Das Bundesamt für Justiz muss abklären, ob ein Abkommen mit der EU auch von der Mehrheit der Kantone angenommen werden muss. Das ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint.
Bis Ende Jahr wollen die Schweiz und die EU ihre Verhandlungen über ihr künftiges Verhältnis abschliessen. Ob es dazu kommt, ist völlig offen – doch in der Schweiz ist bereits ein heftiger Streit ausgebrochen: Genügt für eine Annahme des noch unbekannten Vertragswerkes das Volksmehr, oder muss auch eine Mehrheit der Kantone zustimmen?
1. Was steht in der Bundesverfassung?
• In zwei Fällen muss ein Staatsvertrag dem obligatorischen Referendum (und damit auch dem Ständemehr) unterstellt werden: wenn es um den Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft oder zu einer Organisation der kollektiven Sicherheit geht. Um eine supranationale Gemeinschaft handelt es sich beispielsweise bei der EU, weil dieser bei einem Beitritt ein Teil der staatlichen Souveränität übertragen würde. Die Nato dagegen ist eine Organisation der kollektiven Sicherheit. Die Mehrheit der Staatsrechtler ist der Ansicht, dass ein Vertrag mit der EU nicht unter diese beiden Kategorien fällt.
• Mehrfach wurde darüber diskutiert, ob dieser Katalog in der Bundesverfassung (BV) erweitert werden muss. Die Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk)» verlangte beispielsweise, dass sämtliche Staatsverträge in wichtigen Bereichen von Volk und Ständen genehmigt werden müssten. Sie wurde 2012 von einer Mehrheit der Stimmenden und von allen Kantonen verworfen. Vor drei Jahren scheiterte auch eine Vorlage des Bundesrates, die gestützt war auf einen Vorstoss von FDP-Ständerat Andrea Caroni. Er schlug vor, völkerrechtliche Verträge mit verfassungsrechtlichem Charakter dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Doch der Nationalrat lehnte dies 2021 ab.
2. Gilt nur das, was in der Verfassung steht?
• Es gibt bis anhin drei Fälle, bei denen völkerrechtliche Verträge dem obligatorischen Referendum unterstellt wurden, obwohl dies die Bundesverfassung nicht vorsah: beim Beitritt der Schweiz zum Völkerbund (1920), bei den Freihandelsabkommen mit der EWG (1972) sowie beim EWR-Beitritt (1992). In allen drei Fällen wurden die Verträge wegen deren Bedeutung dem Ständemehr unterstellt, obwohl es rechtlich nicht notwendig gewesen wäre. Man spricht dabei von einem ausserordentlichen oder ungeschriebenen obligatorischen Referendum. Auch von einem Staatsvertragsreferendum sui generis ist die Rede.
• Umstritten ist allerdings, welche Bedeutung dieses Referendum sui generis hat – und ob es dafür heute noch eine Grundlage gibt. So schrieben die Staatsrechtler René Rhinow und Georg Müller unlängst in der NZZ, die Ablehnung der Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk» sowie des Vorschlages von Caroni sprächen dagegen. Ähnlich sieht es der frühere Zürcher Staatsrechtsprofessor Walter Haller. Staatsvertragsreferenden ausserhalb der Verfassung seien nach diesen beiden Entscheiden ausgeschlossen. Giovanni Biaggini brachte in seinem Kommentar zur BV schon vor einigen Jahren zum Ausdruck, dass er das Referendum sui generis für problematisch hält.
Doch es gibt Staatsrechtler, die dies deutlich anders sehen. Andreas Glaser sagte in der NZZ, angesichts der Präzedenzfälle beim EWR und beim Freihandelsabkommen müsse die Bundesversammlung den Vertrag mit der EU dem obligatorischen Referendum unterstellen. Dies, weil das Abkommen stark in die verfassungsrechtliche Ordnung eingreife. Und Lorenz Langer argumentiert, bei der Revision der Bundesverfassung von 1999 sei klar festgehalten worden, das obligatorische Staatsvertragsreferendum sui generis stünde auch in Zukunft offen. Es habe als ungeschriebenes Verfassungsrecht gewohnheitsrechtlichen Charakter.
3. Wäre der EU-Vertrag überhaupt ein Fall für ein ausserordentliches Ständemehr?
• Es ist nirgends festgeschrieben, welches die Anwendungskriterien sind. Viele wichtige Staatsverträge wurden nicht einmal dem fakultativen Referendum unterstellt, beispielsweise jene über den Beitritt zur Efta oder zum Europarat. Auch bei den Bilateralen I wurde darauf verzichtet. In seiner Botschaft zum Vorschlag von Caroni schrieb der Bundesrat, die Bilateralen II erfüllten die Anwendungskriterien für ein ungeschriebenes obligatorisches Referendum nicht. Für die Freiburger Europarechtlerin Astrid Epiney hat das geplante Abkommen mit der EU nicht den gleichen Stellenwert wie ein EWR-Beitritt. Der Zürcher Staatsrechtler Andreas Kley schliesst das Ständemehr beim EU-Abkommen nicht kategorisch aus, doch er sieht dafür in den zwei Präjudizien (EWG und EWR) keine tragfähigen Rechtsgrundlagen.
• Für Glaser sind es allerdings just diese beiden Beispiele, die die Bundesversammlung beinahe dazu verpflichten, das Abkommen dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Sonst würde diese «einen Bruch gegenüber der bisherigen, mehrfach bestätigten Praxis» vollziehen. Das ergebe sich nicht zuletzt aus der Tragweite des Abkommens, das eine dynamische Rechtsübernahme der bisherigen und künftigen bilateralen Verträge vorsehe.
4. Und wer entscheidet?
• Zunächst entscheidet der Bundesrat, doch dann kommt die Vorlage ins Parlament. Es stellt sich die Frage, ob die Räte frei entscheiden können, ob sie das Abkommen dem ungeschriebenen obligatorischen Referendum unterstellen wollen. Rhinow, Müller und Haller sehen wenig Spielraum: Die Bundesversammlung sei dazu «sicher nicht verpflichtet, nach unserer Ansicht aber auch nicht berechtigt». Biaggini sieht «gute Gründe dafür, das obligatorische Referendum nicht dem Gutdünken der Bundesversammlung anheimzustellen». Und Epiney meint, endgültig lasse sich dies erst entscheiden, wenn der Vertragstext vorliege.
• Glaser und Langer sehen es anders: Das Parlament müsse das Abkommen dem obligatorischen Referendum unterstellen, da es qualitativ an den EWR-Beitritt heranreiche. Alles andere sei ein Bruch mit der bisherigen Praxis. Allerdings: Niemand könne das Parlament daran hindern, so zu entscheiden, wie es dies für richtig halte, betont Glaser. Tatsächlich ist keine weitere Instanz vorgesehen. Allen juristischen Erwägungen zum Trotz dürften am Ende politische und taktische Überlegungen den Ausschlag geben.