In der digitalen Gesellschaft muss alles in Echtzeit geschehen. Das verändert das subjektive Zeitgefühl. Aber auch die Zeitwahrnehmung der Menschen.
Das Attentat auf Donald Trump, der Einsturz der Carolabrücke in Dresden, der fliegende Olympiasurfer – das sind Bilder von Ereignissen, die das vergangene Jahr geprägt haben. Sie sind für ikonisch erklärt worden, sind aber schon jetzt in tieferen Bewusstseinsschichten vergraben und im kollektiven Gedächtnis fast in Vergessenheit geraten.
Als lägen die Ereignisse Jahrzehnte zurück, als wären die Bilder einem wütenden Bildersturm zum Opfer gefallen. Als die Aufnahmen der Feuersbrünste aus Kalifornien über die Bildschirme flackerten, hatte man das Gefühl eines Déjà-vu, als wäre es ein Katastrophenfilm, der immer wieder aufs Neue abgespielt wird.
Wiederholt sich die Geschichte? Leben wir in einer Simulation? Es wirkt irreal, doch Bilder werden immer rasch abgelöst von den nächsten Aufregerthemen, die das Vergangene überdecken. Eine Insta-Story verschwindet nach 24 Stunden, der Facebook-Post, den man heute absetzt, ist morgen Schnee von gestern. Die Ereignis- und Bilderflut wäscht die jüngere Vergangenheit aus.
Die Aufnahmen der Terroranschläge vom 11. September 2001 sind den Menschen, die diese Ereignisse als Zeitgenossen bewusst miterlebt haben, präsenter als die Terroranschläge von Paris 2015. Obwohl sie länger zurückliegen und es damals weniger Bilder gab, die sich gegenseitig die Schau stahlen. Oder gerade deshalb?
Vier Milliarden Sender
Social Media waren noch nicht erfunden, das Internet war kaum mehr als ein aufgemotzter Videotext, und bis man eine Bilddatei über das 56k-Modem verschickte, dauerte es gefühlt eine Ewigkeit. Und heute? Wird das Internet mit Fotografien geschwemmt. Jeden Tag werden über drei Milliarden davon in sozialen Netzwerken geteilt. Durch das Display des Smartphones schaut man auf die Welt wie der Zugpassagier aus dem Fenster: Alles rauscht vorbei.
Gewiss, das Gefühl der Informationsflut ist kein modernes Phänomen. Schon Seneca stöhnte im 1. Jahrhundert n. Chr.: «Die Menge der Bücher zerstreut.» Doch das Internet und allen voran die sozialen Netzwerke haben zu einer in der Mediengeschichte beispiellosen Verdichtung von Ereignisströmen geführt.
Vor allem, weil es nicht nur Milliarden Empfänger gibt, sondern auch Milliarden Sender, die rund um die Uhr Informationen vermitteln. Ständig passiert etwas, dauernd hat man das Gefühl, etwas zu verpassen. Nichts geht mehr zu Ende, alles ist im Fluss. Während man ein Reel, ein Instagram-Video, schaut, werden zigtausend neue Storys veröffentlicht.
Daraus resultiert eine «soziale Beschleunigung» (Hartmut Rosa), die wir zu bewältigen suchen, indem wir noch schneller im Hamsterrad rennen. Kurz noch ein Status-Update und eine Whatsapp-Nachricht abschicken, bevor man den Verspätungsalarm der Bahn checkt, um den Anschlusszug zu erwischen. Livestream, Live-Ticker, Live-Tracking – das Leben in der Echtzeitgesellschaft gleicht einer permanenten Sendungsverfolgung.
Was gefilmt wird, ist schon vorbei
Dass alles in «real time» geschieht, verändert nicht nur unser subjektives Zeitgefühl, sondern auch die Zeitstruktur der digitalen Gesellschaft. Sie verliert den Bezug zur Gegenwart. Die Menschen, die mit der Handykamera Fussballspiele oder Konzerte mitfilmen und Stars nur durch das Display ihrer Smartphones sehen, verbringen das Leben in permanenter Rückschau. Den Moment des Erlebnisses verbringen sie mit dessen Dokumentation.
