Die Aktienkursentwicklung von Europas grösstem Energietechnikkonzern lässt staunen. Fundamental zu erklären ist sie nicht. Während CEO Christian Bruch seinen Vertrag verlängert, könnte Aufsichtsratschef Joe Kaeser 2025 aufhören.
Liebe Leserin, lieber Leser,
Wer in diesen Wochen den Aktienkurs von Siemens Energy verfolgt, kann sich fast täglich die Augen reiben (und das geht selbst Leuten beim Unternehmen so). Die Papiere von Europas grösstem Energietechnikanbieter scheinen kein Halten mehr zu kennen.
Am heutigen Donnerstagmorgen markierten sie mit 34.29 € den höchsten Wert, seit Siemens Energys Ende September 2020 an die Börse kam. Dies dürfte Vorstandschef Christian Bruch auch als persönlichen Applaus der Börse werten. Am Vorabend hatte der Aufsichtsrat ihm einen zweiten Vorstandsvertrag bis 2030 gewährt.
Seit Anfang Jahr resultiert ein Plus von über 180%, die bei weitem beste Performance aller vierzig Aktien im Dax. Dass der Kurs im November 2023 auf 6.40 € abstürzte, da Siemens Energy wegen der dünnen Kapitaldecke um milliardenschwere Staatsgarantien bitten musste (sonst hätte man die für neue Aufträge nötigen Avale bei Banken nicht mehr bekommen), ist für die Börse Schnee von gestern.
Vor zehn Monaten war Siemens Energy an der Börse nur noch fünf Mrd. € wert, jetzt sind es 27 Mrd. €. Das zeigt, wie irrational, ja irreal es an den Aktienmärkten bisweilen zugeht. So übertrieben der Absturz war, so irre ist der jetzige Höhenflug.
The Market hat im Juni in einer Analyse vielfältige Risiken, vor allem im Windgeschäft, hervorgehoben; diese existieren unverändert.
Darauf weist interessanterweise auch Aufsichtsratschef Joe Kaeser anlässlich Bruchs Vertragsverlängerung ungewöhnlich offensiv hin: Siemens Energys Abspaltung vom einstigen Mutterkonzern Siemens habe «unter schwierigen Bedingungen» begonnen. Die Herausforderungen hätten sich 2022/23 mit der Komplettübernahme des Windgeschäfts kulminiert, die «fundamentale Abgründe öffnete».
Die deutsch-spanische Windtochter Siemens Gamesa hat Siemens Energy in den vergangenen Jahren immer wieder Milliardenverluste und eine Gewinnwarnung nach der anderen eingebrockt. Kaeser lässt in der Mitteilung keinen Zweifel daran, dass dieses «Problem» noch nicht gelöst ist. «Die geplante Rückkehr des Windgeschäfts in die Gewinnzone ab 2026 wird eines der grössten Sanierungsprojekte in der Siemens-Geschichte abschliessen.»
In der Siemens-Geschichte, also in den vergangenen 177 Jahren. Und ab 2026, nicht etwa 2024.
Im laufenden Geschäftsjahr, das Ende September ausläuft, erwartet der Vorstand für die Windsparte bis zu 2 Mrd. € Verlust. Konzernweit soll der Umsatz gegenüber den 31,1 Mrd. € des Vorjahres um 10 bis 12% wachsen. Nur dank Beteiligungsverkäufen wird bis zu 1 Mrd. € Gewinn nach Steuern in Aussicht gestellt.
Gründe für den Kursaufschwung
Aktienmarktveteranen wenden an dieser Stelle gerne ein, der Markt habe immer recht. Und natürlich gibt es für den jetzigen Kursaufschwung jede Menge Gründe.
Siemens Energys Kursmärchen begann im Frühjahr, als der US-Rivale GE Vernova als Spin-off von General Electric in New York an die Börse ging. Der weltgrösste Hersteller von Gasturbinen vermarktete sich bei den Anlegern erfolgreich als Ausrüster für die infolge künstlicher Intelligenz (KI) bevorstehende Elektrifizierungswelle und wurde an Wallstreet sofort zum Star: Seit GE Vernova am 27. März mit 115 $ in den Handel startete, hat sich der Kurs mehr als verdoppelt.
In den vergangenen Wochen haben KI-Aktien an Schwung verloren, stattdessen erhöhten sich die Wetteinsätze auf einen bevorstehenden «Elektrifizierungs-Superzyklus». Dies hat zuletzt den Kursanstieg bei GE Vernova und – im Gefolge – Siemens Energy beschleunigt.
