit 110 km/h. Ein Light-Rail-System kann das nicht bewältigen. Vor allem aber hat das Parlament entschieden, dass der Ausbau aufwärtskompatibel sein muss und später Direktverbindungen nach Lausanne ermöglichen soll.
Gemäss der Analyse entspricht dies jedoch nicht den Bedürfnissen der Reisenden, die meist innerhalb des Kantons Neuenburg pendeln.
Das Parlament hat nicht eine Verbindung von Zentrum zu Zentrum bestellt, sondern von der Peripherie Neuenburgs nach La-Chaux-de-Fonds. Der politische Entscheid ist schon früher gefallen. Die Idee ist, eine Neuenburger S-Bahn zu bauen und nicht eine Stadtbahn. Aber das Beispiel zeigt, dass wir uns zuerst darüber unterhalten sollten, was wir wollen, bevor wir über die Infrastruktur reden.
Sie sind verpflichtet, die SBB betriebswirtschaftlich zu führen. Und nun bauen Sie eine Bahnlinie, die rund 300 Millionen Franken teurer als geplant wird und pro Tag nur zu 6000 zusätzlichen Passagieren führt?
Das Parlament steht über den SBB. Wir setzen um, was es bestellt. Die Mehrkosten sind auch darauf zurückzuführen, dass es besondere Sicherheitsvorkehrungen braucht, weil der Tunnel eine starke Steigung hat. Ein Unterhaltsfahrzeug der Infrastruktur könnte entrollen. Die Risikoanalyse hat gezeigt, dass wir eine Abzweigung bauen müssen, in die dieser Zug gelenkt werden könnte. Beim Vorprojekt studiert man solche Fragen noch nicht.