Elfriede Jelineks Stück «Burgtheater» spiesst die NS-Verstrickungen von Österreichs berühmtester Schauspielerfamilie auf. Milo Rau zeigt es im Rahmen der Wiener Festwochen jetzt erstmals am Ort des Geschehens.
Draussen an der Fassade des Wiener Burgtheaters weht die schwarze Fahne. Sie zeigt den Tod von Elisabeth Orth an, der Doyenne des Hauses, die am Samstag im 90. Lebensjahr gestorben ist. Drinnen auf der Bühne aber sieht man sie noch einmal an diesem Abend: als kleines Mädchen, als Tochter des Ehepaars Paula Wessely und Attila Hörbiger, wie sie akrobatische Kapriolen macht und von all den politischen und gesellschaftlichen Verwicklungen ihrer berühmten Familie noch nichts weiss. Ein grotesker und rührender Zufall – möglich macht dies ein Stück, das satte vierzig Jahre nach seiner Entstehung erstmals in Österreich aufgeführt wird: Elfriede Jelineks «Burgtheater» ist dort angekommen, wo es spielt und hingehört – im Burgtheater.
Orth, die sich namentlich bewusst von ihrer Sippe abgegrenzt hat, hatte zu Lebzeiten darauf gehofft, der Text werde zu einer «klärenden Diskussion» führen, «die dem momentanen Zustand dieses Landes gut anstünde». Sie, die im Burgtheater jahrzehntelang alle grossen Frauenrollen spielte, wird nun nicht mehr erleben, ob das Spiel um Nazi-Verstrickungen, blanke Hitler-Bewunderung und perfide Reinwaschung der Vergangenheit in unserer Zeit einen Widerhall findet. Orth war höchst skeptisch – und auch Milo Rau zeigt in seiner Inszenierung im Rahmen der Wiener Festwochen, dass sich in Österreich mitnichten etwas zum Guten gewendet hat. Sein Appell «Nie wieder!» verhallt wie eine Floskel im Tagesgeschehen, das von gleichbleibendem Antisemitismus und dem Aufkommen rechter Politiker in Österreich bestimmt wird.
Im Vertuschungswahn
Jelinek hatte «Burgtheater» nach der Uraufführung in Bonn 1985 für Österreich quasi vom Markt genommen. Sie war da erwartungsgemäss als Nestbeschmutzerin geschmäht worden, weil sie es gewagt hatte, an Nationalheiligtümern so zu kratzen, dass sie ineinanderstürzten: an der Institution Burgtheater und an den Ikonen des Hauses, den Hörbigers, die Götter waren in Österreich, auch während des «Dritten Reichs». Paula Wessely liess sich für Propaganda einspannen, Attila spielte ungerührt weiter, Paul machte auf lustig und versteckte sich in scheinbar harmlosen Wien-Schrullen. Nach dem Krieg waren auf einmal alle nicht etwa weg vom Fenster ob ihrer Verstrickungen, sondern wieder voll da.
In Jelineks Stück wird genau das thematisiert: das Mitläufertum, das Anbiedern der Künstler, die es dann sogar wagten, nach dem Faschismus ein bisschen Widerstand für sich zu reklamieren. Österreich verzieh und hing an ihren Burgtheater-Lippen, über die die klare deutsche Sprache kam, als wäre nichts gewesen. Jelinek macht ihnen schon da einen Strich durch die falsche Rechnung: Sie lässt sie in einem Kunstdialekt sprechen, den kaum jemand versteht. Es ist eine Art Geheimsprache, die auch abgrenzt gegenüber dem Plebs. Ausserdem kann man in Gesprächen über die Vergangenheit so viel besser die Schuld verstecken und vielleicht auch die Skrupel, sofern sie überhaupt vorhanden waren. Denn die Distanzierung vom Ruhm während der Hitlerei wirkte bei den Hörbigers stets halbherzig, angedichtet, erkauft.
