Donald Trump mag erratisch sein, die finanzpolitischen Schwergewichte an seiner Seite sind es nicht: Möglicherweise wird die US-Regierung eine fundamentale Reform des globalen Handels-, Finanz- und Sicherheitssystems vorantreiben.
«Die Welt lacht über Amerika, während wir Schiffe schützen, die uns nicht gehören, die Öl transportieren, das wir nicht brauchen, und das für Verbündete bestimmt ist, die uns nicht helfen (…) Beenden wir unsere riesigen Defizite, senken wir unsere Steuern und lassen wir Amerikas Wirtschaft unbelastet von den Kosten für die Unterstützung derer wachsen, die es sich leisten könnten, uns für die Verteidigung ihrer Freiheit zu bezahlen.»
Donald Trump (*1946), in einem Inserat in der «New York Times», 1987
«It’s the end of the world as we know it»
Songtitel von R.E.M., 1987
Donald Trump hat gestern Donnerstag weitreichende, reziproke Importzölle gegen diverse Länder angekündigt. Sein designierter Handelsminister, Howard Lutnick, soll bis zum 1. April die entsprechenden Details vorlegen. Trump will besonders gegen Staaten vorgehen, die einen hohen bilateralen Überschuss mit den USA erzielen und die ihrerseits mit Handelshürden – dazu zählen seiner Ansicht nach auch Mehrwertsteuern – arbeiten.
Es fällt nicht schwer, die täglichen Drohungen des amerikanischen Präsidenten primär als Lärm zu betrachten. Trump poltert, seine Verhandlungspartner schenken ihm einen raschen, symbolischen Sieg – und der Sturm zieht weiter.
Entsprechend gelassen haben Investoren bislang auf die handelskriegerische Rhetorik von Trump reagiert; zahlreiche Aktienmärkte, inklusive der schweizerische, haben einen Traumstart ins noch junge Jahr hingelegt.
Doch Selbstgefälligkeit ist gefährlich. Die Tragweite der Veränderungen, die von Washington vorangetrieben werden, darf nicht unterschätzt werden. Trump mag zwar tatsächlich viel Lärm produzieren, doch hinter der Lärmkulisse dürfte etwas viel Grösseres in Arbeit sein. Basierend auf Aussagen von Exponenten aus dem wirtschafts- und finanzpolitischen Umfeld des Präsidenten muss mit nichts Geringerem als einer fundamentalen Neuordnung des weltweiten Handels-, Finanz- und Sicherheitsgefüges gerechnet werden.
Rein aus der Perspektive des Investors muss das nicht per se schlecht sein. Aber besonders Europa wird erhebliche Auswirkungen zu spüren bekommen. Davon wird auch die Schweiz nicht ausgenommen sein.
Wir beleuchten im dieswöchigen «Big Picture», in welche Richtung sich das Denken in Washington bewegt, und was es für die Weltwirtschaft bedeutet. Zunächst werfen wir zudem einen kurzen Blick auf das Thema Inflation und einige bemerkenswerte Marktsignale.
Die Publikation der Inflationsdaten in den USA war das wichtigste Makro-Ereignis der Woche. Und sie zeigten: Das Thema kann noch lange nicht abgehakt werden. Sowohl der breite Index der Konsumentenpreise (Consumer Price Index, CPI) als auch die Kernrate (Core CPI, ohne Energie und Nahrungsmittel) stiegen im Januar im Vergleich zum Vorjahr stärker als erwartet um 3% bzw. um 3,3% und entfernten sich damit weiter vom Zielwert von 2%.
Tags darauf, am Donnerstag, fiel auch der Index der Produzentenpreise (PPI) mit einem Anstieg von 3,5% im Vergleich zum Vorjahr höher aus als erwartet. Der Teuerungsdruck hält sich hartnäckig, die vom Bondmarkt induzierten Inflationserwartungen – gemessen an der Renditedifferenz zwischen inflationsgeschützten und nominal verzinsten Staatsanleihen – steigen seit vier Monaten stetig.
Damit droht ein «Déjà vu»-Erlebnis zum ersten Quartal des vergangenen Jahres, als die Inflationsdaten drei Monate in Folge höher ausfielen als erwartet, was die Marktteilnehmer zwang, ihre Hoffnung auf rasche Zinssenkungen der US-Notenbank (Fed) zu begraben.
Fed-Chef Jerome Powell hat in seinen Auftritten vor dem Kongress diese Woche klargemacht, dass mit weiteren Zinssenkungen keine Eile besteht. An den Terminmärkten ist die Botschaft angekommen: Sie rechnen mittlerweile damit, dass das Fed erst an der Sitzung von Mitte September den Leitzins das nächste Mal senken wird. Einmal mehr heisst die Losung «higher for longer».