Die Alten, die den Jungen vorwerfen, sie lebten nur im Hier und Jetzt, müsste ob dieses auf die Vergangenheit fokussierten Archivierungsfurors ihre Kritik überdenken. Denn das, was die Handykamera einfängt, hat ja schon stattgefunden. Die Gegenwart ist schon zum Zeitpunkt des Geschehens das Gewesene, uninteressant Gewordene.
Gleichzeitig führt dieser retrospektive Blick auf die Gegenwart auch zu Unschärfen in der jüngeren Vergangenheit. Sie verschwimmt im Weitwinkelobjektiv der digitalen Abbildungstechnik und wird zunehmend referenzlos. Wohl kaum jemand schaut sich Tausende Ferienfotos auf dem Handy an. Die Daten diffundieren irgendwo in der Cloud und überlagern die Erinnerungen.
Die digitale Gesellschaft ist einerseits unheimlich geschichtsvergessen. Das Internet, das nichts vergisst, hat erstaunlich viel über seine eigene Geschichte vergessen: Die erste Website, die der Internetpionier Tim Berners-Lee online stellte, ist verschollen. Die Plattform Myspace, eines der ersten sozialen Netzwerke, hat bei einer Servermigration alle Musikdateien von vor 2015 verloren. Und auch sonst sind viele Seiten aus den Anfängen des Internets verschwunden.
Andererseits ist die digitale Moderne seltsam nostalgisch und romantisierend: Das iPhone erstellt liebevolle Fotorückblicke, die von KI mit rührseliger Musik unterlegt werden. Facebook erinnert an die Ferien vor zehn Jahren, die man fast schon vergessen hat. Und Tech-Unternehmen lassen verstorbene Stars wie James Dean oder Amy Winehouse als Hologramme und Stimmklon wiederauferstehen. Die Vergangenheit wälzt sich auch in die Gegenwart hinein – und ist immer präsent.
Wie in einer Druckkammer
KI-Systeme, die aus historischen Daten lernen, reproduzieren und perpetuieren Muster und damit auch Fehler der Vergangenheit – und führen dazu, dass man ständig im Gestern weiterlebt. Wenn man mittwochs ins Fitnessstudio geht, suggeriert einem der Algorithmus, dass man das auch in Zukunft will. Die Zukunft wird so zu einer seriellen Abfolge tradierter Handlungspraktiken, zum Wiederholungsprogramm der Vergangenheit.
Eingeklemmt zwischen einer Vergangenheit, die noch nicht vergangen ist, und einer Zukunft, die grösstenteils schon vorausberechnet ist, zieht sich die Gegenwart im Phasenübergang zwischen dem Immer-noch und dem Noch-nicht zusehends zusammen. Der Philosoph Hermann Lübbe hat dafür den Begriff der «Gegenwartsschrumpfung» geprägt.
Die Vergangenheit rücke der Gegenwart immer näher: «Und analog rückt die Zukunft der Gegenwart immer näher, die nach dem Muster der Gegenwart nicht mehr beurteilt werden kann». «Damit», so Lübbe, «nehmen zugleich die Zeiträume ab, die uns für die individuelle und institutionelle Verarbeitung des zivilisatorischen Wandels zur Verfügung stehen.»
Unter diesen Bedingungen agiert das datengetriebene politische System wie in einer Druckkammer. Die Politik, die auf Knopfdruck liefern soll, muss ihre Verpflichtungen (Klima, Rente, Schulden) immer weiter aufschieben. Die ideologischen Grabenkämpfe, die in Europa und den USA toben, lassen sich auch als Zeitlichkeitskonflikte verstehen: auf der einen Seite ein Futurismus à la Musk (Marsbesiedlung), auf der anderen ein pseudofortschrittliches Zurück-zur-Natur.
Zwischen Vergangenheitsverklärung und einem Fortschrittsoptimismus, der die Zukunft zum besseren Modell erklärt, steht der Homo digitalis nie wirklich in der Gegenwart – auch, weil er ständig von digitalen Endgeräten abgelenkt ist. Vielleicht sieht man die Welt klarer, wenn man das Smartphone beiseitelegt. Der Aufenthalt in der Gegenwart würde dadurch sicher verlängert.