«Burgtheater» ist ein wuchtiges Stück Sprache, noch keine Textfläche wie später bei Jelinek. Es gibt Dialoge und feste Figuren im Haushalt Hörbiger. Milo Rau hat sich von Anton Lukas eine Drehbühne mit sechs unterschiedlichen, detailverliebt ausgestatteten Räumen schaffen lassen. Hier, in der Garderobe oder dem Wohnzimmer, in der Ahnengalerie des Hauses oder im Beisl, kämpft die Familie mit Gesinnung und Reputation.
Hier brabbelt und schwadroniert sie, verfällt in Selbstmitleid und in Rollen, die auf einmal tatsächlich die blanke Wahrheit heraufbeschwören. Figuren aus klassischen Stücken werden zu realen Opfern, geschlachtet, gedemütigt, weil sie Juden sind. Rau hat sich aus dem grossen Text nur ein paar Szenen herausgepickt (im Vorfeld gab es eine Ur-Lesung des vollständigen Stückes), und die zeigen die Wut der Autorin auf diesen ganzen Vertuschungswahn.
Überschreibung der eigenen Geschichte
Birgit Minichmayr, Caroline Peters und Mavie Hörbiger (neben Elisabeth Orth die andere aus dem Clan, die sich stets gegen die Geschichtsklitterung ihrer Familie gestellt hat) verkörpern Paula, Attila und Paul. Sie karikieren sie mit Verve und böser Lust als gefährliche Witzfiguren, die nur an Ruf und Ehre hängen. Manchmal brechen sie aus, immer dann, wenn Milo Rau mit seiner Sicht auf das alte Stück dazukommt. Minichmayr hält einen grausam-zynischen Monolog aus dem Nazi-Film «Heimkehr», in dem die Wessely ohne Not mitwirkte, und Mavie Hörbiger verzweifelt bei der Dekonstruktion klassischen Grillparzer-Erbes.
Derweil spielt der israelische Schauspieler Itay Tiran wie ein dem Ende geweihter Supermann mit Judenstern den drangsalierten Burgtheater-Zwerg. Der Alpenkönig, der es eigentlich gut meint mit der verkorksten und verirrten Familie, wird unterm Esstisch in Splatter-Manier zerstückelt.
Es gibt kaum Einsehen in dieser geisterhaften Sippe, weshalb Milo Rau die Geschichte weiterspinnt in unsere Zeit. Zwei Podcaster, die vielleicht das Wort outrieren nicht kennen, geschweige denn schreiben können, schwirren flippig durch die verstaubten Räume und haben sich in den Kopf gesetzt, «den verstaubten österreichischen Theaterbetrieb zu dekonstruieren und zu dekolonialisieren». Da beissen sie freilich im Burgtheater auf Granit. Überall treffen sie auf alte Mimen, die mit der Überschreibung ihrer eigenen alten Geschichte beschäftigt sind, Erinnerungen und Taten aussortieren, den Rechtfertigungstext besser draufhaben als einen Absatz Shakespeare.
«Burgtheater» mag heute nicht mehr die Schlagkraft haben wie vor vierzig Jahren, als auch noch die Waldheim-Affäre das Land verunsicherte. Zum Skandal taugt es sicherlich auch nicht mehr; vergleichbar etwa mit Thomas Bernhards Stück «Heldenplatz», das hier am Haus auch keine Empörung, nurmehr Jubel auslöst. Aber Rau hat eine kurzweilige Revue der Unzulänglichkeiten geschaffen, mit einem hervorragenden Ensemble; keine knallige Provokation, vielmehr ein Stück über eine Wirklichkeit, wie sie sich niemand gewünscht hat. Deshalb kommt auch dieses «Nie wieder!» so plakativ rüber – und ist doch ernst und ehrlich gemeint.
Nach dem Jubel am Ende dann die Stille: eine Minute schweigendes Gedenken an Elisabeth Orth, deren Porträt gross über der Bühne hängt. Für sie war das Verdrängen von Schuld eine Todsünde. Eines ihrer Georg-Kreisler-Programme hiess «Wie war das nur? Ich weiss nicht mehr». Für das Burgtheater und ihre alten und neuen Kollegen hat Orth solche Ausflüchte nicht zugelassen.