Und wie reagierten die Aktienmärkte auf diese Hiobsbotschaft? Denen war’s egal. Sie fanden Gefallen an der Tatsache, dass immerhin einzelne Komponenten im PPI, die in das vom Fed präferierte Inflationsmass der persönlichen Konsumausgaben (Personal Consumption Expenditures, PCE) einfliessen, nicht weiter gestiegen sind.
Nach einem kurzen Taucher am Mittwoch war der Inflationsschock vorbei, und die Börsen setzten weltweit ihre Rekordfahrt fort. Der Hausse-Trend bleibt stark – und er ist breit abgestützt.
Regelmässige Leserinnen und Leser dieser Zeilen wissen: Wir betrachten die Preise an den Finanzmärkten als Signalgeber. Die Märkte antizipieren Entwicklungen. Sie spüren Veränderungen im gesamtwirtschaftlichen Umfeld, lange bevor diese in den offiziellen Daten sichtbar werden.
In diesem Kontext fallen an den hiesigen Börsen derzeit einige Bewegungen auf. Deutsche Chemieaktien wie BASF oder Lanxess verbuchen seit Anfang Jahr kräftige Gewinne:
Sogar das hässliche Entlein des Sektors aus der Schweiz, Clariant 📈, verspürt etwas Aufwind.
Der Chemiesektor ist frühzyklisch, das heisst, er reagiert sensitiv auf Veränderungen im globalen makroökonomischen Umfeld. Die Preisbewegungen im Chemiesektor – freilich ab einem extrem deprimierten Niveau – können also dahingehend interpretiert werden, dass die Finanzmärkte eine Aufhellung der globalen Konjunkturdynamik antizipieren. In den vergangenen zwei Jahren hatten die Chemiekonzerne mit Lagerabbau bei ihren Kunden zu kämpfen. Dieser Prozess dürfte mittlerweile abgeschlossen sein, das heisst, eine konjunkturbedingt steigende Nachfrage würde sich rasch auf den Geschäftsgang der Unternehmen auswirken.
Ebenfalls ein verhalten positives Konjunktursignal lässt sich aus der jüngsten Kursentwicklung von Bossard lesen; der Zuger Schraubenlogistiker gilt als konjunktursensitivster Wert am Schweizer Börsentableau. Die Bossard-Aktien haben sich seit Anfang Januar um gut 15% verteuert.
Auch der Kursverlauf des Bauchemiekonzerns Sika sendet ermutigende Signale:
Wohlgemerkt: Einige der genannten Unternehmen, besonders der deutsche Chemiesektor, haben ein langes Tal der Tränen hinter sich. Die Geschäftsentwicklung, über die die Unternehmen in den kommenden Wochen berichten werden, dürfte noch kaum harte Beweise einer breiten Belebung ausserhalb der bekannten Boomregionen wie den USA oder Indien liefern.
Aber die Finanzmärkte antizipieren etwas. Sie sehen Licht am Ende des Tunnels.
Ebenfalls Lebenszeichen ab einem extrem deprimierten Niveau zeigen China und Hongkong:
Ein Teil davon lässt sich mit der neu entfachten Tech-Fantasie nach dem Auftritt der KI-Plattform DeepSeek erklären. Die Titel des Tech- und E-Commerce-Riesen Alibaba beispielsweise haben sich innerhalb von vier Wochen um 50% verteuert. Aber auch hier lässt es sich interpretieren, dass die Märkte Schritte der Zentralregierung in Peking antizipieren, die die Volksrepublik aus dem konjunkturellen Morast ziehen werden: Der Nationale Volkskongress, an dem die Wirtschaftspolitik kommuniziert wird, beginnt am 5. März.
Und noch ein letztes Marktsignal, auf das wir gerne hinweisen. Der Goldpreis 📈, darüber wurde mittlerweile schon einiges geschrieben, eilt von Rekord zu Rekord. Sehr spannend ist jetzt aber auch die Konstellation im Silberpreis. Er könnte kurz vor einem Ausbruch stehen.
Kommen wir nun zum Hauptthema des dieswöchigen «Big Picture», den grossen Plan, der in Washington möglicherweise vor der Umsetzung steht.
Donald Trump mag unberechenbar und erratisch sein. Die Personen, die ihm in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zur Seite stehen, sind es nicht. Die beiden massgeblichen Figuren in diesem Zusammenhang sind Finanzminister Scott Bessent sowie der designierte Chairman des wirtschaftspolitischen Beraterstabes (Council of Economic Advisers), Stephen Miran.
Beide haben in den vergangenen Monaten offensiv die Ambition formuliert, das globale Handels-, Finanz- und Sicherheitssystem grundlegend zu reformieren.
