Aus verständlichen Gründen lehnt der Nationalrat Sammelklagen im schweizerischen Recht ab. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Zugang zur Justiz nicht auch hierzulande verbessert werden sollte.
Vor zehn Jahren flog der Dieselgate-Skandal auf, der das Vertrauen in die Autoindustrie nachhaltig erschütterte: VW hatte Millionen Dieselautos mit einer geheimen Software manipuliert, um bei Abgastests zu täuschen. Die Fahrzeuge waren im Alltag deutlich schmutziger als erlaubt. Auch viele Schweizer VW-Besitzerinnen und -Besitzer waren von dem Täuschungsmanöver betroffen.
Doch im Unterschied zu VW-Fahrern aus anderen Ländern gingen hierzulande die meisten Geschädigten leer aus. Nur wer dazu bereit war, das Prozessrisiko allein zu schultern, hatte Aussicht auf Schadenersatz. Der Versuch dagegen, die Klagen von 6000 Geschädigten zu bündeln, scheiterte vor Gericht daran, dass die Schweiz keine Sammelklage kennt.
An dieser Ausgangslage für Konsumentinnen und Konsumenten wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Mit bemerkenswerter Deutlichkeit hat der Nationalrat am Montag neue Instrumente zur kollektiven Rechtsdurchsetzung abgelehnt. Die Vorlage war eine direkte Folge des VW-Abgasskandals. Doch zu gross ist bei den Bürgerlichen und bei der Wirtschaft der Respekt vor Klage-Exzessen.
Fehlentwicklungen in EU-Ländern
In den USA überziehen auf «class actions» spezialisierte Kanzleien Unternehmen wegen Banalitäten regelmässig mit Schadenersatzforderungen in Rekordhöhe, um in Vergleichsverhandlungen für ihre Kunden Millionenbeträge herauszuschlagen. Die Angst vor einer solchen Amerikanisierung der Rechtspflege ist zwar übertrieben. Die Vorlage des Bundesrates hätte solche Exzesse nicht ansatzweise ermöglicht.
Und dennoch ist die Ablehnung der Vorlage über Kollektivklagen nachvollziehbar: Untersuchungen aus den EU-Ländern, die in den letzten Jahren neue Instrumente zur kollektiven Rechtsdurchsetzung geschaffen haben, deuten durchaus auf gewisse Fehlentwicklungen hin. So hat sich die Zahl der Klagen in einzelnen Ländern vervielfacht. Das belastet das Justizsystem und die Wirtschaft, und dies obwohl davon oft nicht zuletzt Anwälte und spezialisierte Organisationen profitieren.
Im Unterschied zu den USA sind Kollektivklagen in Europa nicht Teil der Rechtskultur. Zu unterschiedlich sind die Rechtssysteme. In der amerikanischen Common-Law-Tradition ist das Richterrecht wichtiger, weil Gerichtsverfahren für die Fortentwicklung des Rechts eine entscheidende Rolle spielen. Deshalb ist in den USA auch die Bereitschaft grösser, Rechtsstreitigkeiten vor Gericht auszutragen. Solche kulturellen Differenzen widerspiegeln sich im gesamten System, beispielsweise darin, dass es in Europa keine exorbitanten Schadenersatzsummen, sogenannte «punitive damages», gibt.
Korrekturen haben zu wenig Wirkung
Der Entscheid des Nationalrates heisst allerdings nicht, dass in der Schweiz alles zum Besten steht. Die Befürworter von Kollektivklagen haben recht, wenn sie feststellen, dass der Zugang zum Gericht wegen der Prozesskosten oft ein zu grosses finanzielles Risiko darstellt. Eine abgeschwächte Form von kollektiver Rechtsdurchsetzung unter Einbezug von Ombudsstellen, wie sie in nordischen Ländern praktiziert wird, könnte für die Schweiz in bestimmten Fällen ein Mittelweg sein.
Wichtiger ist jedoch, dass die Prozesskosten generell sinken. Bereits kleinere Rechtsstreitigkeiten, etwa im Rahmen von Arbeitsverhältnissen oder bei Scheidungen, sind für viele kaum bezahlbar. Steigt der Streitwert, wird ein Prozess oft sogar für den Mittelstand und KMU unerschwinglich. Zwar hat das Parlament kürzlich Massnahmen beschlossen, doch deren Wirkung bleibt beschränkt, da für Prozesskosten primär die Kantone zuständig sind.
Solange diese nicht aktiv werden, bleibt der Zugang zur Justiz erschwert. Daran hätten auch Sammelklagen wenig geändert, die der Nationalrat aus verständlichen Gründen abgelehnt hat. Die Politik bleibt deshalb in der Pflicht: Ohne Reduktion der Prozesskosten und ohne Effizienzsteigerung bei den Gerichten droht weiterhin eine Justiz, in der sich finanziell Schwächere ihr Recht nicht immer leisten können.