Das Streamingportal vergreift sich an dem Stoff, mit dem Visconti Kinogeschichte geschrieben hat. Sakrileg!
Ach, Sizilien! Ein unvergessliches Erlebnis muss es gewesen sein, hier den Mythos des «Gattopardo» aufleben zu lassen. An 105 Drehtagen hat das Filmteam um den britischen Regisseur Tom Shankland auf der Insel aus dem Vollen geschöpft. 5000 Komparsen, 6000 Kostüme, 15 000 Kerzen.
Grandiose Landschaften, herrschaftliche Palazzi, kulinarische Hochgenüsse. Kutschfahrten durch Blütenkaskaden prächtiger Bougainvilleen und leuchtende Zitronenhaine. Galoppritte über hitzeflimmernde Staubwege entlang der Inselküste. Rauschende Bälle, Krinolinen und Licht. Dem Auge bietet Netflix in der opulenten Mini-Serie «Il Gattopardo» viel.
Wer führe da nicht am liebsten gleich los? Sechs Stunden nährt das Monumentalwerk die Sehnsucht nach Sizilien. Mit der freundlichen Unterstützung des sizilianischen Tourismusministeriums, wie dem Vorspann der Episoden zu entnehmen ist. Das passt in die Zeit.
Filmproduzenten und Luxusreiseveranstalter entdeckten die Mittelmeerinsel in den vergangenen Jahren als reizvolle Topdestination. Schon die zweite Staffel der Serie «The White Lotus» zog Touristen in Scharen an die Drehorte auf der Insel. Nun verschickt der Streamingdienst seine gefilmten Postkarten vom Südende Europas in 180 Länder der Welt. Airbnb feiert die Rückkehr des «Gattoparden» mit Reiseangeboten zu evokativen Orten auf Sizilien. Allerdings hat der Stoff seine Tücken.
Zeitenwende auf der Insel
Die Vorlage von Giuseppe Tomasi, Fürst von Lampedusa, 1958 postum erschienen, ist der bedeutendste italienische Roman der Nachkriegszeit. Und ein Welterfolg. Illusionslos beschreibt der Palermitaner Tomasi in seinem einzigen Werk den Untergang des sizilianischen Adels und das Ende einer Epoche. Es ist sein eigenes Schicksal. Seine Familie hat erlitten, worüber der finanziell ruinierte Aristokrat später wehmütig schreibt.
Zum Plot: 1860, Italien existiert noch nicht, landet aus Turin der Kämpfer für die nationale Freiheit Garibaldi mit tausend seiner Rothemden auf der Insel und versetzt der Feudalherrschaft den Todesstoss. Erzählt wird die Zeitenwende aus der Sicht von Don Fabrizio Corbera, dem Fürsten von Salina. Er selbst nennt sich, nach dem Wappentier seiner Familie, «Gattopardo».
Nebenbei bemerkt: Der Buchtitel der deutschsprachigen Ausgabe lautete bis 2004 irreführend «Der Leopard». Den ermatteten Fürsten beschrieb Tomasi di Lampedusa aber keineswegs als gefährliche Raubkatze. Der opportunistische Don Fabrizio arrangiert sich mit den neuen Machthabern. Zum Beissen ist er zu träge.
Mit dem sizilianischen Adeligen hat Tomasi einen Charakter geschaffen, der zur Metapher für das wandlungsresistente, erstarrte Italien geworden ist. «Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern», lautet der oft zitierte Schlüsselsatz des Romans. Er steht für den konservativen Opportunismus des Landes. «Gattopardesco» und «gattopardismo» sind als Neologismen in den italienischen Wortschatz eingegangen. Gut möglich, dass dank Netflix demnächst noch die «gattopardomania» hinzukommt. Es gibt jedoch ein Problem.
Die 223 Seiten der ohnehin schmalen Originalausgabe geizen mit Unterhaltungswert. Jedenfalls gemessen am Anspruch der italienischen Netflix-Produktion. «Uns ist es wichtig, dieses Buch zeitgemäss zu erzählen, und zwar für ein globales Publikum», sagt der Produzent Daniel Campos Pavoncelli im Making-of. Also mussten sich die britischen Drehbuchautoren einiges einfallen lassen, um die sechs Folgen mit Inhalt zu füllen. Modern sollte der Content auch noch sein. Das zog bisweilen surreale Anreicherungen der Romanhandlung nach sich.
Vergleich mit Visconti
Noch stärker wurde das Netflix-Team durch etwas anderes herausgefordert: Fünf Jahre nach der Veröffentlichung des literarischen Instant-Klassikers hatte Luchino Visconti, der Grossmeister des italienischen Kinos, den Roman in ein überragendes, werkgetreues Breitwandepos verwandelt. In Cannes holte sein «Gattopardo» 1963 die Goldene Palme.
Die Italiener betrachten den Film als ihren «Gone with the Wind», als ein Pendant zur epischen Literaturverfilmung aus Hollywood. Doch dann kam die Streamingplattform aus Kalifornien und machte sich über das identitäre Werk her.
Die Seriendarsteller müssen sich messen lassen an der formidablen Starbesetzung von Burt Lancaster als Fürst von Salina, einem faszinierenden Alain Delon als dessen Neffe Tancredi und der Sizilianerin Claudia Cardinale als bürgerliche Angelica. Selbst der Bühnenbildner Dimitri Capuani gestand, dass ihm bei der Annahme des Netflix-Auftrags die Knie geschlottert hätten. Dem Stöhnen von Kollegen über Schwierigkeiten im Job begegne man in seinem Beruf mit der spöttischen Bemerkung: «Hör bloss auf, du arbeitest doch nicht am ‹Gattopardo›!»
Eine neue Hauptfigur
Netflix zog daraus einen Schluss: Der Streaminganbieter legte alles daran, die Serie dem Vergleich mit dem Vorbild zu entziehen. Kim Rossi Stuart, der den alternden Don Fabrizio spielt, behauptete sogar, er habe den «Gattopardo» zuvor nie gelesen und auch das Visconti-Epos nicht gesehen. Umso besser für ihn. Denn in einem Befreiungsschlag stiess Netflix den Fürsten vom Thron und erfand eine neue Hauptfigur: Concetta, die unscheinbare, im Roman nur flüchtig gestreifte Fürstentochter. Sie vertritt nun ihre feministischen Instanzen gegen den Patriarchen. Das ist in der Tat modern: Der globale «Gattopardo» kommt heute als «Gattopardin» daher.
Nicht nur Concetta gewann an erotischem Potenzial. Netflix kommt dem Serienpublikum mit der Sexualisierung aller Hauptfiguren entgegen. Sogar der kranke Fürst ist des Öfteren im Bett einer Konkubine zu sehen. Und zweimal in der Badewanne.
Für italienische Kritiker ist die Netflix-Romanze eine Zumutung. Sie verehren das Sittengemälde der untergehenden sizilianischen Adelsgesellschaft als Allegorie Italiens. Und nun bekommen sie eine Seifenoper zu sehen. Obwohl doch die Auflösung der Weltordnung gerade wieder brandaktuell ist.