Der US-Hersteller von Gas-, Dampf- und Windturbinen sowie Stromnetzen wird jetzt mit 70 Mrd. $ bewertet, was extrem sportlich ist. Die Marktkapitalisierung entspricht gut dem Doppelten des für dieses Jahr prognostizierten Umsatzes. Den Gewinn von GE Vernova schätzen Analysten für 2024 auf gerade einmal 1,7 Mrd. $. Wie Siemens Energy hat GE Vernova in den vergangenen drei Jahren nur Verluste gemacht, wenn auch etwas weniger hohe.
Damit misst die Börse GE Vernova einen Unternehmenswert (Enterprise Value) in Höhe des 30-Fachen des für die nächsten zwölf Monate geschätzten Ebitda zu. Relativ dazu sieht Siemens Energy mit dem 11-Fachen noch günstig aus.
Da GE Vernovas Bewertung schon so weit vorausgeeilt sei, würden US-Fonds derzeit wie wild Siemens-Energy-Aktien kaufen, heisst es bei einer US-Investmentbank. So habe sogar der Siemens-Pensionsfonds seine Pakete in den vergangenen Monaten komplett verkauft, ohne den Kurs zu belasten. Im Mai hielt der Pensionsfonds noch 7,7% der Aktien.
Bei zwei Sparten beschleunigt sich der Boom
Dazu passt, dass Bruch und Finanzvorständin Maria Ferraro zuletzt in Roadshows die Aussichten für die Sparten Gasturbinen und Stromnetze noch rosiger malten. Bei der Hereinnahme neuer Netzaufträge erhalte Siemens Energy inzwischen Reservierungsgebühren, zitierten kürzlich die Analysten von Berenberg die Finanzvorständin. Die Lieferzeit für Netze betrage 72 Monate.
Die Nachfrage nach Gas- und Dampfkraftwerken steige vor allem in den USA rasant. Damit habe sich auch die Profitabilität des Auftragsbuchs insgesamt deutlich verbessert: Auf dem gesamten Volumen von 120 Mrd. € sieht Siemens Energy 200 Basispunkte mehr Bruttomarge als bisher.
Die Chancen stehen also gut, dass Siemens Energy bei der Bilanzvorlage im November für beide Sparten die Ziele für das Wachstum und die Margen leicht erhöht.
Das Windgeschäft bleibt schwierig
Doch letztlich hängt alles am Windgeschäft. Von dem aber kommen kaum positive Signale. Das hoch defizitäre Geschäft mit Turbinen an Land (Onshore-Geschäft) läuft nach einem Jahr Verkaufsstopp nur sehr langsam wieder an. Vor Investoren sagte Bruch kürzlich, der Weg zur Gewinnschwelle bis 2026 werde «nicht linear» verlaufen. Dies interpretierten einige, dass der CEO die Erwartungen für 2025 dämpfen wollte.
Besonders problematisch ist auch: Nach dem Onshore-Geschäft treten chinesische Wettbewerber nun auch im Offshore-Geschäft immer stärker auf, in dem sich Siemens Gamesa als Weltmarktführer sah und jahrelang gut verdient hat. Kürzlich gewann Chinas Branchenprimus Mingyang erstmals ein grosses Offshore-Projekt in der Nordsee. GE Vernova war erst sehr spät ins Offshore-Geschäft eingestiegen – und scheidet nun Branchenkreisen zufolge schon wieder aus. Vor einer Woche verkündeten die Amerikaner, im Bereich Offshore 900 Stellen abzubauen. Neue Aufträge nehmen sie schon seit Ende 2023 nicht mehr an.
Allzuviel Puffer für potenzielle weitere Dramen im Geschäft mit Windturbinen, die nicht völlig auszuschliessen sind, hat Siemens Energy auch weiterhin nicht. Die Bilanzqualität des Konzerns hat sich gegenüber dem Desaster vom vergangenen November kaum verbessert. Standard & Poor’s benotet Siemens Energy seither unverändert mit BBB-, der schwächsten Note für Anleihen mit Investmentqualität, mit «negativem» Ausblick.
Womöglich lohnt sich ein Blick darauf, wie es an der Aufsichtsratsspitze weitergeht. Noch ist offen, ob Joe Kaeser sich auf dem Aktionärstreffen im Februar 20025 wieder zur Wahl stellt – oder ob Siemens Energy einen neuen Aufsichtsratschef suchen muss. Manche im Konzern wollen wissen, dass Kaeser sein Mandat nicht verlängern will. Der ehemalige Siemens-Chef ist zurzeit viel in den USA; unter anderem berät er den schwer angeschlagenen Chipriesen Intel beim Aufbau der Foundry-Sparte.
Wenn Joe Kaeser bei Siemens Energy aufhört, wird er wahrscheinlich wissen warum.
Freundlich grüsst im Namen von Mrs Market
Angela Maier