Wie diese Neuordnung konkret aussehen kann, beschrieb Miran im November, bereits nach der Wahl von Trump, in seiner bisherigen Rolle als Stratege beim Vermögensverwalter Hudson Bay Capital in einer umfassenden Studie mit dem Titel «A User’s Guide to Restructuring the Global Trading System».
Miran beschreibt darin Veränderungen von der Tragweite des Systems von Bretton Woods, das die Ordnung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg regelte und das in den frühen Siebzigerjahren zerbrach.
Es lohnt sich, sich eingehend mit den Ideen auseinanderzusetzen. Im Grundsatz, so lässt sich die Stossrichtung von Miran zusammenfassen, stellen die USA für die Welt – teilweise nur für den demokratischen Teil, teilweise für alle Länder – zwei öffentliche Güter zur Verfügung:
- Schutz und Sicherheit, wozu auch die Sicherheit der Handelswege zählt, und
- den Dollar als Reservewährung
Und gemäss Miran werden die USA von den Nutzniessern dieser öffentlichen Güter nicht adäquat bezahlt, weshalb das System grundlegend neu geordnet werden müsse.
Scott Bessent hat in öffentlichen Auftritten und Interviews zum Teil wörtlich die gleichen Argumente wie Stephen Miran aufgeführt. Unbedingt sehenswert in diesem Zusammenhang ist dieses 45-minütige Gespräch mit Simplify Asset Management vom Oktober 2024.
Für beide besteht kein Zweifel, dass die demokratische Welt vom Sicherheitsschirm der USA profitiert, ohne dafür zu bezahlen. Doch auch der Umgang mit dem Dollar ist ihnen ein Dorn im Auge. Miran sieht zwar durchaus Vorteile im Status des Dollar als Reservewährung – etwa «leicht tiefere» Zinsen –, aber er sieht ihn vielmehr als Bürde: Weil der Rest der Welt seine überschüssigen Reserven in Dollar-Anlagen investiert und dadurch Kapital in die USA drängt, steht der Greenback unter permanentem Aufwertungsdruck. Zudem erzwingen die Kapitalzuflüsse per Definition ein grosses Defizit in der Leistungsbilanz der USA, da die Leistungs- und die Kapitalbilanz sich gegenseitig ausgleichen müssen.
Der Reservestatus der heimischen Währung zwingt die USA in das nach dem belgisch-amerikanischen Ökonomen Robert Triffin benannte Triffin-Dilemma: Der Dollar ist zu stark, der Industriesektor leidet, und die ungebremste Dollarnachfrage aus dem Rest der Welt zwingt die USA in eine Defizitwirtschaft.
Der Reservestatus des Dollar sei kein Privileg, schreibt Miran, sondern eine Belastung für Amerika, während der Rest der Welt davon profitiert.
Angesichts der Staatsverschuldung, die auf Bruttobasis auf mehr als 120% des Bruttoinlandprodukts gestiegen ist, und der Zinslast, die im laufenden Jahr mit gegen 1000 Mrd. $ mehr Steuergelder verschlingen wird als der gesamte Verteidigungsetat, sei dieses System an seine Grenzen gekommen, schreibt Miran. Es sei an der Zeit, dass andere Länder – die Nutzniesser des Systems – einen Teil der Last tragen.
Sicherheit, Zugang zur Reservewährung sowie Zugang zum riesigen Konsumentenmarkt Amerikas seien dabei untrennbar verbunden. «Zugang zum Sicherheitsschirm der USA ist ein Privileg. Zugang zum Dollar ist ein Privileg, Zugang zum US-Markt ist ein Privileg», schreibt Miran. Diese Privilegien seien kein Recht; sie müssten verdient werden.
Auch Bessent spricht im erwähnten Interview – im Video ab ca. Minute 30 – davon, dass die Nutzniesser des Systems ihren Teil der Bürde tragen müssten. Und auch er sieht handels-, finanz- und sicherheitspolitische Fragen untrennbar miteinander verbunden: Bessent schwebt vor, die Welt in die drei Zonen Grün, Gelb und Rot zu unterteilen, je nachdem, wie sich ein Land gegenüber den USA verhält.
Miran führt mögliche Kriterien auf, die dieser Klassifizierung dienen könnten:
- Erhebt das Land Zölle auf seine Importe aus den USA?
- Hat das Land in der Vergangenheit seine Währung unterdrückt, zum Beispiel durch die Anhäufung von übermässigen Devisenreserven?
- Öffnet das Land seine Märkte für US-Firmen in der gleichen Weise, wie Amerika seine Märkte für ausländische Firmen öffnet?
- Respektiert das Land die amerikanischen Rechte an geistigem Eigentum?
- Hilft das Land China bei der Umgehung von Zöllen durch Re-Exporte?
- Zahlt das Land seine Nato-Verpflichtungen in vollem Umfang?
- Stellt sich das Land in wichtigen internationalen Streitigkeiten, z. B. bei den Vereinten Nationen, auf die Seite von China, Russland und Iran?
- Unterstützt oder bekämpft das Land die Sicherheitsbemühungen der USA auf verschiedenen Schauplätzen?
- Beherbergt das Land Feinde der Vereinigten Staaten, z. B. Terroristen oder Cyberkriminelle?
- Stellen sich die Führer der Nation auf dem internationalen Parkett gegen die Vereinigten Staaten?
Wer sich gut verhält – Bessent nannte im Oktober als unverdächtiges Beispiel Australien –, darf sich zur grünen Zone zählen und wird vergleichsweise geringe Zollschranken für den Zugang zum US-Markt zu überwinden haben. Wer sich schlecht verhält, kann in die gelbe oder die rote Zone abrutschen – und mit entsprechend prohibitiven Zöllen belegt werden.
Das Zuckerbrot, das die USA den wohlgesinnten Staaten in Aussicht stellen, ist der Zugang zum Sicherheitsschirm, zum Dollar sowie zum riesigen amerikanischen Markt. Die Peitsche ist die Perspektive, diesen privilegierten Zugang zu verlieren.
Doch das ist nur der erste Teil des Plans.
Der zweite Teil betrifft die Frage, wie dieses «Burden Sharing» geschehen und der amerikanische Steuerzahler entlastet werden soll. Miran zeichnet zwei notwendige Schritte auf: Erstens müssen andere Staaten Hand dazu bieten, ihre eigenen Währungen in einer konzertierten Aktion gegenüber dem Dollar aufzuwerten. In Anlehnung an das Plaza-Abkommen von 1985 sprechen sowohl Miran als auch Bessent von der Notwendigkeit eines «Mar-a-Lago»-Abkommens.
Gleichzeitig, und das ist der wichtigste Teil, müssen sich alle Länder, die vom sicherheitspolitischen Schutzschirm der USA profitieren, an der Finanzierung des amerikanischen Staatshaushalts beteiligen. Dies soll nicht über normale Staatsanleihen geschehen, sondern in den Worten Mirans über Century Bonds oder in den Worten Bessents über War Bonds: Amerikanische Staatsanleihen mit 100 Jahren oder ewiger Laufzeit und null Prozent Verzinsung.
Diese Anleihen wären nicht handelbar, aber die US-Notenbank würde – dies wiederum als Zuckerbrot für den Zugang zum Dollar – dem betreffenden Staat eine Swap-Linie zur Verfügung stellen, über die jederzeit Dollar-Liquidität gegen die Sicherheit der Century Bonds bezogen werden kann.
Länder, die sich unter den Schutzschirm der USA begeben möchten, müssten sich also – selbstverständlich abgesehen von adäquaten Investitionen in die eigene Rüstung – den amerikanischen Steuerzahlern einen Teil der Last abnehmen, indem sie Century Bonds ohne Verzinsung kaufen, bzw. indem sie ihre bestehenden Bestände an verzinsten Staatsanleihen gegen nicht verzinste Century Bonds eintauschen. Damit verringert sich die Zinslast der USA, und die langfristigen Renditen von Treasuries würden sinken.
Von Japan über Südkorea, Taiwan, Singapur, den Nato-Ländern, Saudi-Arabien bis hin zur Schweiz könnten sich schon bald diverse Staaten explizit oder implizit mit dieser Forderung konfrontiert werden.
Auch hier gilt: Wer nicht spurt, bekommt es mit Zolldrohungen und dem Verlust des Zugangs zum Schutzschirm der USA, zum Dollar und zum US-Markt zu tun.
«Wir werden in den nächsten Jahren eine weltwirtschaftliche Neuordnung sehen – so etwas wie ein neues Bretton Woods oder, wenn man so will, so etwas wie der Vertrag von Versailles. Die Chancen stehen gut, dass wir in den nächsten vier Jahren einen solchen Wandel durchmachen müssen, und ich würde gerne daran teilhaben», soll Scott Bessent, damals noch Hedge-Fund-Manager, im Juni 2024 gesagt haben.
Klingt verrückt? Mitnichten. Es entspricht dem Denken, das ein damals aufstrebender New Yorker Immobilienspekulant namens Donald Trump vor fast vierzig Jahren zum Ausdruck brachte, als er am 2. September 1987 für fast 100’000 $ eine ganzseitige Anzeige in der «New York Times» kaufte und sich darin über die Dummheit der Politiker Amerikas erzürnte, weil sie die Sicherheit anderer Staaten wie Japan oder Saudi-Arabien gewährleisten und gleichzeitig von diesen Trittbrettfahrern ausgenommen würden.
Heute ist Trump der 47. Präsident der USA, und er hat das Mandat, die Mittel und die Personen in seinem Kabinett, um den Plan voranzutreiben.